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Griechenland als globale Krise

Illustration: Designinsane - dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

19. Mai 2010
Joscha Schmierer
Von Joscha Schmierer

Wenn sich der Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Krugman genötigt sieht, in seiner Kolumne in der New York Times energisch zu unterstreichen, „We’re not Greece“ , muss einiges durcheinander gekommen sein. Zunächst schlägt Paul Krugmann nur eine innenpolitische Schlacht. Überall, wo man hinschaue, stoße man auf Editorials und Kommentare, die sich gelegentlich auch als Berichterstattung tarnten und allesamt behaupteten, das Griechenland von heute könne das Amerika von morgen sein, wenn letzteres nicht aufhöre mit dem ganzen Unsinn, sich um die zu kümmern, die es nötig haben.


Argumente in einem unsinnigen Vergleich

Dass das Griechenland von heute die USA von morgen sein könnten, würde wahrscheinlich keinem Griechen einfallen. Wenn die Griechen auf der Straße sind, fühlen sie sich als Opfer der Deutschen, des IWF und damit - wie sie es sehen - der USA, denen die Deutschen letztlich zuarbeiten.  Das Werkzeug und Ausbeutungsinstrument der USA ist in dieser Sicht der IWF schon immer gewesen. Der Widerstand ist schließlich links. Seine Basis hat er im öffentlichen Dienst, einem Zentrum der griechischen Defizitproduktion. Ohne dessen Reform wird sich in Griechenland gar nichts ändern. 

Viele Griechen hätten freilich nichts dagegen, wenn Griechenland die USA nicht erst von morgen, sondern schon von heute wären. Dann schiene alles halb so schlimm - trotz all der auch in Griechenland bekannten Desaster zwischen mexikanischem Golf, Washington und Wall Street. Die meisten Griechen wissen wohl, dass sie mit ihren Schwierigkeiten ganz auf der Höhe der globalisierten Zeiten, ihren Möglichkeiten nach, diesen zu begegnen, aber von vorgestern sind. Die Schwierigkeiten sind global, die Möglichkeiten mit ihnen umzugehen, sind griechisch, lustig vielleicht, wie die Bildzeitung meint, aber begrenzt, wie man niemanden in Griechenland erzählen muss. Der Staat in der Hand von Familienclans, lang eingeübte Formen des Umgangs mit wirtschaftlichen Engpässen, helfen zwar immer noch vielen, aber eben keiner Gesellschaft im Großen und Ganzen, die mit der globalisierten Welt zurecht kommen muss.

Innenpolitisch interessiert Krugman tatsächlich vor allem der absurde Vergleich zwischen den USA und Griechenland. Die Argumente, die er glaubt, in diesem Zusammenhang aufhäufen zu müssen, zeigen wie sehr sozialliberale Positionen in den USA inzwischen wieder unter Druck sind: Die USA seien trotz aller Belastungen in einem besseren Zustand gewesen als Griechenland, als sie in die Krise gerieten. Wichtiger sei aber, dass die USA sich eindeutig auf dem Weg der ökonomischen Erholung befänden, Griechenland aber nicht. Wer käme in Europa auf die Idee, das zu bestreiten? Krugman kämpft gegen eine Sparpropaganda in den USA, die sich auf das griechische Menetekel beruft und auf das Soziale zielt. In diesem Kampf kann man Krugman die Daumen halten.


Ist der Euro schuld?

Aber Krugman ist auch theoretisch interessiert und so kommt er auf die Haltbarkeit des Euro zurück, den er immer schon für eine Fehl- zumindest aber für eine Frühgeburt hielt. Da kann er dann nicht die USA und Griechenland vergleichen. Hier zieht er das in großen Zahlungsschwierigkeiten steckende Kalifornien heran, um zu zeigen wie prekär im Vergleich mit dem Mitglied der Vereinigten Staaten die Lage Griechenlands als Teil der Eurozone ist. Wenn er so vergleicht, kann er den Unterschied nicht zwischen Kalifornien und Griechenland, einem reichen US-Staat und einem armen EU-Mitglied finden. Schließlich hat Kalifornien auch keine Möglichkeit, seine Währung abzuwerten, was normalerweise als der entscheidende Nachteil angesehen wird, den sich wirtschaftlich schwächere Länder mit ihrem Beitritt zur Eurozone einhandeln. Der Unterschied liegt demnach zwischen den USA und Euroland als einheitlichen Währungsgebieten.

