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Atom- und Regionalmacht. Rollenspiele mit Russland

USS Ohio: Das atomar angetriebene U-Boot bei einer Modernisierung im Trockendock des US-Flottenstützpunkts Puget Sound.
Foto: Mateus. Dieses Foto steht unter einer Creative Commons-Lizenz

19. Mai 2009
Von Joscha Schmierer
Von Joscha Schmierer

Wenn sich US-Präsident Barack Obama und der russische Präsident Dimitri Medwedew demnächst zu ersten ausführlichen Gesprächen treffen, wird die Frage der atomaren Abrüstung eine wichtige Rolle spielen. Für die USA ist die Frage von globaler Bedeutung: Ohne Abrüstungsfortschritte zwischen den USA und Russland als den beiden wichtigsten Atommächten ist an eine Erneuerung und Verbesserung des Atomwaffensperrvertrages nicht zu denken. Diese Frage könnte es aber erst erlauben, einen klaren Schnitt zwischen der friedlichen Nutzung der Atomkraft, die gegenwärtig in den Planungen etlicher Staaten wieder eine wachsende Rolle spielt, und der versteckten Vorbereitung einer Atombewaffnung in angeblich zivilen Projekten zu ziehen. Der würde dann der internationalen Kontrolle genauere Kriterien liefern, um den schleichenden Übergang von atomarer Energieproduktion zur atomaren Aufrüstung rechtzeitig zu unterbinden.

Die Atommächte in der Bringschuld

Der Atomwaffensperrvertrag beruht auf einem doppelten Versprechen: der Zusage der anerkannten Atommächte, in absehbarer Zukunft Schritte der atomaren Abrüstung bis hin zur Beseitigung aller Atomwaffen zu unternehmen, und der Verpflichtung der unterzeichnenden Staaten ohne Atomwaffen, auf die Atomrüstung dauerhaft zu verzichten.

Damit diese asymmetrische Vertragsgrundlage, die einen Ausgleich erst in dem allseitigen Verzicht auf Atomwaffen finden kann, wieder ausreichend Glaubwürdigkeit gewinnt, sind Abrüstungsschritte der Atommächte entscheidend. Erste Voraussetzung, um die Bedingungen der Nichtverbreitung von Atomwaffen zu verbessern, sind deshalb entschiedene Abrüstungsmaßnahmen zwischen den beiden ehemaligen Supermächten.

Bei der Atomrüstung und ihrer schrittweisen Beendigung sind die USA und Russland weiterhin Erben der früheren Vorherrschaft der beiden Supermächte in einer bipolaren Welt. Nach der Auflösung der Sowjetunion gab es ein gemeinsames russisch-amerikanisches Interesse, alle sowjetischen Atomwaffen in den Händen des russischen Staates zu konzentrieren. Das ist gelungen. Zugleich wurde Russland damit in eine Stellung gehievt, die es sonst auf keinem anderen Gebiet beanspruchen kann: wie zu Zeiten der Sowjetunion der wichtigste Widerpart, Gesprächs- und Verhandlungspartner der USA zu sein.

Die USA kommen nicht darum herum, Russland in dieser Stellung anzuerkennen und auf es zuzugehen. Das wirft allerdings die Frage auf, wie weit das Interesse Russlands an einer atomaren Abrüstung überhaupt reichen kann. Russland hat wohl kein Interesse daran, die atomare Abrüstung bis an die Schwelle zu führen, jenseits der es seine gegenüber den anderen Atommächten herausragende Stellung verlieren würde. Doch erst an dieser Schwelle könnten die atomaren Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und Russland in Verhandlungen zwischen allen Atommächten übergehen.

Russlands Nostalgie

Für die USA ist diese Schwelle von geringerer Bedeutung, weil ihre Stellung selbst in den militärischen Kräfteverhältnissen heute weniger von der Atombewaffnung abhängig ist. Deshalb werden schon in bilateralen Verhandlungen Fragen der atomaren und der konventionellen Abrüstung sich nicht so leicht trennen lassen. Die Verhandlungen werden schwierig sein und Russland wird sie in seiner besonderen Stellung nostalgisch genießen. Die Schwierigkeiten erwachsen aus den Nachwehen des Kalten Krieges und dem alten Gegensatz der beiden Supermächte. In der Annahme, die einzig verbliebene Supermacht zu sein, ließen sich die USA deshalb unter Bush erst gar nicht auf sie ein. Das hat ihren Einsatz für Nichtverbreitung nicht glaubwürdiger gemacht. Russland verstand es als Kränkung.

