Seit langem gibt es in Deutschland weniger soziale Mobilität als in anderen industrialisierten Ländern, weniger soziale Aufstiege und weniger Abstiege. Betrachten wir die langfristige Entwicklung genauer.
Die im Krieg oder unmittelbar danach in Deutschland Ost und West geborenen Generationen waren vergleichsweise mobil. Von den 1940 – 49 geborenen Männern konnten in Westdeutschland ca. 40 Prozent eine höhere Klassenposition erreichen als ihre Väter, während etwas weniger als 15 Prozent im Vergleich zu ihren Vätern abstiegen. In Ostdeutschland stiegen ebenfalls gut 40 Prozent auf, etwa 16 Prozent stiegen ab. Deutlich anders war die Situation von Frauen. In den alten Bundesländern konnten weniger als 30 Prozent der Frauen aufsteigen, fast genauso viele verschlechterten sich. Im Osten gelang ca. 40 Prozent der Frauen des Jahrgangs 1940 – 49 ein Aufstieg, ungefähr 25 Prozent stiegen ab.
Schauen wir uns nun die Situation 20 bis 30 Jahre später an, stellen wir fest, dass es im Westen eine deutliche Annäherung zwischen Männern und Frauen gegeben hat. Beide Geschlechter verzeichnen zu etwa 35 Prozent Statusgewinne im Vergleich zu ihren Eltern, die Abstiege liegen für Männer wie Frauen um jeweils 20 Prozent. Anders in den neuen Bundesländern: Hier finden sich mehr Aufstiege für Frauen als für Männer. So stiegen 28 Prozent der zwischen 1970 und 1978 geborenen Frauen in den neuen Bundesländern auf, bei den Männern sind es knapp 18 Prozent. Gleichzeitig stieg etwas weniger als ein Drittel der ostdeutschen Männer und Frauen sozial ab. All das zeigt, dass sich die soziale Mobilität für Männer und Frauen in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich entwickelt hat.
Für westdeutsche Männer haben sich die Aufstiegschancen geringfügig reduziert und die Abstiegsrisiken leicht erhöht. Für westdeutsche Frauen ist es dagegen klar aufwärtsgegangen. In den ostdeutschen Bundesländern sehen wir wiederum deutliche Verschlechterungen, die Aufstiegsmobilität geht insbesondere bei Männern rasant zurück. Ein sehr wichtiger Grund dafür sind die raschen Veränderungen des Arbeitsmarktes. Arbeitsplätze in der Industrie gingen und gehen weiterhin verloren, während der Dienstleistungsbereich stark expandiert. Allerdings zeigt sich auch, dass trotz dieser gravierenden Veränderungen der Grad der sozialen Vererbung von Eltern auf ihre Kinder in Deutschland nach wie vor hoch ist.
Warum bestimmt die Herkunft der Eltern so stark die Lebensperspektive der Kinder?
Die wesentliche Ursache ist die Bildung. Kinder aus bildungsnahen Schichten haben wesentlich bessere Möglichkeiten, selbst eine hohe Bildung zu erreichen als Kinder aus bildungsfernen Schichten. Dies gilt für Noten, Bildungsabschlüsse (Zertifikate) und kognitive Kompetenzen. Auch die Übertragung des sozialen Habitus von Eltern auf Kinder darf nicht unterschätzt werden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Wir setzen im internationalen Vergleich viel zu spät an, Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern an Bildung heranzuführen. Nur 15 Prozent der Kinder zwischen drei und fünf Jahren können in Westdeutschland Kindertagesstätten besuchen. Unsere Halbtagsschulen trennen Kinder meist im Alter von 10 Jahren. Wir verzichten auf sozialpädagogisch geschultes Personal und lehren noch immer im Klassenkontext, ohne die individuellen Bedürfnisse der Kinder ernst zu nehmen.
Die meisten anderen Länder zeigen uns, dass es auch anders geht. Die Bildungsarmut liegt dort deutlich niedriger, und die Vererbung von Bildung ist weitaus weniger ausgeprägt. Unsere Analysen belegen weiterhin, dass der stark auf Beruflichkeit ausgerichtete deutsche Arbeitsmarkt diesen Trend unterstützt. Eine Ausbildung, ganz gleich ob in einem Betrieb, in einer Schule oder Universität, soll stets auf einen bestimmten Beruf vorbereiten. Mit diesem Beruf, so zumindest die bisherige Praxis, bleibt der junge Mensch sehr lange verbunden. Im Umkehrschluss heißt dies, dass die Berufswahl in Deutschland eine größere Bedeutung hat als anderswo. Auch hierbei spielen die Eltern eine große Rolle. Sie prägen die beruflichen Wünsche und Vorstellungen ihrer Kinder mit dem Ergebnis, dass in Deutschland vergleichsweise viele Kinder später den Beruf ihrer Eltern ergreifen.
Was ist dran an den Ängsten der Mittelschichten vor dem gesellschaftlichen Abstieg?
