
Die NATO hat - ganz im Gegensatz zu der am Ende des Kalten Krieges weit verbreiteten Erwartung, dass die Organisation langsam von der internationalen Bühne verschwinden werde - in den vergangenen zwanzig Jahren an Bedeutung gewonnen. Allerdings hat die NATO ihre Relevanz nur durch eine Neudefinition ihres Auftrags sichern können. Ihre Charta umfasst nun alles von Friedensmissionen über Probleme der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen bis zur Katastrophenhilfe. Darüber hinaus hat sie die Schaffung von Frieden und Stabilität weit über das eigene Gebiet hinaus zum ausgemachten Ziel erklärt. Der gegenwärtig größte NATO-Einsatz allerdings – die Intervention in Afghanistan – zeigt, dass die NATO ihrem Anspruch auf ein erweitertes Engagement noch nicht wirklich gerecht werden kann.
Ein neuer Schauplatz: Die NATO in Asien
Im Oktober 2003, zwei Monate nachdem die NATO die Verantwortung für den Einsatz übernommen hatte, erweiterten die UN das ISAF-Mandat von Kabul auf das gesamte Land. Zu den militärischen Aufgaben der NATO gehört es, die afghanische Regierung bei der Ausdehnung ihrer Autorität auf das Land zu unterstützen, Stabilitäts- und Sicherheitsmaßnahmen in Zusammenarbeit mit den nationalen Sicherheitskräften Afghanistans durchzuführen, die afghanische Armee zu kontrollieren, illegale Gruppen zu entwaffnen und den international abgesegneten Antidrogenkampf zu unterstützen.
Doch wegen der inneren Schwäche der Karzai-Regierung und der komplexen Dynamik des fortdauernden Konflikts haben es die Vereinigten Staaten und die NATO bisher nicht geschafft, gemeinsam mit der afghanischen Regierung konkrete und brauchbare Ergebnisse zu erzielen. Eine kürzlich erschienene Studie des Center for Strategic and International Studies bringt dies Problem folgendermaßen auf den Punkt: „In Afghanistan besteht die weitverbreitete Ansicht, dass korrupte Beamte und hochbezahlte ausländische Funktionsträger dafür verantwortlich sind, dass internationale Hilfsgelder bei der Bevölkerung nicht ankommen.“ Tatsächlich wächst in der afghanischen Öffentlichkeit die Verärgerung über die Rolle der internationalen Gemeinschaft, gleichzeitig nimmt die Sympathie für die Taliban und andere aufständische Gruppen zu.
Dass die NATO das ISAF-Mandat übernommen hat, ließ in Pakistan Bedenken über die Legitimität des „out of area“-Einsatzes der Organisation aufkommen. Es wird argumentiert, dass die Legitimität der NATO auf ihrem Status als gemeinsames Verteidigungsbündnis unter dem Dach der UN-Charta beruhe und die NATO mit ihrer neuen Rolle einer kollektiven Sicherheitsorganisation damit eine Kernfunktion der Vereinten Nationen übernommen habe.
Pakistan steht mit dieser Meinung nicht allein da. Viele asiatische Staaten sind in ähnlicher Weise über die neue Rolle der NATO in der Region irritiert. Während eine Reihe asiatischer Staaten die Funktion der NATO beim Anti-Terror-Kampf und beim Wiederaufbau in Afghanistan billigt, sind sie doch durch den unverhältnismäßig großen Einfluss der Mitgliedsstaaten der NATO beunruhigt, den diese bei Fragen um regionale Probleme und der Entwicklungen der Region haben. Asien ist ein Kontinent voll schwelender und möglicher Konflikte und die NATO ist hier noch kein vertrauter Akteur. Noch ist nicht klar, in wie weit die NATO dazu geneigt ist, in der Verfolgung ihrer eigenen Interessen, in weiteren regionalen Konflikten zu intervenieren. Die Intervention in Afghanistan ist sicher kein leuchtendes Beispiel der Zusammenarbeit: Die NATO hat sich nicht ausreichend mit den Nachbarn Afghanistans abgestimmt, die dort alle legitime und traditionelle Interessen haben.
Eine gescheiterte Strategie: Die NATO in Afghanistan
Es überrascht nicht, dass es der NATO nicht gelungen ist, in sieben Jahren des ausgedehnten Engagements für Stabilität in Afghanistan zu sorgen. Eher hat sie die Lage verschärft und die Destabilisierung hat sich auf die pakistanischen Grenzregionen zu Afghanistan übertragen.
Die NATO-Truppen haben entscheidende Fehler gemacht. Zu den beträchtlichsten gehören die Folgenden: Sie haben die Auswirkungen von zivilen Opfern verkannt, obwohl sie nach eigenen Aussagen die Herzen der Afghanen für sich gewinnen wollten; sie haben den versprochenen wirtschaftlichen Fortschritt nicht gebracht und statt dessen einen sinkenden Lebensstandard verwaltet; sie haben eine Regierung eingesetzt, die die Paschtunen, die größte ethnische Gruppe des Landes, diskriminierte; sie haben zugunsten vorübergehender taktischer Vorteile die Drogenproblematik vernachlässigt; und sie haben versucht, einer traditionell verfassten Gesellschaft westliche demokratische Werte aufzuzwingen.
