Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Selbstverteidigung - Ein bedrohlich ausuferndes Rechtsprinzip

Horst Köhler und die Bundeswehr, hier mit dem mexikanischen Präsident Felipe Calderón am 3. Mai 2010. Foto: Alfredo Guerrero. Lizenz: Creative Commons BY-NC-SA 2.0.

17. Juni 2010
Von Joscha Schmierer

Von Joscha Schmierer

Der Große Zapfenstreich ist verklungen. Es soll nicht nachgekartet werden. Doch Horst Köhlers weltpolitisches Räsonnement hat nicht nur Vorgänger und Vergangenheit. Es hat auch Zukunft. Es ist eher typisch als speziell. Wenn Angehörige der deutschen politischen Klasse zu globalen Höhenflügen ansetzen, landen sie fast regelmäßig in der Patsche. Man weiß nie so recht, ob sie einfach daherreden wie unbedarfte Provinzler oder ob sie noch immer oder schon wieder wilhelminische Flausen im Kopf haben. Jedenfalls hat das, was sie sagen, wenig mit dem zu tun, was die Bundesrepublik tatsächlich macht.

Bei den Bundeswehreinsätzen im Ausland geht es nicht um Selbstverteidigung

Deutschland nimmt mit der Bundeswehr in Afghanistan an der Seite ihrer NATO-Partner und anderer Staaten im Rahmen eines Mandats nach Kapitel VII der UNO-Charta an militärischen Maßnahmen teil, die sich gegen eine Bedrohung des Weltfriedens richten. Es soll verhindert werden, dass ein Regime erneut die Macht ergreift, unter dessen Herrschaft auf afghanischem Territorium Ausbildungslager und Befehlszentralen international agierender Terroristen geduldet und gehegt werden. Eigentlich ist das leicht zu erklären – und dennoch Zweifeln ausgesetzt. Warum wir, warum so weit weg?

Die Maßnahmen dienen nach Artikel I, Absatz 1 der Charta der Vereinten Nationen dem Ziel, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“. Sie sind durch den Sicherheitsrat mit der denkbar stärksten völkerrechtlichen Legitimität versehen. Das aber reicht vielen deutschen Politikern offensichtlich nicht. Sie müssen den Einsatz der Bundeswehr mit einem unmittelbar nationalen Interesse begründen. So wird dann Deutschland, seine Sicherheit und Freiheit direkt am Hindukusch verteidigt, wie Bundespräsident Köhler den Bundeswehrsoldaten bei seinem letzten Besuch in Afghanistan erneut versicherte. Das hat keinen Skandal gemacht. Das ist schon Routine. Ex-Verteidigungsminister Struck war der Designer dieser Formel.

Die Formel entspringt der Furcht, die Soldaten und die Wähler seien unfähig, über den nationalen Tellerrand zu schauen. Die internationale Ordnung sei ihnen nichts wert. Man müsste ihnen Handfesteres bieten. Gefährlich ist die Formel nicht nur wegen ihrer Unvernunft und Beschränktheit, die zum Widerspruch und zur Ablehnung geradezu herausfordern, sondern weil sie unter der Hand dem Einsatz seine rechtliche Grundlage entzieht, um ihn politisch vermeintlich besser zu begründen. Kollektivmaßnahmen im Rahmen der UN, um eine Bedrohung des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, werden so umstandslos in Aktionen der nationalen Selbstverteidigung uminterpretiert. Sie aber setzten einen bewaffneten Angriff auf die Bundesrepublik oder einen Bündnispartner voraus. Da es diesen bewaffneten Angriff nicht gibt, lädt die Berufung auf Selbstverteidigung geradezu ein, nun umgekehrt den Einsatz der Bundeswehr als Aggression zu diskreditieren. Der opportunistische Appell an ein angeblich unmittelbares nationales Interesse arbeitet damit Kritikern wie Lafontaine und Gysi direkt in die Hände. Sie interpretieren den Einsatz mit dem entgegengesetzten politischen Interesse genauso verkehrt wie seine verschämten Befürworter. Rechtlich ist die Berufung auf Selbstverteidigung fatal, politisch ist sie Unsinn.

