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Japans Furcht vor China

Ein Schlauchboot der japanischen Küstenwache. Sie bewacht seit Ausbruch der Krise das Gebiet um die Senkaku-Inseln.
Foto: Al Jazeera English, Quelle: Flickr, Copyrights: Creative Commons BY-SA 2.0

18. Oktober 2012
Siegfried Knittel

Kaum ist die größte Gefahr von den havarierten Reaktoren in Fukushima beseitigt, stürzt das Land in dem Konflikt um die Senkaku-Inseln, die auch von China und Taiwan beansprucht werden in eine außenpolitische Krise. Diese mag zwar in nächsten Monaten abebben, kann sich aber zu einer großen Gefahr für den Frieden und die wirtschaftliche Entwicklung Ostasiens ausweiten. Vom drohenden kalten Krieg sprechen die einen, von der Gefahr gar eines heißen Krieges die anderen (1).

Mit Sicherheit will keine Seite, dass in dem Konflikt geschossen wird und sowohl Japan als auch China haben vorsichtshalber nur Schiffe ihrer Küstenwachen vor Ort. Aber auch diese Schiffe sind bewaffnet und im Falle einer Eskalation haben beide Seiten erklärt, auch ihre Kriegsmarine einzusetzen. Darüber hinaus trainieren beide Länder die militärische Eroberung der Inseln. Die größte Gefahr liegt in einer Kollision zweier sich belauernder Küstenwachtschiffe aufgrund fahrerischen Fehlverhaltens oder der Zusammenstoß zweier Flugzeuge, so wie vor Jahren ein US-Spionageflugzeug und ein chinesischer Kampfjet kollidierten. In der gegenwärtigen aufgeregten Stimmung könnte dies weitreichende Folgen haben.

In China kommt es im November zu einem Führungswechsel. Bis die neue Führung sich etabliert hat, dürfte es zu keiner Kursänderung in der Japanpolitik kommen. In Japan hingegen liegt die oppositionelle LDP in Umfragen klar vorne. Auch der neue LDP Vorsitzende Shinzo Abe, führt der Zeitung Asahi Shimbun zufolge im direkten Vergleich mit Premier Yoshihiko Noda - den er noch dieses Jahr im Amt ablösen möchte - mit 39 zu 34 Prozent (2).

Auch wenn in der japanischen Bevölkerung große Vorbehalte oder gar Ängste gegenüber einem immer mächtigeren China existieren, dürfte der Popularitätsvorsprung Abes weniger mit dessen außenpolitischem Nationalismus zusammenhängen. Die Gründe liegen vielmehr in der Unzufriedenheit der Japaner/innen über die Erhöhung der Mehrwertsteuer durch die Regierung Noda und deren schlechte Informationspolitik nach der Atomkatastrophe von Fukushima. Es gibt zwar starke Vorbehalte gegenüber China in der japanischen Bevölkerung, die fordert, auch in dem Inselkonflikt hart zu bleiben. Aber von einem anti-chinesischen Nationalismus in Japan kann man nicht sprechen.

Abe ist der Rechtsaußen seiner Partei, deren Ober- und Unterhausabgeordnete wesentlich nationaler denken, als die japanische Bevölkerung. Deshalb haben sie ihn in der jetzigen außenpolitischen Situation auch zum Vorsitzenden gewählt. Bei der Parteibasis, die bei der ersten Abstimmung mitstimmen konnte, hat Abe deutlich weniger Sympathien. Dort hat man wohl noch seinen schmählichen Rücktritt vom Amt des Premiers vor 5 Jahren nicht vergessen, als er nach einer verlorenen Oberhauswahl mit Magenproblemen sang- und klanglos in einem Krankenhaus verschwand.

Der Bruch mit dem Status Quo

Abe hat angekündigt, als Premierminister auf den Senkaku-Islands einen Hafen und einen Leuchtturm bauen zu wollen. Für ihn sind die Inseln japanisches Territorium. Eine Haltung, die in dieser deutlichen Form neu ist. Denn bis 2010 hielt sich Japan in dieser Frage zumindst nach außen offen. Seit der Rückgabe Okinawas an Japan im Jahr 1972 verwaltete das Land die Inseln, die von 1895 bis 1945 in japanischem Besitz waren. Damals waren der chinesische Premier Zhou En Lai und sein japanischer Kollege Kakuei Tanaka bei ihrem Treffen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern übereingekommen, die Lösung der Inselfrage späteren Generationen zu überlassen (3). Erst die Ankündigung der Japaner, einen chinesischen Fischtrawlerkapitän vor Gericht zu bringen, der auf japanischem Territorium ein japanisches Küstenwachschiff gerammt hatte, ließ die Frage der territorialen Zugehörigkeit der Inseln zum offenen Konflikt werden. Japan hatte den bisherigen Status quo in der Inselfrage aufgekündigt.