Wie wahr, möchte man Schulter zuckend einräumen. Die USA sind schließlich trotz ihres Namens längst zu einem Staat zusammen gewachsen. Um die Einheit zu sichern und zu festigen, nahmen die Föderierten des Nordens einen blutigen Bürgerkrieg gegen die Konföderierten im Süden in Kauf. Die EU dagegen ist kein Staat. Auch die Währungsunion bleibt Vertragssache zwischen formell souveränen Staaten. Krugmanns Feststellung, der EU fehle vor allem eine zentrale Regierung, ist daher kaum überraschend. Die Frage bleibt, ob das die Währungsunion und den Euro zur Falle macht, wie Krugman in einer anderen Kolumne schon in der Überschrift behauptet. Wegen des Fehlens einer zentralen Regierung falle der Vergleich von Kalifornien und Griechenland daher trotz ähnlicher Schuldenprobleme ganz zu Ungunsten Griechenlands aus. Viel Geld, das in Kalifornien ausgegeben werde, komme von Washington. Eine entsprechende Sicherung Griechenlands durch die EU gäbe es nicht. Auch im Falle einer Insolvenz fließe das Geld aus Washington weiter nach Kalifornien.


In der Geschichte liegt der Unterschied

Der entscheidende Unterschied liegt doch nicht darin, dass Gelder aus Washington fließen und aus Brüssel nicht, sondern in den viel besseren Bedingungen Kaliforniens sich aus eigener Kraft aus seiner schwierigen Lage heraus zu arbeiten, wenn es die dazu notwendigen politischen Schritte unternimmt. Wenn Griechenland in einer Falle steckt, dann besteht sie in der eigenen Geschichte. Sie hätte es eigentlich für längere Zeit noch ausschließen müssen, Mitglied der Währungsunion zu werden. Griechenland nahm den Euro aber als Chance war, weiter zu machen wie schon immer. Die EU insgesamt wie die anderen Mitglieder der Eurozone trösteten sich damit, dass ein so kleines Land mit seinem minimalen Anteil am addierten Bruttosozialprodukt selbst dann keine großen Schwierigkeiten bereiten könne, wenn es selbst in große Schwierigkeiten geriete. Das war ein Trugschluss. Dummerweise fielen die ersten Jahre des Euro in Zeiten leichten Geldes. Auf Kredit zu bauen, schien kein Problem. Und die Mitgliedschaft in der Währungsunion verschaffte Ländern wie Griechenland über Jahre hinweg Kreditkonditionen, von denen sie zuvor allenfalls träumen konnten. Diese günstigen Bedingungen konnte man nutzen, um hoch zu verzinsende Kredite durch langfristige Kredite mit niedrigeren Zinsen abzulösen. Das hat zum Beispiel Italien teilweise gemacht. Oder man konnte einfach die Gelegenheit ergreifen, auf alte Kredite umso leichtsinniger neue drauf zu packen. Von einer nachhaltigen Finanzpolitik konnte dann keine Rede sein. Und so kamen die Zeiten, in denen Kredite mit günstigen Bedingungen bedient und ersetzt werden mussten durch Kredite, die immer ungünstiger wurden. 


