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Vorwort zur Studie: "Grenzwertig: Eine Analyse der neuen Grenzüberwachungsinitiativen der Europäischen Union"

24. Mai 2012
Barbara Unmüßig und Ska Keller

Die Umbrüche in Nordafrika haben kurzfristig zu einem leichten Anstieg Flüchtender nach Europa geführt. Es hat nachweislich jedoch nie eine „Flüchtlingswelle“ nach Europa gegeben. Mit Abstand die meisten Flüchtlinge sind in den arabischen Nachbarländern aufgenommen worden. Gleichwohl haben die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der Europäischen Union in vorschneller Reaktion  im Juni 2011 einen weitreichenden Beschluss gefasst, der auf eine neue Form der Grenzsicherungspolitik der EU zum „Schutz“ vor Migration hinausläuft. Neben neuen Regeln für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums drängen die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs auch auf eine Aufrüstung der EU-Außengrenzen mit modernster Überwachungstechnologie. Die EU soll zu einer elektronischen Festung ausgebaut werden.

Der Beschluss der Regierungsvertreterinnen und -vertreter sieht zum einen den raschen Aufbau des neuen Europäischen Überwachungssystems EUROSUR vor. Dabei geht es neben einer stärkeren Kooperation der europäischen Grenzschutzbehörden auch um die Überwachung der EU-Außengrenzen mit modernster Überwachungstechnologie durch die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX. Selbst Drohnen sollen künftig über dem Mittelmeer und den nordafrikanischen Küsten kreisen. Ziel des High-Tech-Einsatzes ist es, Flüchtlingsboote zu entdecken und zu stoppen, ehe sie die europäischen Grenzen überhaupt erreichen. Der Legislativvorschlag zu EUROSUR liegt mittlerweile vor und wird derzeit im Rat und im Europaparlament beraten.

Zum anderen drängen die Mitgliedsstaaten auf die Einführung sogenannter „smart borders“ („intelligente Grenzen“). Damit soll die Totalüberwachung von Reisebewegungen an den europäischen Grenzübergängen geschaffen werden. Geplant ist die Einführung einer Mega-Ausländerdatenbank nach US-Vorbild in der sich alle Nicht-EU-Bürgerinnen und -bürger mit Fingerabdrücken registrieren müssen, wenn sie in die EU ein- und ausreisen. Damit sollen sogenannte „overstayer“ identifiziert werden. Das sind Drittstaatenangehörige, die länger in der EU bleiben, als es ihr Visum für eine befristete Aufenthaltsdauer erlaubt. In den USA ist das System gescheitert; die Ausreisekontrollen wurden nie flächendeckend eingeführt. In der EU soll es nach dem Willen der Staats- und Regierungsvertreterinnen und -vertreter trotzdem kommen – koste es was es wolle (die EU-Kommission rechnet mit mindestens 1,1 Milliarden Euro). Den Gesetzesvorschlag zu „smart borders“ will sie, gedrängt von den Mitgliedsstaaten, im Sommer vorlegen.      

EUROSUR und „smart borders“ sind die zynische Antwort der EU auf den Arabischen Frühling. Sie stehen für eine neue Form der europäischen Grenzsicherungspolitik, mit der sich die EU zunehmend nach außen (und über Binnenkontrollen im Schengen-Raum auch nach innen) gegen Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten abschottet. Manche Innenminister nehmen dafür selbst Verletzungen von Grundrechten in Kauf.

Die Studie von Ben Hayes und Mathias Vermeulen macht deutlich, dass EUROSUR einer Politik der EU Vorschub leistet, bei der das Recht auf Asyl und Schutz nicht mehr gewährleistet sind. FRONTEX steht seit langem in der Kritik für seine sogenannten „push back“-Operationen, bei denen Flüchtlingsboote abgefangen und zurück an ihren Ausgangshafen eskortiert werden. Italien wurde im Februar 2012 vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof wegen solcher Operationen verurteilt, weil die italienischen Grenzschützer unterschiedslos alle Flüchtlinge eines abgefangenen Bootes nach Libyen zurückgeschickt haben – auch Flüchtlinge, die ein Recht auf Asyl und internationalen Schutz gehabt hätten. Die mit EUROSUR geplante Überwachung des Mittelmeerraums durch Drohnen, Satelliten und Schiffsüberwachungssysteme wird es künftig einfacher machen, die Boote zu entdecken. Die im Rahmen von EUROSUR ebenfalls geplante Kooperation mit Drittstaaten und vor allem mit den nordafrikanischen Mittelmeeranrainerländern wird, so steht zu befürchten, den Weg ebnen für eine Ausweitung der „push-back“-Operationen. 

