Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte Israels hinterfragen die Menschen schonungslos die zukünftige Richtung der israelischen Gesellschaft. Letzten Samstag demonstrierten über 300.000 Menschen in den Straßen von Tel Aviv und verlangten soziale Gerechtigkeit. Zeitgleich gab es weitere Demonstrationen in fast allen anderen Städten und Dörfern des Landes. Die Beteiligung der landesweit führenden Rocksänger symbolisierte den Mainstream-Charakter der laufenden Proteste. Trotz der internationalen wirtschaftlichen Turbulenzen und Rezession in großen Teilen der Welt hat Israels Volkswirtschaft - gemessen an herkömmlichen wirtschaftlichen Indikatoren - in den letzten vier Jahren außergewöhnlich gut abgeschnitten. Israel hat ein ausbalanciertes Wirtschaftswachstum, eine niedrige Arbeitslosigkeit und ist Mitglied im exklusiven Club wohlhabender OECD-Länder geworden. Dennoch fühlen die Mehrheit der Israelis, dass etwas grundlegend falsch läuft in ihrem Land. Die Schere zwischen Reich und Arm klafft immer weiter auseinander und die Mittelschicht ist aufgrund von Gehaltsstruktur und Steuersystem nicht in der Lage, einen angemessenen Lebensstandard zu wahren.
Die beispiellose Massen-Bewegung begann als ein individueller Akt der Frustration. Vor knapp einem Monat beschloss die qualifizierte Freiberuflerin Daphne Leef, ein Zelt auf Tel Avivs begrüntem teuren Rothschild Boulevard aufzuschlagen, weil sie sich ihre Wohnung nach einer Mieterhöhung nicht mehr leisten konnte. Als sie diesen individuellen Protestakt dann ins Internet setzte, erledigte ein wenig Facebook-Wunder den Rest. Hunderte meist junge Leute folgten ihrem Beispiel und auf dem Rothschild Boulevard entstand eine Zeltstadt. In ganz Israel schossen Zeltstädte aus dem Boden. Sie wurden zu Zentren des Protests, in denen Gruppen Gesellschaftspolitik studierten und Solidarität übten.
Diese soziale Bewegung der Massen hat die Fantasie der breiten Öffentlichkeit erobert und genießt eine über 80 prozentige Zustimmung. Täglich springt der Funke des Protests auf weitere Politikbereiche über, in denen Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Verteilung des nationalen Reichtums herrscht. Mütter mit Kinderwagen fordern eine Preissenkung für Baby-Artikel, Milchbauern protestieren gegen unfairen Wettbewerb durch den Import subventionierter europäischer Milchprodukte, ein Ärztestreik gegen inakzeptable Beschäftigungsbedingungen geht in den vierten Monat.
Der diffuse Charakter der Proteste legt nahe, dass irgendetwas mit dem jüngsten wirtschaftlichen Aufschwung Israels nicht stimmen kann. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass es im Grunde um die Rolle des Staates bei der Regulierung der Wirtschaft geht. Die gegenwärtige Netanjahu-Regierung ist das Extrembeispiel einer kapitalistischen Wirtschaftsideologie, die bereits frühere israelische Regierungen verfolgen. Die unsichtbare Hand des freien Marktes soll sich um Israels Probleme kümmern und der folgende Aufschwung kommt allen zu Gute. In Wirklichkeit hat der Übergang zu dieser extremen Form von Kapitalismus und Privatisierung eine kleine Kaste von Superreichen begünstigt und Wohnraum für die Mittelschicht unerschwinglich gemacht. Die Steuern sind erschreckend niedrig für Unternehmen und erschreckend hoch für Waren und Einkommen, wodurch der Lebensunterhalt noch teurer wird. Selbstverständlich muss Israels ungewöhnliche Verteidigungslage auch den Staatshaushalt dominieren. Aber soziale Leistungen werden zunehmend privatisiert und die Mehrheit der Bevölkerung hat große Teile von dem verloren, was bisher von der Allgemeinheit getragenen Leistungen waren: Bildung, Gesundheitsversorgung und Mobilität.
Seit über einem Jahr leitet Israels grüne Partei, die „Grüne Bewegung“, mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung eine Gruppe von Akademiker/innen, Aktivist/innen und Ökonom/innen, um ein neues Wirtschaftsprogramm für Israel zu erarbeiten. Diesem liegen Lehren und Konzepte des „Green New Deal“ zugrunde, der von grünen Think Tanks und politischen Parteien nach der Wirtschaftskrise 2008 entwickelt wurde. Der erste Entwurf des detaillierten Vorschlags für Israel trägt den Titel „Die Wirtschaft von Morgen“ und wurde in dieser Woche in einer führenden israelischen Internet-Zeitung veröffentlicht. Gleichzeitig reisen Aktivist/innen durch das ganze Land und reden in den Abendstunden zu den immer größer werdenden Menschenmengen in Israels Zeltstädten. Sie erklären die Grundgedanken des Programms und vermitteln Hoffnung.
