Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Demokratische Werte und europäische Interessen als Leitlinien einer aktiven Außenpolitik

Lesedauer: 7 Minuten

11. September 2008
Ralf Fücks
Ralf Fücks

11. September 2008
(Es gilt das gesprochene Wort)

Es scheint unendlich lange her, seit der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama Anfang der 90er Jahre die berühmte These vom  „Ende der Geschichte“ verkündete: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Ost-West-Konflikts sei das Zeitalter antagonistischer Konflikte in der internationalen Politik vorbei; die Prinzipien des Liberalismus hätten gesiegt und die Kombination von Demokratie und Marktwirtschaft werde zum universalen Modell.

Dann kamen die Balkan-Kriege, der Genozid in Ruanda und – auf den Tag genau heute vor sieben Jahren – die Attacken auf New York und Washington. Es folgten der Afghanistan-Krieg und die Invasion im Irak, der Aufstieg der Schwellenländer und die Rückkehr Chinas auf die weltpolitische Bühne, begleitet von einem immer selbstbewusster auftretenden Indien.

Auch Russland ist im Gefolge des Rohstoffbooms und der Wiedererrichtung eines autoritären Staates in seine Rolle als Großmacht zurückgekehrt. Der Georgien-Krieg war auch eine Botschaft an die Welt, dass „mit Russland wieder zu rechnen ist“, wie Medwedew kürzlich sagte, und er war eine Drohgebärde gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken, es mit ihrer Unabhängigkeit nicht zu weit zu treiben.

Mit dem „Ende der Geschichte“ ist auch die These vom neuen „amerikanischen Zeitalter“ ins Altpapier gewandert, noch bevor diese neue Ära der Weltpolitik so richtig begonnen hatte. Die politische, militärische und moralische Autorität der Vereinigten Staaten ist vor allem durch ihr Irak-Abenteuer geschwächt. Die transatlantische Allianz hat ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt.

Demokratie und Menschenrechte - keineswegs unumstritten

Heute sieht die Welt nicht nach einem Zeitalter des ewigen Friedens auf der Basis eines liberalen Universalismus aus. Gesiegt hat mit wenigen Ausnahmen das marktwirtschaftliche Prinzip, weltweit adaptiert werden die Technologien, Kommunikationsmedien, Architektur, Lebensstile, Managementsysteme des Westens. Aber Demokratie und Menschenrechte sind keineswegs unumstritten – nicht einmal in unserer eigenen Hemisphäre. Ebenso umstritten ist das künftige Gefüge zwischen den neuen und alten Mächten. Und mit dem Klimawandel kündigt sich ein neuer Chaosfaktor an, der zu erheblichen Verwerfungen und Konflikten in der internationalen Arena führen wird.

In der akademischen und politischen Debatte konkurrieren heute gegensätzliche Entwürfe für die künftige internationale Ordnung. Man kann sie  grob in drei verschiedene Gruppen unterteilen:

Erstens das Konzept einer „multipolaren Ordnung“, die auf einem prekären Gleichgewicht rivalisierender Machtblöcke beruht, die wechselnde Bündnisse mit- und gegeneinander schließen. In der Regel werden die USA, China, Russland, die EU und Indien zu diesen künftigen Großmächten gezählt. Eine solche Ordnung wäre ausgesprochen anfällig für Konflikte um Einflusssphären und Ressourcen, flankiert von einem neuen Wettrüsten. Es ist die klassische Konstellation, die zum Ersten und Zweiten Weltkrieg geführt hat. 

Zweitens das Konzept eines „effektiven Multilateralismus“. Es erkennt den machtpolitischen Pluralismus des 21. Jahrhunderts an, versucht aber den Rückfall in eine Situation rivalisierender Großmächte zu vermeiden. Im Zentrum dieses Konzepts steht der Ausbau multilateraler Institutionen, Regelwerke und Kooperationen. Statt ihre Einflusssphären gegeneinander abzugrenzen, sollen die Staaten in eine Dynamik konstruktiver Interdependenz einbezogen werden. Eine reformierte UN und WTO sind tragende Säulen in diesem Konzept, ebenso ein alle relevanten Staaten einbeziehendes Klimaschutz-Regime.

Ein drittes Modell, das im Beraterkreis von John McCain gehandelt wird, definiert den Konflikt zwischen Demokratien und autoritären Staaten zur neuen entscheidenden Achse der Weltpolitik und propagiert eine erweiterte politisch-militärische „Allianz der Demokratien“. Es setzt das dichotomische Denken fort, das schon in den letzten Jahren die amerikanische Außenpolitik geprägt hat, wirft sehr verschiedene Regimes jeweils in den einen oder anderen Topf und riskiert eine neue Blockbildung, die auf die Frage „Wer besiegt wen?“ hinausläuft.

Herausforderungen für die außen- und sicherheitspolitische Praxis

In der außenpolitischen Praxis wird keines dieser Konzepte in Reinform zum Zuge kommen. Sie werden sich überlappen und in unterschiedlichen Mischformen auftreten. Es ist aber von weitreichender Bedeutung für die Konfliktdynamik der nächsten Jahrzehnte, welches dieser Konzepte sich sozusagen als „Basismodell“ durchsetzt, und es ist kein Geheimnis, dass wir als grüne politische Stiftung einen multilateralen und integrativen Ansatz vertreten.