Die EU-Kommission kündigt EUROSUR freilich positiv an: Die geplante Überwachung des Mittelmeerraums mit Drohnen, Satelliten und Schiffsüberwachungssystemen werde helfen, mehr schiffsbrüchige Flüchtlinge auf offenem See zu retten. Die vorliegende Studie verdeutlicht, wie viel Substanz in dieser Schönfärberei steckt. Seenotrettungseinheiten sind gerade nicht in EUROSUR und den Informationsaustausch der Grenzschützer eingebunden. Dabei wäre gerade das wichtig. Der erst jüngst veröffentlichte Bericht des Europarats zum Tod von 63 Migrantinnen und Migranten, die in ihrem seeuntüchtigen Boot verhungerten und verdursteten, kommt zu dem Schluss, dass das Problem nicht die Ortung des Bootes war, sondern ein Verantwortungsvakuum in Europa. Niemand ist den Flüchtlingen zu Hilfe geeilt – obwohl die Lage des Bootes bekannt war.

Als Reaktion auf den Arabischen Frühling drängen die Mitgliedsstaaten der EU nicht nur auf eine Komplettüberwachung des Mittelmeers, sondern auch auf eine elektronische Aufrüstung an den Grenzübergängen. Damit geraten auch ganz normale Reisende ins Visier der europäischen Grenzschützer/innen. Das Wort vom Daten-Tsunami ist da durchaus angemessen.

Es gehört zu den zentralen Ergebnissen der Studie, dass die neuen Grenzüberwachungsinitiativen der EU nicht nur zentrale Grundrechte verletzen (Recht auf Asyl und Schutz, Recht auf Datenschutz), sondern dass sie trotz des fragwürdigen Nutzens auch Milliarden kosten – und das in Zeiten von allgegenwärtigen Haushaltskürzungen und Spardiktaten. Davon profitieren vor allem die großen europäischen Rüstungskonzerne, die mit EU-Fördermitteln „smart gates“, Drohnen und andere Überwachungstechnologie entwickeln. Es scheint offensichtlich, dass mit der technologischen Aufrüstung der EU-Außengrenzen ein neues Geschäftsfeld für die europäische Sicherheits- und Rüstungsindustrie geschaffen wird. Hier treffen sich Industrieinteressen mit den Interessen politischer Hardliner, die in Migration eine neue Bedrohung der inneren Sicherheit der EU sehen. 

Die neuen Grenzüberwachungsinitiativen der EU sind nicht nur Sinnbilder für eine neue technologische Aufrüstung. Sie stehen auch für die politische Hilflosigkeit der EU, mit Migration und Flüchtlingen umzugehen. Von den über eine halbe Million Menschen, die sich wegen der politischen Umbrüche in Nordafrika auf die Flucht begaben, ist nicht einmal ein Zwanzigstel nach Europa gekommen. Das Problem ist vielmehr, dass die meisten Flüchtlinge an nur wenigen Orten in Europa stranden. Nicht die EU ist überfordert, sondern die lokalen Strukturen im italienischen Lampedusa, im griechischen Evros-Gebiet und auf Malta. Die Antwort darauf, Migration als neues Bedrohungsszenario aufzubauen und an den Grenzen militärische Überwachungstechnologie einzusetzen, hilft deshalb kaum. Statt Flüchtlinge aufzunehmen, wehrt die Bundesregierung im Schulterschluss mit anderen europäischen Regierungen seit Jahren im Europäischen Rat erfolgreich eine Neuregelung der Dublin-Verordnung ab. Flüchtlinge und Migrant/innen sollen auch in Zukunft in dem EU-Land bleiben, in dem sie ankommen.

Die Abwehr der Mitgliedsstaaten geht sogar so weit, dass die Rettung schiffsbrüchiger Flüchtlinge gefährdet ist. Bei FRONTEX-Operationen werden in Seenot geratene Flüchtlinge nicht, wie in internationalem Recht vorgesehen, in den nächstliegenden Hafen gebracht, sondern in einen Hafen des Mitgliedsstaats, der die Operation leitet. Dahinter steht die Philosophie: „bloß nicht zu uns!“ Sie ist auch die Ursache für das vom Europarat konstatierte Verantwortungsvakuum bei der europäischen Seenotrettung. Solange die Mitgliedsstaaten nicht zu mehr Solidarität und Menschlichkeit bereit sind, wird daran auch EUROSUR nichts ändern.

Was hilfreich wäre, sind bessere, europaweite Asylstandards. Die entsprechenden EU-Richtlinien werden gerade überarbeitet – allerdings unter der strikten Maßgabe, dass die Neuregelungen nicht mehr kosten dürfen als die bisherigen und dass sie nicht zu einer relativen Ausweitung der Asylanträge führen dürfen. Zynischerweise haben das die Staats- und Regierungschef/innen in genau demselben Beschluss festgezurrt, in dem sie auch auf die rasche Einführung der milliardenschweren Überwachungsinitiativen drängten. Auch die Europäische Asylbehörde wird kurz gehalten, ganz im Gegensatz zu FRONTEX, deren Budget neunmal so groß ist.

Weil die Mitgliedsstaaten die eigentlichen Probleme nicht lösen wollen, rüsten sie an den Außengrenzen auf. Das ist Kirchturmpolitik im großen Maßstab. Europäische Grundwerte werden dabei zur Disposition gestellt - vermeintlich zum Schutz eigener Interessen. Das ist schon mehr als „grenzwertig“.

Zur Studie: Grenzwertig: Eine Analyse der neuen Grenzüberwachungsinitiativen der Europäischen Union