Skidelskys Leseempfehlungen


Nach den Wahlen in Großbritannien stellte Robert Skidelsky, jetzt einer größeren Öffentlichkeit durch seine Keynes-Biographie bekannt geworden, eine kleine Liste von Büchern zusammen, die er der neuen Regierung in London zur Lektüre empfahl (Guardian 7.5.10) . Neben Tony Judts Ill Fares the Land (noch nicht übersetzt), waren das Nouriel Roubinis Crises Economics (jetzt auf Deutsch bei Campus), James Montiers The Little Book of Behavioral Investing (nicht übersetzt) und Carmen Reinharts und Kenneth Rogoffs This Time is different, ein „wundervolles Buch“, in das sich „Staatsleute, die sich für Finanzen und Wahnsinn interessieren“, vertiefen sollten. Das Fazit von Reinhart und Rogoff, dass es außerordentlich schwer falle, wenn Ökonomien erst einmal abgestürzt seien, aus dem Loch wieder herauszukommen, untermauere Judts und Roubinis Lektion, dass es letztlich günstiger sei, ein gemischtes System von Staat und Markt zu haben, statt allein sein Vertrauen in den Markt zu setzen. Nebenher zeigt Skidelsky sich fasziniert von einer Schautafel bei Reinhart/Rogoff (S. 90 der englischen Ausgabe),  aus der hervorgeht, dass sich Griechenland seit seiner Unabhängigkeit schon im 19. Jahrhundert viermal damit herumschlagen musste, seine Staatsschulden im Ausland nicht bedienen zu können.
Benn Steil, Director of International Economics beim Council on Foreign Relations in Washington meint unter Verweis auf die griechische Geschichte, dass die „Unabhängigkeit“, die jetzt wieder von einigen Kommentatoren gepriesen und mit einer Rückkehr zur  Drachme Griechenland in Aussicht gestellt werde, eine Schimäre sei . „In Griechenlands Fall hat sie nie existiert.“ Im 19. Jahrhundert stand Griechenland fast ständig unter der Kontrolle ausländischer Geldgeber. Als Gewährsmann dafür, dass die auch die Abwertungen von 1983 und 1985 nichts als weiteren unhaltbaren Lohnanstieg und Inflation gebracht hätten, verweist er auf den Chef der griechischen Zentralbank. Das doppelte Defizit im Haushalt und in der Leistungsbilanz blieb und „führte zu einem Island ähnlichen Währungszerfall, dem nur mit strikten Kapitalkontrollen begegnet werden konnte.“ Außerdem seien Ende 2000, kurz bevor Griechenland der Eurozone beitrat, 79 % seiner Schulden bereits in Euros notiert gewesen und nur 8 % in Drachmen. „Macht nicht den Euro für Griechenlands Schmerzen verantwortlich“, folgert Benn Steil.


Sich der Geschichte stellen

Mit dem Problem einer exzessiven Auslandsverschuldung schlug sich Griechenland schon seit dem frühen 19. Jahrhundert herum. Der Euro hat die Auslandsverschuldung kurzfristig noch einmal erleichtert. Jetzt ist die Scheinlösung von Abwertung und Inflation durch eben diesen Euro verbaut. Griechenland steht vor der Aufgabe sich nicht nur seinen Schulden, sondern auch seiner Schuldengeschichte zu stellen.

Es gibt ein „tua res agitur“ im griechischen Casus, aber nicht im Sinne von Krugman, der von aller Geschichte abstrahiert. Mit den griechischen Schuldenexzessen trifft die spezifisch griechische Geschichte ziemlich unverarbeitet auf die Entwicklung des modernen Europa und der globalisierten Welt. Es geht dabei um Demokratie, um Verantwortlichkeit und Rechenschaft des Staates gegenüber der Gesellschaft und den Vertragspartnern und wie auch der Gesellschaft gegenüber dem Staat. Um es in EU-Kauderwelsch zu sagen: Es geht um die Durchsetzung der Kopenhagener (Beitritts-)Kriterien in einem Land, das nach Ende der Militärdiktatur nie ernsthaft an ihnen gemessen wurde.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist umso dringlicher, weil Griechenland sie mit anderen Mitgliedsstaaten oder Beitritt suchenden Staaten teilt, die in den gleichen Schwierigkeiten stecken. Es geht um die Schwierigkeiten von Ländern, deren orthodoxe Tradition über die Jahrhunderte im Osmanischen Reich durch gesellschaftliche Segregation konserviert wurde, während die politische Herrschaft selbst die Züge von Fremdherrschaft trug. Daraus entsprang eine spezifische Feindschaft zwischen religiöser und familiärer Gemeinschaft und staatlicher Bürokratie, die auch nach der Unabhängigkeit weiterhin das Verhältnis von Staat und Gesellschaft prägte. Aufgepfropfte westeuropäische Dynastien und die Einflussnahme der Großmächte befestigten den Zustand.

