Ein grüner Bildungsbegriff

Herkunft entscheidet bei uns viel zu sehr über den Bildungserfolg und damit letztlich über die gesellschaftlichen Chancen der Individuen. Unser Foto zeigt eine verlassene Schule in Leipzig. Foto: ivanp. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

21. Oktober 2010
Andreas Poltermann und Stephan Ertner
Von Dr. Andreas Poltermann und Stephan Ertner

Um Bildung wird in Deutschland so heftig gestritten wie selten zuvor. In Hamburg wurde gar ein „Schulkampf“ geführt gegen die Verlängerung der Zeit des gemeinsamen Lernens in der Grundschule, die den weiterführenden Schulen zwei Jahre abgeknapst hätte. Auch in Nordrhein-Westfalen, wo das vorhandene Schulangebot um die Gemeinschaftsschule als eine konkurrierende Schulform erweitert werden soll, könnte es zu vergleichbaren Auseinandersetzungen kommen.

Die Verbissenheit des Kampfs um Bildung hat viel mit der gestiegenen Bedeutung zu tun, die Bildung heute für gesellschaftliche Teilhabechancen und individuelle Karriereaussichten hat.

Besonders die Mittelschicht ist sich der Schlüsselrolle bewusst, den Bildung für die Zukunft ihrer Kinder heute hat. So äußert sich die zunehmende Angst vor dem sozialen Abstieg aus der gesellschaftlichen Mitte im wachsenden Druck auf Familien, in Erziehung und Bildung alles richtig zu machen, d.h. die richtige Kita und Schule zu wählen und ihre Kinder mit viel Engagement zu unterstützen. Dabei sind die Mittelschichteltern meist auch recht erfolgreich.

So berechtigt ihre Sorgen auch sein mögen, von echter Bildungsarmut sind die Kinder der Mittelschicht denn auch wenig betroffen. Sie gehören so gut wie nie zu den rund 20 Prozent aller Schulabgänger, die an einer Schlagzeile nicht unterscheiden können, was Werbung, was Meinung und was Bericht ist. Die Schülerinnen und Schüler der so genannten „Risikogruppe“ bekommen grundlegende Rechenoperationen wie die Planung eines Budgets kaum hin. Sie sind bildungsarm in dem Sinne, dass sie zu einer selbstständigen Teilhabe an der Gesellschaft und zur selbständigen Lebensführung kaum in der Lage sind.

Die Jugendlichen dieser Gruppe sind in zweifacher Hinsicht durch ihre Herkunft von der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen: zum einen durch Schulen, die wie die Halbtagsschule stark auf die Unterstützung durch die Eltern setzen, was Kinder, deren Eltern diese Unterstützung nicht leisten können oder wollen, benachteiligt; zum anderen aber auch durch Selbstausschluss. Nicht selten setzen diese Jugendlichen auf Herkunft als Unterscheidungsmerkmal, um sich vor den Zumutungen gesellschaftlicher Leistungsbeurteilung zu schützen.

Herkunft entscheidet bei uns viel zu sehr über den Bildungserfolg und damit letztlich über die gesellschaftlichen Chancen der Individuen. Wenn Kinder von Eltern höherer Schichten eine bis zu fünfmal größere Chance haben, von ihren Grundschullehrerinnen eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, als Kinder an- und ungelernter Arbeiter, ist das ungerecht – einmal davon abgesehen, dass wir uns diese Verschwendung von Talenten wirtschaftlich nicht leisten können.

Nun hieße es Schulen hoffnungslos zu überfordern, würde man von ihnen verlangen, soziale Disparitäten alleine und vollständig auszugleichen und für eine faire Verteilung sozialer Chancen zu sorgen. Aber man darf doch erwarten, dass sie durch individuelle Förderung die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen von Schülerinnen und Schüler abmildert. Genau das gelingt in den deutschen Halbtagsschulen jedoch nur schlecht. Darüber hinaus schlagen im deutschen Bildungssystem mit der frühen Selektion in Bildungsgänge, zwischen denen nur wenige Übergänge bestehen, die sogenannten sekundären Herkunftseffekte stark zu Buche: Selbst bei gleicher Kompetenz sind Kinder aus bildungsfernen Schichten durch Entscheidungen, die sie treffen bzw. die für sie getroffen werden, benachteiligt, sei es, dass ihnen die Zumutungen der Leistungsanforderungen höherer Bildung von Seiten der beurteilenden Lehrpersonen erspart werden, sei es .dass ihnen oder ihren Eltern selbst das Risiko eines solchen Bildungsgangs zu hoch erscheint.

In dieser Situation ist es zwar richtig, den Wert und die soziale Bedeutung von Bildung immer wieder zu betonen. Aber es muss auch gesehen werden, dass der Bedeutungszuwachs von Bildung eine wachsende Gruppe von Abgehängten produziert. Deshalb bedarf es eines differenzierten Blicks und mutiger Prioritätensetzungen.