Einen bewaffneten Angriff hat Afghanistan selbst unter dem Regime der Taliban nicht ausgeübt. Die Selbstverteidigung der USA gegen den Angriff von Al Qaida, den die NATO zum Bündnisfall erklärt hatte, ist zwar durch den Sicherheitsrat gebilligt. Sie begründet aber nicht das Mandat, in dessen Rahmen die NATO und die Bundesrepublik die Regierung Afghanistans dabei unterstützen, das afghanische Territorium unter effektive staatliche Kontrolle zu bringen. Gewiss kann man bezweifeln, ob die eingeschlagenen Maßnahmen ihren Zweck erfüllen und letztlich die Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dauerhaft beseitigen können, die von den instabilen und gewaltsamen Verhältnissen in Afghanistan ausgehen. Man kann sich aber auf Grund von solchen Einwänden weder einseitig von kollektiv verantworteten Maßnahmen zurückziehen noch die unvermeidlichen Zweifel an der Wirksamkeit der Maßnahmen dadurch bekämpfen, dass man die zu einem Fall von Selbstverteidigung erklärt und damit im Grunde den Ordnungsrahmen der UN aufgibt.

Argumentative Abwege

Auf welche Abwege man gerät, wenn man Fragen der internationaler Ordnung unvermittelt zu Fragen der nationalen Selbstverteidigung erklärt, hat Bundespräsident Köhler mit seinen Äußerungen auf dem Heimflug von Afghanistan bewiesen. Seine inkriminierten Äußerungen waren ja nicht nur deshalb fatal, weil sie den Unterschied zwischen den kollektiven Maßnahmen in Afghanistan und vor der somalischen Küste verschwimmen ließen, sondern weil Köhler in beiden Fällen freihändig mit dem nationalen Interesse als Begründung hantierte. Das nationale Interesse erlaubt in keinem der beiden Fälle militärische Aktionen. Mit Gründung der UN und UN-Beitritt der Bundesrepublik bietet das nationale Interesse keinerlei Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Mittel. Selbst im Falle eines bewaffneten Angriffs rechtfertigt sich die Selbstverteidigung nicht durch nationales Interesse, sondern durch die Gewaltanwendung des Aggressors.

Was immer die Bundesrepublik rund um den Globus so treibt, es wird mit deutschen Interessen zu tun haben. Das ist so selbstverständlich, wie es umstritten bleibt, was diese deutschen Interessen im konkreten Fall eigentlich sind. Ausgeschlossen bleibt aber, dass der Einsatz von militärischer Gewalt mit deutschen Interessen gerechtfertigt werden kann. Freilich ist die Bundesrepublik als Land „unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit“ daran interessiert, „zum Beispiel freie Handelswege“ zu sichern, „zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern.“ Auf diese Interessen zu verweisen, war das gute Recht Horst Köhlers. Niemand wollte den Bundespräsidenten daran hindern, offene Türen einzurennen. Wie aber kam er darauf, aus Banalitäten den Kurzschluss zu arrangieren, „auch in der Breite der Gesellschaft“ sei zu verstehen, „dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren.“ Eben das ist der Unterschied zum 19. Jahrhundert: Das nationale Interesse rechtfertigt in keinem Fall den Einsatz militärischer Gewalt.

Woher die Scheu, internationales Engagement mit allgemeinen Interessen zu begründen?

Freilich ist nicht zu leugnen, dass nationale Interessen und ihr Verständnis eine wichtige Rolle dabei spielen, in welchem Maße sich ein Staat bei Entscheidungen und Maßnahmen der UN zur Wahrung des Friedens engagiert. Das Interesse der Bundesrepublik, sich wegen ihres hohen, nicht nur wirtschaftlichen Vernetzungsgrades für die Sicherung des Ordnungsrahmens der UN zu engagieren, ist extrem hoch. Dieses Interesse hatte Horst Köhler vielleicht im Auge. Warum aber deutete er an, nationale Interessen berechtigten zu Gewalteinsatz rund um den Globus und warum verzichtete er darauf, die institutionellen Vermittlungsinstanzen zwischen nationalen Interessen und internationaler Ordnung, wie sie nach dem II. Weltkrieg geschaffen wurden, als conditio sine qua non zu benennen? Warum kennt kaum ein anderes Land so viele verfassungsmäßige Kautelen gegen militärische Abenteuer wie die Bundesrepublik und warum setzen deutsche Politiker als Begründung für internationales Engagement doch so oft auf ein enges nationales Interesse?

Vielleicht hängt es damit zusammen, dass Deutschland als damaliger Feindstaat an der Gründung der UN nicht beteiligt war. Sicher auch damit, dass die UN, als die Bundesrepublik schließlich Mitglied wurde, längst durch die Blockspaltung zerrissen und gelähmt war. Vielleicht lieben die hiesigen Politiker die UN als luftiges Ideal zu sehr, um sie als gültigen Rahmen potentieller globaler Ordnungsmacht wirklich ernst zu nehmen. Vielleicht folgen sie einfach Denkschablonen, die für Regierungsentscheidungen irrelevant, für ihre öffentliche Begründung aber unverzichtbar scheinen.