Vergleichbares gibt es in Westeuropa allenfalls in Teilen Italiens, die über Jahrhunderte unter spanischer und bourbonischer Fremdherrschaft standen und heute die Kerngebiete der Mafia bilden. Überall ist eine solche Prägung Nährboden für Korruption und Vetternwirtschaft. Die Abschirmung gegen die Staatsmacht fördert Steuerhinterziehung als Volksvergnügen, an dem die Lohnabhängigen in regulären Arbeitsverhältnissen allerdings nicht teilhaben. Unter solchen Bedingungen der Intransparenz der politischen Verhältnisse und der routinemäßigen Staatsfeindschaft bleibt wiederum der Regierung, auch wenn es eine linke ist, im Falle der Staatssanierung nicht viel anderes als auf die Einkommen zuzugreifen, von denen sie weiß. Das sind nicht die der Reichen, sondern die Einkommen, die bereits besteuert werden und deren Empfänger sich bereits vor der Sanierung betrogen vorkommen. Dilettantische Zugriffe der Staatsmacht schüren ein wachsendes Gefühl der Ungerechtigkeit und häufen sozialen Sprengstoff auf. Ein Teufelskreis steckt hinter der Serie von Verschuldungsorgien, die ihm zu entkommen versuchen.

In den Ländern, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Sowjetherrschaft unterwarf, wurde auf das osmanische Erbe noch einmal zaristisches Erbe draufgesattelt. Das blieb Griechenland erspart. Dafür wurde die Clanherrschaft im Kalten Krieg nicht nur duldend in Kauf genommen, sondern gefördert. Diesen Teilabschnitt seiner Geschichte teilt Griechenland mit der Türkei. Womöglich aber hat die Türkei das osmanische Erbe mehr abgestoßen als die Staaten, in denen mit der Unabhängigkeit das orthodox gemeinschaftlich eingeübte feindselige Verhältnis zum Staat sich nur unter nationalistischem Firnis versteckte.


Gibt es eine allgemeine Entwicklungstendenz?

Der Historiker Walter Russell Mead sieht ein anderes „tua res agitur“ als der Ökonom Krugmann. Nach einem kurzen Überblick über die Geschichte Griechenlands meint er, was immer passiere, man müsse daran denken, dass Griechenlands Probleme nicht einzigartig sind und der Zusammenstoß zwischen denen, die die Welt, die der Kapitalismus geschaffen hat, lieben, und jenen, die sie hassen, nicht vorbei ist: „Die globale kapitalistische Revolution bietet die beste und wie ich glaube, einzige Hoffnung auf eine Überwindung von Armut, für die Entfaltung der Menschenrechte und einen weltweiten Schutz der Umwelt. Wie alle großen revolutionären Bewegungen schafft sie auch Spaltungen, Ungleichheiten und Widerstand. Revolten gegen das liberale kapitalistische Weltsystem – Faschismus und Kommunismus vor allem – formten die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und verursachten in größtem Ausmaß Elend und Schmerz, ehe sie besiegt wurden.“ Die „griechische Tragödie“ biete Gelegenheit, die Kräfte zu untersuchen, die in der Welt am Werk sind, und über die menschlichen Dilemmata und Schwierigkeiten nachzudenken, die zu sozialer und wirtschaftlicher Zwietracht führen. Vielleicht fänden sich Wege, wie die kapitalistische Revolution „ein bisschen leichter von denen ertragen werden kann, die von ihr erfasst werden und den Eindruck haben, dass ihre Leben durch verborgene feindliche und unmoralische Hände durcheinander gewirbelt werden.“ Das klingt nach kommunistischem Manifest ohne kommunistischen Ausweg. Die Geschichte bleibt auf dem Marsch. 
 
Aber zeigt die „griechische Tragödie“ nicht vor allem, wie eine besondere Geschichte durch den globalen Kapitalismus gezaust wird und wie sie umgekehrt die allgemeine Entwicklung ganz gewaltig aufwühlen kann? Gibt es überhaupt eine allgemeine Entwicklung oder nur das Aufeinanderprallen besonderer Geschichten? Die USA könnten im Ölschlamm ersticken, die EU kann zerbrechen und die Globalisierung könnte ein Zwischenspiel bleiben. Bis in die Wortwahl hinein ist ein vorsichtiger Umgang mit einer rundum fragilen Welt angebracht. Nur zum Beispiel: Noch gibt es keinen „freien Fall“ des Euro, von dem dennoch Tag für Tag in den Nachrichten die Rede ist, wenn der Euro sich ein bisschen mehr dem Verhältnis 1,2 : 1,0 annähert, das Ökonomen für fair halten. Wahrscheinlich braucht es viel Übung und etwas Zeit bis ständiges und gut vernetztes Geplapper eher Schulterzucken als Panik hervorruft.

 

Joscha Schmierer

Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.

 

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