Damit existiert freilich noch kein Patentrezept für die akuten außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen: Wie können wir eine neue Frontbildung zwischen Russland und dem Westen verhindern und zugleich die Integration der ehemaligen Sowjetrepubliken in die Gemeinschaft des Westens gewährleisten? Kann das iranische Nuklearprogramm gestoppt und der Iran in ein regionales Sicherheitssystem integriert werden? Wie kann Afghanistan politisch gefestigt und Pakistan vor einem Zerfall des Staates bewahrt werden? Wie gelingt eine langfristige Stabilisierung des Irak? Was kann die EU tun, um einen dauerhaften Nahost-Frieden  zu befördern? Wie kann die Proliferation von Massenvernichtungswaffen verhindert und die Abrüstungspolitik neu belebt werden? Können sich Industrie- und Entwicklungsländer auf die notwendigen Vereinbarungen zur Stabilisierung des Erdklimas verständigen?

Angesichts der strategischen und aktuellen Herausforderungen braucht Europa ein hohes Maß außenpolitischer Handlungsfähigkeit. Das verlangt nicht nur nach einer Stärkung der außenpolitischen Institutionen und Instrumente, wie sie im Lissabon-Vertrag vorgesehen sind, sondern nach einer „außenpolitischen Kultur“, wie sie zumindest für die Bundesrepublik noch ungewohnt ist. Die deutsche Politik war und ist immer noch stark binnenorientiert, um es milde zu sagen. Seit dem Fall der Mauer ist Deutschland aber in eine neue Rolle gerückt. Jetzt ist mehr an europäischer und internationaler Verantwortung gefordert, und das heißt auch: eine intensivere außenpolitische Debatte und ein geschärfter Sinn für die Weltpolitik.

Werte und Interessen als Leitbilder für die Außenpolitik

Dafür ist es elementar, eine klare Vorstellung von den Interessen und Werten zu entwickeln, die das außenpolitische Handeln der Bundesrepublik und Europas leiten sollen. In der deutschen Debatte werden Werte und Interessen immer wieder als Gegensätze zitiert. Für Verfechter einer wertorientierten Außenpolitik gelten  Interessen häufig als niedere Motive; für Befürworter einer interessegeleiteten Politik sind Werte ein schönes Ideal, das leider für Realpolitik nicht taugt. Beide Interpretationen sind einseitig und greifen zu kurz. Es kommt vielmehr darauf an, ein komplexeres Verständnis von „Interessen“ zu entwickeln, das nicht im Gegensatz zu einer wertorientierten Politik steht.

Die Bundesrepublik und Europa haben als Zivilmächte ein hochgradiges Interesse, dass das Völkerrecht nicht durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird – sei es im Irak oder in Georgien. Wer sich selbst über das Völkerrecht hinwegsetzt, kann es anderen gegenüber nicht glaubwürdig reklamieren. Eine internationale Ordnung, die auf den Prinzipien des Völkerrechts und der Wahrung der Menschenrechte beruht, dient sowohl dem Frieden wie den Interessen eines außenwirtschaftlich extrem exponierten Landes, das auf Rechtssicherheit, Vertragsfreiheit, freien Verkehr von Gütern und Informationen angewiesen ist. Demokratien führen in der Regel keine Kriege gegeneinander, und Korruption gedeiht in autokratischen Regimes sehr viel besser als in rechtsstaatlichen Verhältnissen.

Man sollte nicht den Fehler machen, Interessen lediglich als enge ökonomische Interessen zu fassen. Was die Interessen eines Landes sind, ist nicht ein für allemal vorgegeben, sondern schält sich erst im Prozess der politischen Auseinandersetzung heraus, in die auch Wertvorstellungen eingehen. Ohne Klarheit über die Leitwerte deutscher und europäischer Politik können Interessen nicht bestimmt werden, und nur wenn Werte als Teil wohl verstandener Interessen begriffen werden, taugen sie zu mehr als folgenlosen Sonntagsreden. Dabei geht es nicht um einen feststehenden Katalog von Prinzipien, die nur noch auf konkrete außenpolitische Fälle anzuwenden wären, sondern um einen Orientierungsrahmen für komplexe Entscheidungen, in denen  zwischen „richtig“ und „falsch“ gerungen werden muss.

Unsere Stiftung beteiligt sich vielfach an der Debatte um die „neue Weltordnung“ und um die Koordinaten deutscher und europäischer Außenpolitik. Die heutige Konferenz ist also keine Eintagsfliege, aber doch ein besonderes Ereignis. Noch nie hatten wir so viele Anmeldungen zu einer außenpolitischen Jahrestagung, und wir sind dankbar für die Teilnahme so vieler Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Wir erwarten eine wahrhaft internationale Diskussion mit Referenten aus Europa, Asien und Amerika, und ich bin sehr gespannt darauf, welche Gemeinsamkeiten und welche Differenzen dabei sichtbar werden.  

» Außenpolitische Jahrestagung 2008: Programm, ReferentInnen und weiterführende Informationen

» Schriftenreihe Demokratie: "Werte und Interessen in den internationalen Beziehungen – eine Dimension deutscher und europäischer Außenpolitik"

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.