Die menschliche Dimension der Tragödie

25. August 2008
Von Alexander Tscherkassow
Von Alexander Tscherkassow

Ein Überfluss an Allgemeinen Informationen bei gleichzeitigem Fehlen von Details und relevanten Einzelheiten – das ist wohl das Hauptmerkmal des Informationsbildes der vergangenen Woche. Journalisten und Politikern – allen war es „sofort und alles“ klar, was in Südossetien vor sich geht. Doch war dieses Gesamtbild wohl eher „wie aus einem Guss“ gezeichnet und setzte sich nicht  - wie bei einem Mosaik – aus den einzelnen Ereignissen und Meldungen des Kriegs zusammen. Bereits am ersten Tag wurden Zahlen der Todesopfer unter der Bevölkerung von Zchinwali bekanntgegeben: 1.400, 1.600, 2.000....

Durchsetzung der verfassungsmäßigen Ordnung

Den Bürgern der Russischen Föderation kamen diese Zahlen keineswegs unglaublich vor. Schließlich hatte Georgien ja die „Durchsetzung der verfassungsmäßigen Ordnung“ in der abtrünnigen autonomen Region verkündet – und genauso war der erste Tschetschenienkrieg bezeichnet worden. In Russland hat man noch das dem Erdboden gleichgemachte Grosnyj in Erinnerung. Grosnyi - eine Stadt von einst 400.000 Einwohnern, in der im Winter 1994/95 zwischen 25.000 und 29.000 Einwohnern umkamen. Zchinwali ist um Einiges kleiner, so dass Opferzahlen im Tausenderbereich nicht unwahrscheinlich erschienen.

Die Angaben zu den Opferzahlen in Tschetschenien basierten seinerzeit auf einer von Memorial durchgeführten Befragung tausender Flüchtlinge, von denen jeder Nachbarn, Verwandte verschiedener Grade oder Bekannte nennen konnte, die zu Tode gekommen waren – mit Namen und den Todesumständen. In den ersten Monaten des zweiten Tschetschenienkrieges sammelte dann Human Rights Watch Angaben über rund 1.300 getötete Einwohner der Republik, die nach Einschätzung der Organisation zwischen einem Achtel und einem Fünftel der Gesamtopferzahl ausmachten.

Mysteriöse Opferzahlen

In den Flüchtlingslagern stießen nun die Mitarbeiter von Human Rights Watch auf den Umstand, dass die Flüchtlinge aus Südossetien beispielsweise erzählten, es lägen Leichen der Opfer in den Straßen. Des Weiteren stellte sich heraus, dass sie diese Toten nicht selbst gesehen hatten und nicht sagen konnten, wer von ihren Bekannten zu Tode gekommen war und so auf der Straße lag, sondern dass sie durch andere Flüchtlinge von den Leichen erfahren hatten. Als die Leute dann gefragt wurden, wie viel Einwohner von Zchinwali insgesamt umgekommen sind, wiederholten sie das, was sie soeben im Fernsehen erfahren hatten: „1.400, 1.600, 2.000...“

Genau dasselbe bekamen die Mitarbeiter von Human Rights Watch gestern tausendfach auf den Straßen von Zchinwali zu hören. Nur einige „Silowiki“, Mitarbeiter der Militär- und Sicherheitsapparate, zuckten lediglich mit den Schultern: „Woher sollen wir das denn wissen? Wer hat denn überhaupt gezählt?“

Die traurigste aller Opferstatistiken

Es gab aber jemanden, der gezählt hat – die Ärzte des Krankenhauses in Zchinwali – und mit denen die Mitarbeiter von Human Rights Watch gesprochen haben. Alle Verwundeten seien dort eingeliefert worden, es ist schließlich auch der einzige Ort zur Versorgung der Opfer. Auch die Getöteten – fast alle - seien dorthin verbracht worden, versicherten die Ärzte beharrlich.

Im Winter 1991, während des ersten Krieges in Südossetien, bin ich in diesem Krankenhaus gewesen. Zchinwali ist eine kleine Stadt und dorthin wurden nicht nur die Verwundeten aus der Stadt, sondern auch die aus den Dörfern gebracht. In jenem letzten Krieg war das Krankenhausgebäude durch den Beschuss schwer beschädigt worden, so dass die Ärzte die Geräte und Betten in den Keller geschleppt haben, wo sie unter fürchterlichsten Bedingungen ihre Pflicht taten und versuchten, das Leben der Verwundeten zu retten.

Verbrechen außerhalb der Statistik

Ein nicht lenkbares Geschoss eines Mehrfachraketenwerfers vom Typ Grad (dt.: Hagel, Anm. des Übersetzers) hat diesmal das Krankenhaus getroffen, aber auch Wohngebiete in der Umgebung haben schwer gelitten. So haben die Mitarbeiter von Human Rights Watch sowohl die für den Grad typischen Schäden als auch Teile der nicht lenkbaren Raketen gefunden. Mehrfachraketenwerfer können jedoch nicht zielgenau schießen: Ihr Einsatz gegen eine Stadt verletzt die Normen humanitären Rechts. Offenkundig wurde darüber hinaus auch gezielt auf Menschen geschossen. Auch wurden Belege gefunden, dass georgische Panzer Keller, in denen die Zivilbevölkerung Zuflucht gesucht hatte, aus kurzer Distanz unter Beschuss genommen haben.