Das glanz- und glücklose Vorgehen der NATO in Afghanistan und die mangelnde Bereitschaft ihrer Mitglieder, die Truppenkontingente zu erhöhen, hat zur Stärkung des von den Taliban geführten Aufstands geführt. Seit 2007 kam es in Afghanistan zu einem bemerkenswerten Anstieg der Gewalt. Die NATO und die amerikanischen Kommandeure haben diesen Anstieg auf Pakistans Unvermögen zurückgeführt, die Infiltration der Taliban an den Grenzen zu stoppen. Pakistan hat jedoch alles in seiner Macht stehende getan. Davon zeugt der Einsatz von Truppen mit mehr als 100.000 Soldaten an den möglichen Übertrittsstellen, die Einrichtung von 400 Grenzposten und die Einführung biometrischer Identifikation.
Tatsächlich beschuldigt Pakistan die NATO, ihrerseits die andere Grenze unzureichend zu überwachen. Es gibt keine sichtbare Präsenz von Truppen der NATO, der USA oder von Afghanistan, die die Grenzübergänge der Aufständischen kontrollieren würden. Pakistan steht auch den naiven Bemühungen der NATO kritisch gegenüber, den afghanischen Mohnanbau auszurotten. Derzeit belaufen sich die Einkünfte aus dem Drogenanbau und -handel auf fast 3 Milliarden US-Dollar jährlich. Dieser Betrag macht die Hälfte des gegenwärtigen afghanischen Bruttosozialprodukts aus. Die NATO hat nichts getan, um die Verbindung von Drogengeld und afghanischem Terrorismus einzudämmen.
Darüber hinaus leben weiterhin drei Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan. Diese Flüchtlingslager sind für afghanische Taliban sichere Schlupfwinkel und führen zudem in den pakistanischen Grenzregionen durch die Unterstützung ortsansässiger Extremisten zu Instabilität. Solange die Flüchtlinge nicht wieder zu Hause sind, gibt es für das Problem der Grenzübertritte keine wirkliche Lösung. Mit dem Flüchtlingsproblem verbunden ist die Frage des Waffenschmuggels von Afghanistan nach Pakistan – eine weitere Quelle der andauernden Instabilität in den pakistanischen Grenzregionen.
Zusammenarbeit mit Pakistan
Die NATO und Pakistan haben seit Oktober 2005, im Gefolge eines verheerenden Erdbebens ihre Zusammenarbeit stetig erweitert. Damals hatte die NATO auf ein Hilfsersuchen Pakistans reagierte und die UN eine breit angelegte humanitäre Operation gestartet. Das technische und medizinische Unterstützungskontingent der NATO blieb 90 Tage in Pakistan. Diese Hilfe trug dazu bei, einige der unter Pakistanis tief verwurzelten Vorbehalte gegen die NATO abzubauen und ebnete den Weg für eine substantielle Zusammenarbeit von NATO und Pakistan.
Seitdem findet ein regelmäßiger Austausch auf höchster Ebene statt, der zum Beginn eines politischen Dialogs für das gegenseitige bessere Verständnis und auch zu einer besseren militärischen Zusammenarbeit beigetragen hat. Zwischen der NATO und Pakistan bestehen noch immer einige offensichtliche Spannungsfelder – zum einen steht die NATO den Friedensverhandlungen Pakistans mit seinen einheimischen Taliban skeptisch gegenüber, zum anderen kommt es zwischen pakistanischen und NATO-Truppen gelegentlich noch immer zu Gefechten und Geschützfeuern über die Grenzen hinweg. NATO-General Raymond Henault hatte jedoch recht, als er im November 2006 sagte: „Pakistan ist für die Sicherheit der NATO wichtig, aber die NATO auch für die Sicherheit Pakistans.“ Beide Seiten teilen die Überzeugung, dass Afghanistan nur durch Zusammenarbeit stabilisiert werden kann, durch eine Kombination politischer, wirtschaftlicher und militärischer Maßnahmen.
Die NATO muss lernen, dass sie keine andere Wahl hat, als mit den anderen multinationalen Organisationen ebenso wie mit den großen und den regionalen Mächten zusammenzuarbeiten, wenn sie sich Respekt und Legitimität verschaffen will – schließlich repräsentieren ihre Mitgliedsstaaten nur einen kleinen Teil der Welt und sind zu einem Großteil christlich und europäisch geprägt. Man kann nur hoffen, dass das Bündnis seine Lektionen schnell genug lernt, um die Intervention in Afghanistan doch noch zu einem Erfolg zu machen.

Dossier
Die NATO in einer veränderten Welt
Zum 60. Gründungstag der NATO haben wir Fragen zur Zukunft des Bündnisses zur Diskussion gestellt. Hier finden Sie Sichten aus alten und neuen Mitgliedsstaaten der NATO, Ideen und Fragen zur globalen Sicherheitspolitik und zur zukünftigen Strategie der NATO.