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Protest-Bewegung in Indien: Hungerstreik gegen Korruption

"I am Anna" Unterstützerinnen auf den Ramlila Grounds.
Bild: Axel Harneit-Sievers.

26. August 2011
Axel Harneit-Sievers

Dieser Tage ähneln manche Bilder aus Indien denen vom „arabischen Frühling“: Großdemonstrationen gegen die Regierung in den Straßen der Metropolen, junge Menschen in Nationalfarben und mit Flaggen auf Plätzen von symbolischer nationaler Bedeutung, die Allgegenwart der elektronischen Medien.

Doch in Indien geht es nicht gegen eine autoritäre Regierung. Stattdessen will in der „größten Demokratie der Welt“ eine außerparlamentarische Kampagne das politische Establishment – vor allem die Regierung, aber auch die Opposition – dazu zwingen, eine scharfe Gesetzgebung für eine Antikorruptionsbehörde („Lokpal“) zu verabschieden. Symbol der Bewegung ist der 74-jährige Sozialaktivist Kisan Baburao Hazare, genannt „Anna“. Er befindet sich seit dem 16. August 2011 im Hungerstreik und ist zum Volkshelden geworden. Täglich pilgern begeisterte Menschenmassen zum Ramlila Maidan mitten in Delhi, wo er auf einer Bühne fastet, spricht und von Prominenten besucht wird, begleitet von Gesängen und Aufrufen zur Rettung von „Mutter Indien“. Im Hintergrund verhandeln „Team Anna“ und Parteienvertreter/innen über eine politische Lösung – phasenweise direkt, häufiger aber indirekt über Statements in den Medien. Das Fernsehen berichtet rund um die Uhr. Eine regelrechte „Annamanie“ hat Indien ergriffen.

Anna Hazares Kampagnenmethode ist durchaus umstritten. Während die Einen sie als neue Form demokratischen Protests in bester Tradition Mahatma Gandhis werten, wird sie von Anderen als Angriff auf die Demokratie und ihre Institutionen gesehen.

Korruption – Thema gerade für die neue Mittelschicht

Es geht gegen die Korruption – in Indien ein altes Problem, das in den letzten Jahren jedoch neue Größenordnungen angenommen hat. So sind etwa bei der Vergabe von Mobilfunklizenzen oder im Vorfeld der Commonwealth Games 2010 in Delhi Dollar-Milliardenbeträge verschwunden. Korruption wird öffentlich nicht mehr nur als moralisches Problem und alltägliches Ärgernis wahrgenommen. Es gilt inzwischen auch als Faktor, der das Wirtschaftswachstum und damit den Aufstieg Indiens zur neuen globalen Macht gefährdet.

Wichtigste Trägergruppe des Protests ist daher auch die im Aufschwung der letzten zwei Jahrzehnte entstandene neue Mittelschicht, wobei in Indien bereits ein Familieneinkommen von monatlich einigen hundert Dollar ausreicht um zur Mittelschicht gerechnet zu werden. Die Mittelschicht ist in ihrer wirtschaftlichen Existenz unabhängiger vom indischen Staat als die mit Nahrungsmittel- und anderen Subventionen befriedete ländliche Gesellschaft. Sie zahlt Steuern, die sie nicht von korrupten Beamten zweckentfremdet oder gestohlen sehen will. Die Mittelschicht galt lange als wenig interessiert an Politik und beteiligt sich eher wenig an Wahlen. Die Kampagne Hazares hat diese Politik-Abstinenz vorläufig beendet.

Die Debatte um die Institutionalisierung der Korruptionsbekämpfung auf nationaler Ebene reicht bis Ende der 1960er Jahre zurück. Jahrelange Untätigkeit und schließlich die Vorlage einer schwachen „Lokpal Bill“ ließen weithin den Eindruck entstehen, die Regierung sei nicht ernsthaft an Korruptionsbekämpfung interessiert. Anna Hazare, zuvor vor allem für seine exemplarischen Bemühungen um Dorfentwicklung in Maharashtra bekannt, die ihm 1992 einen nationalen Verdienstorden einbrachten, begann im April 2011 einen ersten Hungerstreik. Er brach ihn nach einigen Tagen wieder ab, nachdem die Regierung eine Überarbeitung des Gesetzentwurfs zugesagt hatte. Tatsächlich hat der jüngst vorgelegte Regierungsentwurf einige wichtige Forderungen von Hazares Gruppe aufgegriffen, insbesondere das Recht der „Lokpal“ zur Durchführung von Korruptionsermittlungen in eigener Regie, unabhängig von der Staatsanwaltschaft oder parlamentarischen Beschlüssen.

Andere Punkte bleiben strittig, insbesondere zum Geltungsbereich des Gesetzes: Soll die Lokpal auch Korruptionsermittlungen gegen den Premierminister (als Regierungschef) oder gegen hohe Richter führen dürfen? Wäre dies für ein „starkes“ Gesetz notwendig? Oder würde es den demokratischen Institutionen Legitimität rauben? Oder gar eine neue, niemandem mehr rechenschaftspflichtige „Superbehörde“ schaffen? Ein weiterer Streitpunkt bleibt die Frage, ob die Lokpal sich allein auf hochrangige Fälle konzentrieren oder aber breit angelegt und auch für Korruptionsfälle auf unteren Verwaltungsebenen zuständig sein sollte. Letzteres wäre populär und könnte eine wertvolle Dienstleistung für „einfache Leute“ darstellen. Doch damt besteht das Risiko, dass die „Lokpal“ in der Masse solcher Fälle zu ersticken und arbeitsunfähig zu werden droht.