Die Motive für die neuen Abrüstungsbemühungen liegen heute nicht mehr in erster Linie in der Regelung des Kräfteverhältnisses untereinander, sondern in der Gefahr, dass in der neuen nichtpolaren Welt, die sich jeder Vorherrschaft entzogen hat, die Atombewaffnung aller Kontrolle zu entgleiten droht. Die amerikanisch-russischen Abrüstungsbemühungen finden deshalb ihre Bedeutung weniger in ihrem eigenen Ergebnis als in der internationalen Wirkung, das dieses Ergebnis bei den übrigen Atommächten und allen anderen Unterzeichnern des Atomwaffensperrvertrags zu erzielen vermag. So zielen die bilateralen Verhandlungen auf eine Neufassung und Stärkung des Nonproliferationsregimes durch die Staatenwelt. Mit einer vollständigen Beseitigung der Atomwaffen ist allenfalls im übernächsten Schritt zu rechnen.

Das postsowjetische Szenario in Europa

Wenn die EU in Fragen der atomaren Abrüstung trotz der beiden Atommächte in ihren Reihen nur eine Zuschauerrolle spielt, liegt das vor allem daran, dass hier das Erbe der bipolaren Welt und das frühere Gewicht der beiden ehemaligen Supermächte fortwirkt. Die EU spielte schon damals in Atomfragen eine untergeordnete Rolle.

Die Auflösung der Sowjetunion 1991 hatte im Westen und speziell in Europa keineswegs die gleiche Begeisterung hervorgerufen wie der Fall der Mauer und die Auflösung des Sowjetblocks. Eine Sorge war, was mit den sowjetischen Atomwaffen passieren würde. Die politische Lösung, wie gerade in Erinnerung gerufen, bestand darin, dass Russland mit Unterstützung der USA und dem Einverständnis der unabhängig gewordenen Nachfolgestaaten der Sowjetunion  durch die Übernahme aller Atomwaffen auf diesem Gebiet die Rolle der Sowjetunion übernahm. In diesem weiten Mantel der Supermacht wird sich Russland in den Abrüstungsverhandlungen noch einmal wohl fühlen wollen.

Die andere Sorge war, dass die Auflösung der Sowjetunion mehr internationale Ordnungsprobleme aufwerfen als lösen würde. Die bewaffneten Auseinandersetzungen im kleinen Jugoslawien zeichneten sich schon ab, musste da die Auflösung der großen Sowjetunion nicht noch viel größeres Chaos hervorrufen? Diese Befürchtungen vieler Politiker in Deutschland, das in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen eben erst die Zustimmung der Sowjetunion zur Vereinigung erreicht hatte, bewahrheiteten sich nicht. Allerdings veränderte sich die geopolitische Situation vollständig.

Selbst nach der Osterweiterung erwachsen die Spannungen zwischen der EU und Russland weniger aus ihrem unmittelbaren Verhältnis untereinander als vielmehr mittelbar aus ihrem wechselseitigen Verhältnis zu den unabhängigen Staaten, die in Osteuropa aus der Sowjetunion hervorgegangen sind. Hier ist ein Streifen von Staaten entstanden, dessen Problem gerade in diesem „Dazwischen“ von EU und Russland liegen.

Nicht „Zwischeneuropa“ selbst, also ein Europa, das es auf seinen Seiten mit anderen, teils unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Formen Europas zu tun hat, ist das Problem. Es hat vielmehr ein Problem mit dem Umgang Russlands und der EU mit der eigenen Zwischenlage.

Aus diesem Umgang entsteht ein weiteres, eher daraus abgeleitetes Problem. Die Staaten in diesem Zwischeneuropa haben noch nicht die notwendige politische Unabhängigkeit erlangt, um mit ihrem Dazwischen souverän umzugehen und das eigene Gewicht im Verhältnis zu ihren großen Nachbarn zu stärken. Manche ihrer Politiker sind sogar empört, wenn man nicht bereit ist, dieses „Dazwischen“ zu leugnen und die postsowjetischen Staaten schlicht zu einem Teil des Westens zu erklären.