„Die Wirtschaft von Morgen“ hat viele Gemeinsamkeiten mit existierenden sozialdemokratischen Vorschlägen. Das Programm fordert staatliche Interventionen zu Förderung des öffentlichen Wohnungsbaus, Anhebung des Mindestlohns und Erhöhung der Körperschaftssteuer. Doch es unterscheidet sich in der Erkenntnis, dass Israels Wirtschaftspolitik nur stabil bleiben kann, wenn die Abhängigkeit der Produktion von begrenzten natürlichen Ressourcen anerkannt wird. Die wirtschaftliche Entwicklung darf die ökologischen Ressourcen, die öffentliche Gesundheit und die Landschaft dieses kleinen und Heiligen Landes nicht untergraben. Dem Programm stützt sich auf die Auffassung, dass herkömmliche wirtschaftliche Indikatoren grundlegende Mängel aufweisen. Statt menschliches Wohlbefinden und Gemeinwohl zu messen, lassen die derzeitigen Kriterien von Bruttoinlandsprodukt und scheinbarem Erfolg keinerlei Raum für Werte wie Gerechtigkeit, Lebens- und Umweltqualität. Für grüne Parteien in anderen Teilen der Welt ist dies kaum etwas Neues. Doch dies ist das erste Mal, dass eine israelische Partei ein derartiges Papier inmitten einer nationalen Debatte auf den Tisch legt.
Eine Kurzfassung des Programms wird auf einer eigenen Webseite präsentiert. Selbstverständlich wird eine Änderung der Steuerstruktur gefordert, um „positive“ Aktivitäten wie Arbeit zu belohnen und „negative“ Aktivitäten wie Luftverschmutzung, Emissionen von Treibhausgasen oder die Nutzung von privaten Autos in großen Städten zu sanktionieren. „Die Wirtschaft von Morgen“ fordert eine Revolution der israelischen Energieversorgung: Heute wird weniger als ein Prozent des Stroms aus Sonnenenergie und erneuerbaren Energiequellen erzeugt, trotz der Fülle von Unternehmen die sich mit Sonnenenergie und Solartechnologie befassen. Wenn Israel die Potentiale der Sonne nutzen würde, könnte es das erste klimaneutrale Land der Welt werden. Sauberen Technologien wird ein enormes wirtschaftliches Potential zugesprochen, das nicht länger von staatlichen Fördermaßnahmen ignoriert, sondern unterstützt werden sollte. Das Programm fordert mit Nachdruck erschwingliche Wohnmöglichkeiten, sofern diese nicht auf sensiblen Freiflächen errichtet werden. Als weitere Voraussetzung muss öffentlicher Wohnungsbau grünen Bauanforderungen entsprechen, die sicherstellen, dass zukünftige Bewohner ihre Stromrechnungen auch bezahlen können.
Diese grüne Vision wird Israel nicht über Nacht überzeugen, jedoch bleiben noch zwei Jahre bis zur nächsten Parlamentswahl. Die israelische Öffentlichkeit ist offen für etwas Neues – Etwas anderes als die alte, muffige sozialistische Wirtschaft, die individuelle Initiative in den ersten dreißig Jahren des israelischen Staates unterdrückte. Die Israelis suchen eine wirtschaftliche Strategie mit Herz – und einer Vision für die Zukunft. Es gibt einen Grund für Optimismus. Ein Wendepunkt der aktuellen Proteste ereignete sich, als Ministerpräsident Netanjahu im Eiltempo Gesetzesänderungen durchsetzte, die Israels gelobtes Planungssystem für Wohnungsbau umgehen und stattdessen in die Hände schlanker Ausschüsse legte, die von staatlichen Stellen dominiert werden und Vertreter/innen der Öffentlichkeit außen vor lassen. Seine einfache Devise lautete: „Mehr Angebot – niedrigere Wohnkosten.“
Doch die Demonstrant/innen glaubten ihm nicht. In ihren täglichen Diskussionen mit Akademiker/innen und Expert/innen von sozialen und umweltpolitischen NGOs verstanden sie, dass das neue System ohne begleitende Kriterien nur dazu dient, auf bisher geschützten Landstrichen Einfamilienhäuser und große Wohnungen für wohlhabendere Schichten der israelischen Gesellschaft zu bauen. (In Israel sind Immobilien in einem zunehmend unsicheren internationalen Wirtschaftsklima noch immer eine vielversprechende Investition.) Sie haben auch verstanden, dass Beteiligung der Öffentlichkeit, Transparenz und Umweltverträglichkeitsprüfungen essentiell sind, um die Nachhaltigkeit der zukünftigen Entwicklung des Landes zu gewährleisten. Also protestierten sie lautstark gegen das neue Gesetz. Auch, wenn sie noch nicht alle Details kennen, spüren sie intuitiv, dass es einen anderen Weg gibt, um die sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen Israels zu lösen. Einen „Green New Deal“- der Wirtschaft von morgen.
Alon Tal und Racheli Tedhar Kener sind Ko-Vorsitzende des Green Movement in Israel.
Dieser Artikel erschien zunächst auf der Webseite unseres Büros in Tel Aviv.