Alle Indikatoren weisen in die gleiche Richtung: Der Abstand zwischen oben und unten ist größer geworden, der Armutssockel wird breiter. Noch lässt sich Deutschland insgesamt als eine «nivellierte Mittelstandsgesellschaft» beschreiben. Karl-Martin Bolte fasste dies in den 1970ern in das Bild einer Zwiebel: ganz unten und ganz oben wenige Menschen, in der Mitte sehr viele. Diese Zwiebel ist vor allem das Ergebnis von Einkommensdaten der amtlichen Statistik. Um den Zustand einer Gesellschaft besser zu beschreiben, bedarf es aber zusätzlicher Anhaltspunkte: Wie sehen die Deutschen die Verteilung von Arm und Reich insgesamt? Welches Bild haben sie von der Gesellschaft? Die meisten haben ein völlig anderes Bild im Kopf als die Zwiebel. Die Mehrheit sieht die Gesellschaft als Pyramide, Sinnbild für die schärfste Form sozialer Ungleichheit: Die breite Masse ist arm, und nur wenige besetzen die Spitze. Die Gesellschaft wird somit ungleicher erlebt, als sie wirklich ist. Diese Einschätzung teilen übrigens die Befragten, ganz unabhängig davon, wie es ihnen persönlich geht, ob sie in Lohn und Brot stehen, Arbeitslosengeld I oder Hartz-IV beziehen. Fragt man, wo sie sich selbst innerhalb der wahrgenommenen Pyramide einordnen, verflüchtigt sich das Bild des ganz schroffen Gegensatzes zwischen den ganz wenigen oben und den vielen unten. Die Mehrheit der Befragten positioniert sich nämlich selbst im mittleren Feld, fühlt sich also der Mittelschicht zugehörig. So ergibt sich insgesamt wieder das Bild der Mittelstandszwiebel – inmitten der Pyramide. Wie aber ist der Unterschied zwischen der Gesamtsicht und der Einordnung der eigenen Person zu erklären? Es kommt entscheidend darauf an, mit wem sich der Einzelne vergleicht.
Die Sozialpsychologen Leon Festinger (1954) sowie Henri Tajfel und John C. Turner (1979) formulierten, dass der Mensch versuche, bei sozialen Vergleichen immer positive soziale Identitäten oder eine «positive Distinktheit» herzustellen, nach dem Überlebensmotto: Es geht mir schlecht, aber vielen anderen geht es noch schlechter. Der Schutzmechanismus mittlerer Selbsteinordnung könnte ein Faktor sein, der die Unzufriedenheit dämpft. Ein anderer Selbstschutz deutet sich an, wenn man prüft, wo die Befragten eine Linie ziehen, unterhalb derer aus ihrer Sicht Armut beginnt. 70 Prozent der Hartz-IV-Bezieher zeichnen ihre subjektive Armutslinie oberhalb der eigenen Position. Sie betrachten also wesentlich mehr Menschen als arm, als es die Erwerbstätigen und die, die noch nicht lange arbeitslos sind, tun. Diese zuletzt genannten Gruppen ziehen die Linie tiefer, für sie gibt es in der Gesellschaft weniger Arme. Entscheidend ist dabei, dass es gruppenspezifische Armutslinien gibt. Das heißt nicht nur, dass diese Wahrnehmungen der sozialen Realität an den sozialstatistisch festgelegten Armutsdefinitionen vorbeigehen, sie lassen auch ahnen, wie uneinheitlich die soziale Wirklichkeit gesehen wird.
Die «tiefgreifenden soziologischen Differenzen», wie sie Georg Simmel in seiner Soziologie der Armut 1908 umriss, können auch als Schutzmechanismus gesehen werden: Jeder fügt sich sein eigenes Bild von Gesellschaft zusammen, und so entstehen keine einheitlich empfundenen Abgrenzungen, kein Ziel für alle, kein Gegner, von dem sich die große Mehrheit absetzen oder den sie entmachten will. So formt sich keine revolutionäre Masse. Karl Marx dürfte sich nicht bestätigt sehen, Simmel dagegen sehr wohl. Diese Ergebnisse wären ohne staatliche Transfers nicht möglich, nicht ohne den Sockel von Hartz-IV, nicht ohne das Sozialgeld. Der Staat schützt vor absoluter Armut, er befriedet. Gleichermaßen wird hier deutlich, dass finanzielle Transfers aus einer subjektiv empfundenen Armut eben nicht herausführen. Man kann in Armut überleben. Umso wichtiger ist es, die Menschen zu befähigen, Armut auch subjektiv zu überwinden, ihnen Fähigkeiten (capabilities) zu übertragen, wie es die Rechtsphilosophin Martha Nussbaum und der Ökonom Amartya Sen ausdrücken. Hier sprechen wir dann insbesondere von Bildung, Ausbildung und Weiterbildung, den klassischen Antriebskräften sozialer Mobilität. Das formt das Protestpotenzial in ein Innovationspotenzial und dann in Innovation um, es macht aus einer eher starren und ruhigen Gesellschaft, eine beweglichere, für die Zukunft offenere – und besser gewappnete.
Hinweis: Die Studie «Kaum Bewegung, viel Ungleichheit. Eine Studie zum sozialen Auf- und Abstieg in Deutschland», verfasst von Reinhard Pollak (WZB), erscheint im Herbst 2010 in der Schriftenreihe der Heinrich-Böll-Stiftung.