Auch die chinesische Politik hat sich in territorialen Fragen zunehmend verhärtet. Im Streit um die Senkaku-Inseln tritt es zunehmend aggressiver auf, wie es im Streit um die Inseln und Erdgas- und Ölvorkommen in der South China Sea. China sieht Japan als absteigende Macht. Aus Sicht der Chinesen steckt das Land seit 20 Jahren in einer Strukturkrise, in wichtigen industriellen Branchen hat seine Industrie ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren, die Bevölkerung altert und wird schmäler, der Staat ist hochverschuldet. Dazu erwecken häufig wechselnde Regierungen den Eindruck der Handlungsunfähigkeit, weil sich die politischen Gruppierungen immer blockieren.

Dagegen ist China zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht aufgestiegen und hat Japan in der Gesamtleistung seiner Wirtschaft überholt. So glaubt sich das heutige China in der Lage, das Nachbarland in dem Inselkonflikt auch wirtschaftlich unter Druck setzen zu können. In der Krise 2010 wurde der Export seltener Erden gebremst, werden japanische Importe nach China oft nur mit Verzögerungen ins Land gelassen. Der chinesische Japantourismus ist stark zurückgegangen und die Absatzzahlen japanischer Autofirmen in Japan sind im September zwischen 20 und 40 Prozent eingebrochen. Japanischen Firmen, die in China neue Niederlassungen eröffnen wollen, werden Steine in den Weg gelegt. Allerdings: Sollten die Störungen bald vorübergehen, wäre dies tatsächlich nur eine kleine Delle im Japan-China Geschäft. Doch ein langfristiger Rückgang der Wirtschaftsbeziehungen wäre auch für China kostspielig, weil ja ein großer Teil der im Land verkauften japanischen Produkte vor Ort hergestellt wird und die chinesische Industrie auf japanische Vorprodukte angewiesen ist (4).

Das japanische Abweichen von der informellen Zhou-Tanaka Vereinbarung von 1972 resultiert einerseits aus dem Mangel an Politikern mit guten China-Verbindungen im Umfeld der 2009 ins Amt gekommenen DPJ-Regierung. Die tiefere Ursache ist anderreseits aber in der Verunsicherung Japans durch den zunehmend auf allen Gebieten auftrumpfenden Nachbarn zu sehen. Und aus dieser Verunsicherung heraus - so muss man befürchten - ist Japan nicht bereit, das Bestehen des Territorialkonflikts überhaupt offen einzugestehen, obwohl er ein reales Faktum ist. Dabei würde das Eingeständnis nichts an der japanischen Rechtsposition ändern, der zufolge die Inseln seit 1895 japanisches Territorium sind (5).

Japans Atomausstieg und Verteidigungspolitik

Abes Konkurrent um das LDP-Präsidentenamt Shigeru Ishiba hat den Aufbau eines japanischen Marine Corps nach dem Vorbild der USA gefordert. Dies würde in China mit Sicherheit als Provokation aufgefasst. Zudem hatte er schon vor Ausbruch der Senkaku-Krise erklärt, Japan dürfe nicht aus der nuklearen Stromerzeugung aussteigen, weil es an der Option, aus dem bei der Wiederaufbereitung anfallenden Plutonium wenn nötig eine Atombombe zu bauen, festhalten müsse. Der gegenwärtige Verteidigungsminister Satoshi Morimoto hat ähnliches verlauten lassen (6).

Ishiba fordert nicht die Atombombe für Japan. Er will nur, dass die Nachbarländer China und Nordkorea wissen, dass Japan aufgrund seiner technischen Möglichkeiten in der Lage ist, in kurzer Frist zur Atommacht zu werden. Trotzdem bekommt die Frage des Atomausstiegs damit plötzlich auch eine verteidigungspolitische Dimension. Die Regierung Noda hatte ja am 14. September dieses Jahr den Atomausstieg angekündigt. Er soll um 2030 beginnen und bis Ende der 2030er-Jahre beendet sein. Für Kernkraftwerke soll zudem eine Altersgrenze von 40 Jahren gelten, wobei Ausnahmen möglich sind. Zwei im Bau befindliche Kernkraftwerke sollen zudem fertiggestellt werden: das AKW im südwestlichen Präfektur Shimane und das in der nördlichen Präfektur Aomori gelegene Kernkraftwerk. Sie sind zu 95 bzw. 35 Prozent fertiggestellt (7).