Bildung heißt Befähigung

Bildung sollte in erster Linie als Befähigung zum eigenverantwortlichen Handeln verstanden werden. Ein solches Verständnis ist im selbsterklärten Land der Dichter und Denker jedoch keinesfalls üblich. Bildung bezieht sich hierzulande noch immer stark auf die Vorstellung eines Kanons von Allgemeinwissen. Andere, z.B. praktische Fertigkeiten und Kenntnisse werden systematisch abgewertet. Bildung dient noch zu sehr der Abgrenzung gegenüber den vermeintlich Ungebildeten als der Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe. Im Bildungssystem hat dies tiefe Spuren hinterlassen, vor allem in der Trennung von praktischer und höherer, theoriegeleiteter Bildung, zwischen denen es nur wenige Übergänge gibt. Dieses „Bildungsschisma“ (Martin Baethge) benachteiligt die bildungsferneren Schichten. Außerdem ist in der Wissensgesellschaft nicht mehr zeitgemäß, weil der theoriegeleitete Wissensanteil auch der beruflichen Bildung erhöht werden muss.


Konzentration auf Jugendliche in Risikolagen

Bei all den Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung, die unsere Schulen an die internationale Spitze führen und zur Stärkung der gesellschaftlichen Innovationsfähigkeit beitragen sollen, werden die Lern- und Lebenschancen von bildungsarmen Kindern und Jugendlichen viel zu wenig beachtet. Die so genannte „Risikogruppe“ muss ins Zentrum der Bildungsreform gestellt werden. Um es plakativ zu sagen: Die Mittelschicht ist selbst in der Lage, sich für ihre Kinder einzusetzen. Dabei werden sie vom fördernden und fordernden Unterricht an den Gymnasien recht gut unterstützt. Um den Teufelskreis der Bildungsarmut im unteren Fünftel zu durchbrechen, braucht es starke ermutigende und unterstützende sowie durchlässige Strukturen neben dem Gymnasium. Hier darf sich kein Bildungsweg mehr als Sackgasse erweisen. Stets müssen zweite und dritte Chancen geboten werden. Und am Ende darf nicht die Erfüllung der Schulpflicht von 9 oder 10 Jahren stehen, sondern die Vermittlung von Basiskompetenzen als Bringschuld unserer Schulen, notfalls auch nach 11 oder 12 Jahren – trotz aller Schulmüdigkeit. Das wird wird teuer, sicher. Aber es bedeutet mehr Zeit und mehr Geld für die aufzuwenden, die es am dringendsten brauchen.


Leistungsorientierung ist wichtig

Die Förderung benachteiligter Schülerinnen und Schüler bedeutet dabei jedoch keinesfalls Nachsicht, sondern motivierende und anspruchsvolle Unterrichtsgestaltung, hohe und konsistente Leistungsanforderungen, an denen Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen können, was in ihnen steckt. Wenn die Potenziale gefördert und zumindest die Basiskompetenzen erreicht werden, sind die Unterschiede, die eine konsequente Leistungsorientierung hervorbringt, nicht nur auszuhalten, sondern sie sind fair. Es ist heute eine besonders subtile Form der Diskriminierung, wenn an Kinder aus bildungsfernen Schichten oder Kinder mit Migrationshintergrund geringere Erwartungen gestellt werden. Denn die Vorurteile, die Lehrpersonen bezüglich der Leistungsfähigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler haben, beeinflussen nach dem Muster sich selbst erfüllender Prophezeiungen die tatsächlichen Bildungsverläufe.


Reformen mit den Eltern

Die Hamburger Erfahrungen haben gezeigt, dass selbst breiteste parlamentarische Mehrheiten für die Durchsetzung einer Reform nicht ausreichen, wenn die Eltern kein Vertrauen haben in die Leistungsorientierung der Schule und wenn ihnen Wahlrechte vorenthalten werden. Sicher: In Hamburg haben Mittel- und die Oberschicht Bildung sehr stark als Abgrenzung gegen die Ungebildeten eingesetzt und damit ihre Interessen einseitig und unfair zu Lasten der Schwächeren durchgesetzt. Dennoch stellt sich die Frage, wie diese Eltern, die sich für ihre Schulen und den Bildungsverlauf ihrer Kinder aktiv einsetzen, für Reformen zu gewinnen sind. Ein überzeugendes Leistungsversprechen dürfte hierbei entscheidend sein und die Stärkung des Elternwahlrechts. Beides könnte sich wechselseitig befördern. Einschränkungen des Elternwahlrechts wirken demgegenüber eher als Reformbremse, wenn dadurch engagierte Eltern in das Lager der Strukturbewahrer gedrängt werden. Und durch die Freigabe des Elternwahlrechts werden Schulen gezwungen, sich mit einer größeren Vielfalt unter der Schülerschaft auseinander zu setzen und dennoch hohe Leistungsstandards einzuhalten. Auch im Hinblick auf die Forderung nach einer inklusiven Schule eine stringente grüne Position, gegen den Willen von Eltern dürfen keine Kinder auf Sonderschulen abgeschoben werden.


Erschienen in: Stachlige Argumente, Nr. 179, September 2010

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Dr. Andreas Poltermann ist Leiter der Abteilung Politische Bildung Inland der Heinrich-Böll-Stiftung
Stephan Ertner ist Referent für Bildung und Wissenschaft in der Heinrich-Böll-Stiftung