Eine Kampagne nach Gandhi-Manier

Bei allen Schwierigkeiten, solche Fragen qualifiziert zu beantworten, liegen „Team Anna“ und Regierung in der Sache gar nicht so weit auseinander. Jedoch geht es inzwischen um weit mehr – nämlich um die der jeweils anderen Seite unterstellten Intentionen sowie Fragen von Prestige und Gesichtswahrung.

Hazare hatte angekündigt, sein Protestfasten nach dem Unabhängigkeitstag am 15. August zu beginnen. Am Morgen des 16. August wurde er vor seinem Haus verhaftet und ins berüchtigte Tahir-Gefängnis gebracht, zusammen mit zahlreichen Unterstützer/innen. Wer genau in der Regierung für diesen groben taktischen Fehler verantwortlich war, ist bis heute ungeklärt. Jedenfalls nutzte Hazare diesen Fehler in bester Gandhi-Manier: Er begann seinen Hungerstreik im Gefängnis, und bei den Verhandlungen der Folgetage über seine Freilassung und eine Genehmigung für einen öffentlichen Hungerstreik trieb er die Regierung geradezu vor sich her. Er weigerte sich, das Gefängnis zu verlassen, bis die Polizei ihm eine Genehmigung zum Protestfasten für 14 Tage erteiylt hatte. Die Machtlosigkeit der Regierung wurde auffallend deutlich.

Mit dieser Aktion ist Hazares Prestige gewaltig gewachsen. Für manche seiner Anhänger/innen scheint er inzwischen einen beinahe messianischen Status zu besitzen. Viele setzen recht unrealistische Erwartungen in seine „Lokpal Bill“. Für sie erscheint das Gesetz als Lösung zahlreicher Alltagsprobleme, soweit sie aus Armut und dem vielfach dysfunktionalen Staatsapparat resultieren. Die Hoffnung auf Verbesserung einer Bandbreite individueller Sorgen treibt Anna Hazares Kampagne an. Und solche Erwartungshaltungen machen eine politische Aushandlung der eigentlichen Sachfragen nicht einfacher.

Skepsis und Gegnerschaft

Anna Hazare und seine Kampagne haben auch Gegner/innen – und diese sind nicht nur in der Regierungskoalition zu finden.

Manch aufmerksame/r Kommentator/in sieht die Art und Weise, wie Hazare das Recht der „Zivilgesellschaft“ für sich in Anspruch nimmt, das indische Parlament zur Verabschiedung eines bestimmten Gesetzes zu zwingen, als Anmaßung. Seine Kampagne sei geeignet, das Funktionieren der demokratischen Institutionen Indiens insgesamt zu untergraben. Andere bezeichnen Hazares Hungerstreik schlicht als „Erpressung“ – wobei es in der Geschichte des unabhängigen Indien zahlreiche Versuche gab, einen Hungerstreik als Mittel der politischen Mobilisierung einzusetzen. Die liberale Öffentlichkeit schwankt in ihrer Bewertung zwischen der Akzeptanz eines machtvollen friedlichen Protests einerseits und der Furcht vor einem Legitimitätsverlust der Demokratie andererseits.

Kritik an Hazares Kampagne kommt auch von den Linken. Manche – nicht nur in der Kongresspartei – sehen Hazare als einen dem Hindu-Nationalismus, der Bharatiya Janata Party (BJP), nahestehenden Politiker. Einige in seiner Kampagne verwendeten Themen und ihre Ikonographie legen einen solchen Zusammenhang tatsächlich nahe. Allerdings wendet sich Hazare wiederholt und ausdrücklich an alle religiösen und sozialen Gruppen in Indien und betont ihre gemeinsamen Interessen bei der Bekämpfung der Korruption.

Radikalere Kritiker/innen bezweifeln die Legitimität von Hazares Kampagne insgesamt. Die Schriftstellerin Arundhati Roy bewertet sie als eine durch private kommerzielle Medien ferngesteuerte, allein an minoritären Mittelschicht-Interessen orientierte Aktion, die nicht an den wirklichen Problemen des Landes, Armut und Gewalt im ländlichen Raum, interessiert sei. Sie entwirft gar das Zukunftsbild einer machtvollen Antikorruptionsbehörde, deren Vertreter die Armen dann zusätzlich bestechen müssen, um zu überleben.

Jenseits solch düsteren und letztlich zynischen Szenarien wenden sich Vertreter von Dalit-(Unberührbaren)-Organisationen und manche Repräsentanten der muslimischen Gemeinschaft gegen Hazares Kampagne, weil sie befürchten, die Mittelschicht könnte Hazares politischen Mittel zum Kampf gegen die in Indien weit verbreitete und verfassungsmäßig abgesicherte Reservierung von Arbeits- und Studienplätzen für Minoritäten und Unterprivilegierte nutzen.

Fazit

Angetrieben durch die weit verbreitete Frustration über das Ausmaß der Korruption in Indien und beflügelt durch einen schwerwiegenden taktischen Fehler der Regierung hat Anna Hazares Hungerstreik-Kampagne für eine starke Antikorruptionsbehörde im August 2011 eine unerwartete politische Dynamik entfaltet. Die gewachsene Mittelschicht Indiens hat ein Thema gefunden, für das es sich scheinbar zu kämpfen lohnt. Die Regierung ist darüber in schwere Bedrängnis geraten, aber auch die Oppositionsparteien scheinen das Thema noch nicht recht in gewohnter Weise für eigenen Zwecke nutzen zu können. Indien stehen weitere Tage der politischen Auseinandersetzung bevor, an deren Ende – hoffentlich – die Verabschiedung eines Gesetzes für eine wirklich starke „Lokpal“ stehen wird.

Axel Harneit-Sievers leitet seit März 2011 das Indien-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Neu-Delhi.

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