Beide Kraftwerke würden, wenn die 40-Jahre-Regelung für sie gilt, bis weit in die 2050er-Jahre Jahre laufen. Zudem hat die Regierung beschlossen, die Wiederaufbereitung der Abfälle weiter fortzuführen, bzw. die Wiederaufbereitungsanlage, die sich ebenfalls in der Präfektur Aomori befindet, fertigzustellen. Dabei ist unklar, wo das wiederaufgearbeitete Material verwendet werden soll, wenn doch die Atomkraft ein Auslaufmodell ist (8). Laut Frank von Hippel, einem amerikanischen Professor für globale Sicherheitsfragen, hat Japan jetzt schon 45 Tonnen Plutonium angehäuft, das allerdings großenteils in England und Frankreich lagert (9).

Der wichtigste Grund für den unklaren Ausstiegsbeschluss und das Festhalten an der Wiederaufbereitung ist das Schielen auf die Wähler/innenstimmen in den strukturschwachen Gebieten, in denen die Anlagen stehen. Die Regierung will es sich vor den anstehenden Unterhauswahlen mit niemandem verderben, auch wenn das AKW Shimane möglicherweise ohnehin keine Betriebserlaubnis bekommen wird, weil es bekanntermaßen auf einer aktiven Erdbebenspalte steht. Darüber hinaus ist die Aufbereitung des atomaren Abfalls viel zu teuer und ein großer Teil des wiederaufbereiteten Materials auch bei einem späten Ausstieg keine Verwendung finden wird.

Der konservative Teil von Japans politischer Klasse wird die Atombombe nicht haben wollen, solange er glaubt, dass das Land sich auf den militärischen Schutz der USA verlassen kann. Sollten die japanischen Konservativen jedoch den Eindruck bekommen, dass die Amerikaner das Land im Ernstfall nicht unterstützen, werden sie auf den Bau der Atombombe drängen. Ein atomares Wettrüsten in Ostasien wäre die Folge, weil Südkorea und Taiwan dann nachziehen werden. Allerdings dürfte der Bau einer japanischen Atombombe innenpolitisch schwer durchzusetzen sein.

Die US, nehmen in der Eigentümerfrage der Senkaku-Inseln eine neutrale Position ein, bejahen aber die administrative Verwaltung der Inseln durch Japan und haben die Inseln zum Bündnisgebiet zugehörig erklärt. Sie müssten einen Weg finden, Japan dazu zu bringen, die Existenz eines Konflikts um die Eigentümerschaft der Inseln anzuerkennen. Wenn Japan die Existenz des Konflikts eingesteht, ist die Chance gegeben, dass China ebenfalls die Eigentumsfrage der Insel wieder für offen erklärt. Es wäre dies die Rückkehr zum Status quo, der auf Vorschlag Zhou En Lais bis 2010 Bestand hatte. Laut einem Artikel in der englischsprachigen Zeitung Japan Times gibt es auch in der japanischen Regierung Überlegungen in dieser Richtung (10). Es dürfte die einzige Möglichkeit sein, den Konflikt zu entschärfen.

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Siegfried Knittel ist Journalist und lebt in Tokio.

Fußnoten:

1)    Michael Auslin: The Asian cold war. In: Foreign Policy v. 4.10.2012 u James R. Holmes: Thinking About the Unthinkable War in the Senkakus. In: The Diplomat v. 7.10.2012

2)    ASAHI POLL 39per prefer Abe as prime minister 34per choose Noda. In: Asahi Shimbun v. 3.10.2012

3)    Zhou En Lai shelved Senkaku issue at 72 talks. In: Japan Times v. 2.10.2012

4)    Toshiya Tsugami: Japan China must find course for mutual economic growth. In: Asahi Shimbun v. 3.10.12

5)    INTERVIEW/ Kazuhiko Togo: Japan should talk on the Senkaku Islands squarely. In: Asahi Shimbun v. 20.8.2012

6)    Japans pro nuclear weapon voices grow louder amid debate. In: Japan today v. 5.8.2012 u Japan defense chief Morimoto sees nuclear plants as deterrent favors 25per option for energy mix. In: Japan Times v. 6.9.2012

7)    Japan Sets Policy to Phase Out Nuclear Power Plants by 2040. In: New York Times v. 14.9.2012

8)    Japan to seek spent fuel reprocessing at Rokkasho. In: Kyodo News v. 13.9.2012

9)    Frank v. Hippel: Reconsidering the Rokkasho Reprocessing Plant. In: Kyodo News v. 13.3.2012

10) Japan may acknowledge Chinas claim to islets to calm tension. In: Japan Times v.10.10.2012