Von Einflüssen und Einflusszonen

Dort im Westen ist oft zu hören, Russland müsse seine Vorstellung von Politik als Nullsummerspiel überwinden und dürfe nicht länger in der Kategorie von Einflusszonen denken. Das stimmt, muss aber in russischen Ohren zynisch klingen. Eine NATO- und EU-Mitgliedschaft von, sagen wir, der Ukraine wäre ja nicht weniger, sondern mehr als eine Einflusszone der EU und der USA. Es wäre organisatorisch Teil ihrer Welt. Der vorhandene Einfluss Russlands würde institutionell beschnitten, ohne dass er damit tatsächlich beseitigt werden könnte. Dazu ist er viel zu groß und tief angelegt. Eine westliche Politik, die auf formelle Eingliederung in die eigenen organisatorischen Strukturen zielt, wirkt deshalb unvermeidlich destabilisierend und spaltend, nicht zuletzt weil sie in diesen Staaten auf Kräfte setzen muss, denen die politische Weisheit fehlt, um mit der tatsächlichen Situation des Dazwischen zugunsten der Unabhängigkeit und Einheit des eigenen Landes umzugehen.

Was bei dieser Politik herauskommen kann, zeigt die Entwicklung in Georgien exemplarisch. Statt eines stabilen westlichen Staates im Kaukasus ist ein gespaltenes Land herausgekommen, dessen einer Teil zumindest für absehbare Zeit zum russischen Protektorat geworden ist, während der andere, in den Westen strebende Teil deutliche Züge eines „failing state“ aufweist.

Die EU und der Westen insgesamt müssen ihre Ostpolitik nach dem Ende der Blockordnung und der Auflösung der Sowjetunion einer kritischen Überprüfung unterziehen. In der ersten Euphorie nach dem Mauerfall sahen manche den ganzen Osten in den Westen hineinwachsen. Das war halluzinatorischer Ausdruck der plump ökonomistischen Überlegung, dass mit dem Einzug kapitalistischer Wirtschaftsformen die politische Integration in den Westen nur eine Frage der Zeit sein könne. Darüber wurden die politische Zerklüftung und das politische Eigengewicht der spezifischen Staatsbildung in Osteuropa übersehen.

Instinktiv wurde eins allerdings richtig gemacht: Den Staaten, die nie zur Sowjetunion gehört hatten oder ihr wie die baltischen Staaten völkerrechtswidrig einverleibt worden waren und die in einem Akt politischer Befreiung den Ostblock gesprengt hatten, wurde rasch der Weg in die EU geöffnet. Schwierig wurde erst der Umgang mit einem restaurierten russischen Staat und den Staaten, die sich aus der Sowjetunion gelöst hatten, ohne sich dadurch auch nur annähernd aus dem russisch-sowjetischen Kontext lösen zu können oder zu wollen.

Mit ihrer Nachbarschaftspolitik hat die EU zwar von einer permanent gedachten Erweiterungspolitik Abschied genommen, es ist ihr aber nicht gelungen, eine kohärente Ostpolitik zu entwickeln, in der die Unabhängigkeit der Staaten Zwischeneuropas und ihre Verknüpfung mit Russland gleichermaßen ernst genommen werden. Auch die neue „östliche Partnerschaft“, die jüngst und ohne viel Aufheben in Prag besiegelt wurde, beinhaltet keine neue Politik. Sie ist nur eine Fortschreibung der Nachbarschaftspolitik.

Transitländer

Hinter der Charakterisierung dieser Staaten als Transitländern steckt mehr als der Hinweis auf Durchgangsstationen von Öl- und Gaspipelines. Die EU trifft schon hier auf anders geprägte europäische Formationen, nicht erst in Russland. Zur Selbstständigkeit der Staaten dieses Zwischeneuropas wird die einfache Logik der Subtraktion von Russland und der Addition zu EU oder NATO nichts beitragen. Gerade wegen der formativen Unterschiede in Europa ist der kooperative Aufbau einer gemeinsamen Infrastruktur elementare Voraussetzung der zukünftigen gesamteuropäischen Integration, die Russland, die EU und die Staaten dazwischen miteinander verbindet.

Durch die Offenheit nach beiden Seiten können die Transitländer ihre Unabhängigkeit sichern. Unabhängigkeit und Offenheit liegen auch im wohlverstandenen Interesse von EU und Russland als den Kräften, denen der Transit dient. Dass sich ihre Interessen und Einflüsse in Zwischeneuropa überlappen, könnte ein gemeinsames Interesse an unabhängiger Staatsbildung und Rechtsförmigkeit in dieser Region Europas hervorbringen.

Joscha Schmierer

Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.

 

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