Die Ärzte des Krankenhauses versichern, dass während der Tage, an denen die Kämpfe stattfanden, insgesamt 273 Verwundete eingeliefert wurden, meist unmittelbare Opfer der Kämpfe. Hinzu kommen die Leichen von 44 zivilen Todesopfern – Einheimischen, Osseten, so die nachdrücklichen Angaben der Ärzte zu den Opfern aus aus Zchinwali. Die Leichen der gefallenen georgischen Soldaten lagen bis zum Abend des 13. in den Straßen. Erst am 14. wurden sie in Säcke gepackt. Die Staatsanwaltschaft, so wurde behauptet, werde sich „um sie kümmern“.

Die ersten realistischen Opferzahlen

So erhalten wir also die ersten Zahlen: 44 Todesopfer unter der Bevölkerung Zchinwalis. Darüber hinaus sind einige jener Verwundeten gestorben, die in die Spitäler im nordossetischen Dshawi weiter verlegt worden waren (die Zahl der dortigen Einlieferungen stimmt mit den in Zchinwali genannten Ziffern überein). Zudem gab es Todesopfer, die nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern direkt in der Stadt begraben wurden, ihre Zahl ist jedoch geringer. Und es hat in den Dörfern Tote gegeben.

Aus der Summe ergibt sich nun die Gesamtzahl der Todesopfer: Sie beträgt schlimmstenfalls ein Mehrfaches der von den Ärzten genannten Zahl, jedoch nicht das Zehn-, Zwanzig- oder Dreißigfache.

Außer den Informationen der Ärzte hat es jedoch schlicht und einfach keine Angaben geben können, auf denen Erklärungen offizieller Vertreter über die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung hätten beruhen können. Zu Friedenszeiten gibt es die Statistik des Innenministeriums, doch wird die Miliz während der Kämpfe wohl kaum ihren regulären Dienst versehen haben... Manchmal machen Behörden Angaben auf Grund von Informationen, die sie über Ärzte und Rettungsdienste erhalten haben. Auf eben diese Weise stieg am Morgen des 26. Oktober 2002 – peu à peu – die „offizielle“ Zahl der Opfer nach der Geiselnahme während des Musicals „Nord-Ost“, nach dem Motto: „Was die Rettungskräfte an Leichen heraustragen, was die Ärzte an Toden feststellen, das wird dann als Opferzahl bekannt gegeben.“

Diesmal jedoch wurden sofort hohe Zahlen genannt, von denen nicht bekannt war, worauf sie beruhen. Aber warum werden uns immer noch keine Quellen genannt?

Schließlich waren es eben jene hohen Opferzahlen aus Zchinwali, auf denen der Einmarsch russischer Einheiten auf georgisches Territorium und dessen Bezeichnung als „Operation zur Erzwingung des Friedens“ beruhte. Es ist also an der Zeit, die Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit dieser Operation zu hinterfragen. Das wäre ein weiteres, großes Thema.

Ursachenforschung

Wenden wir uns aber anderen Fragen zu: Wie lässt es sich erklären, dass es in Zchinwali nicht zu diesen Tausenden von Toten gekommen ist? Wenn wir uns wieder um die Analogie zu Grosnyj bemühen, so steht fest, dass das Vorgehen der georgischen Einheiten nicht an den Sturm auf die tschetschenischen Hauptstadt zu Silvester 1994 erinnert, sondern vielmehr an den gescheiterten Angriff auf Grosnyj am 26. November 1994. Und um bei Südossetien zu bleiben: Dieser Angriff ist wohl mit den Aktionen der georgischen Einheiten im Januar 1991 vergleichbar. Er hatte schlichtweg nicht das russische Kaliber.

Darüber hinaus hatten es die meisten Bewohner Zchinwalis geschafft, die Stadt rechtzeitig zu verlassen. Um zweitausend der dort Zurückgebliebenen zu töten, hätte man die Stadt im wahrsten Sinne des Wortes dem Erdboden gleichmachen müssen.

Es ist eben Russland – das wieder auf die Beine gekommen ist – das sich mit Opferzahlen im Tausenderbereich im Gedächtnis eingeprägt hat.

Es sind Menschen, die dahingehen, mit allen Details und Einzelheiten, die in der Berichterstattung oft fehlen. Es sind die Angaben von Human Rights Watch, die uns zurück zur menschlichen Dimension des Leids führen. Für das kleine Südossetien, für das ossetische Volk, das in den letzten Jahren viel Leid erfahren hat, bedeutet jeder Tote eine Tragödie. Und wieder wird in Ossetien um Tote getrauert. Mögen sie in ewiger Erinnerung bleiben.


Alexander Tscherkassow
ist Mitarbeiter im Menschenrechtszentrum Memorial in Moskau.
Der Originaltext ist zunächst in der unabhängigen Internetzeitung Polit.Ru erschienen.

Übersetzung: Hartmut Schröder

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