Deutschland, Deutschland über alles?

Aus der Luft gegriffen ist es nicht, wenn in einem Standardwerk wie Bruno Simmas Kommentar zur Charta der Vereinten Nationen von 1991 ausgeführt wird: „Da das System der kollektiven Sicherheit kaum praktische Bedeutung erlangte, blieb es in der völkerrechtlichen Praxis nach 1945 entgegen den Absichten der Schöpfer der Charta bei der Ausübung einzelstaatlicher Gewalt.“ Deshalb habe sich das in Artikel 51 der VN-Charta geregelte Selbstverteidigungsrecht „als die einzig praktisch bedeutsame Ausnahme vom Gewaltverbot zu einem juristischen Angelpunkt entwickelt, um den die Diskussionen über die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Gewalt in den gegenseitigen Beziehungen der Staaten regelmäßig kreisen.“ Das war vielleicht so, aber seit 1991 hat sich die Welt gehörig verändert. Die Bedeutung der UN ist seither ständig gewachsen, auch wenn ihr George W. Bush mit Irrelevanz drohte, falls sie den geplanten Angriff auf den Irak nicht absegne. Die amerikanische Sicherheitsstrategie hatte das Recht auf Selbstverteidigung damals bereits ganz dem eigenen Kalkül über eventuelle Bedrohungen überantwortet, statt es länger von Tatsachen abhängig zu machen.

Die Berufung auf das Recht auf Selbstverteidigung ist ein probates Mittel, um den Ordnungsrahmen der UN zu sprengen und die eigene Souveränität von allen Fesseln zu befreien. Aber das Mittel funktioniert nicht mehr richtig. Das mussten die USA im Verlauf des Irakkrieges erfahren. Auch Russland tat sich schwer, seinen Angriff in Georgien als Akt der Selbstverteidigung zu rechtfertigen. Wenn Israel die Blockade des Gaza-Streifens als Akt der Selbstverteidigung begründet und sich deshalb für berechtigt hält, Schiffe, die auf Gaza zu steuern, schon in internationalen Gewässern zu entern und dem eigenen Kommando zu unterstellen, gerät es in der Weltöffentlichkeit unter Druck.

Es ist bleibt schwer zu verstehen, warum deutsche Politiker, um Zweifeln zu begegnen und im argumentativen Notfall aus innenpolitischem Opportunismus und Engstirnigkeit ins Fahrwasser einer Selbstverteidigungsrhetorik abgleiten.

Nur zur Erinnerung

Nein, ein Gewaltmonopol haben die UN nicht. Grüne und Sozialdemokraten haben das zwar manchmal in die Charta hineingelesen, doch wurde dabei das Gewaltverbot durch die UN mit einem Gewaltmonopol der UN verwechselt. Auch das Gewaltverbot als Quintessenz der Bemühungen um Gewaltvermeidung, zu denen die UN-Charta verpflichtet, kennt zwei Ausnahmen. Sie werden in Kapitel VII der Charta geregelt. Es handelt von Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen und klärt in Artikel 39, dem ersten dieses Kapitels, wem dabei die entscheidende Rolle zukommt: „Der Sicherheitsrat stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; er gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen auf Grund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wieder herzustellen.“ Artikel 40 umreißt vorläufige Maßnahmen, Artikel 41 ermöglicht Sanktionen ohne Gewaltanwendung. Mit Artikel 42 wird dann die erste Ausnahme des generellen Gewaltverbotes statuiert. Wenn alle Gewaltvermeidung fehlgeschlagen ist, kann der Sicherheitsrat militärische Sanktionen beschließen. Was dabei zu beachten ist, wird in den folgenden Artikeln 43 bis 50 geregelt. In den genannten Artikeln des Kapitels VII werden Aufgaben der UN als Organisation der Staatenwelt umrissen. Hier wird das Programm entwickelt, die anarchische Staatenwelt als Staatengemeinschaft zu zivilisieren. Die Mitgliedstaaten bleiben souverän, bilden aber aus sich heraus eine Gemeinschaft. Sie unterwirft die Souveränität gemeinsamen Regeln. Die Gemeinschaft der UN knüpft an die gegenseitige Anerkennung an, die Souveränität als Verhältnis unter Staaten immer schon von reiner Willkür unterschied.

Zu den Anstrengungen, die Beziehungen unter Staaten zu zivilisieren, ohne zu vergessen, dass dabei auf durch den Sicherheitsrat legitimierte militärische Gewalt nicht immer zu verzichten sein wird, setzt Artikel 51 einen Kontrapunkt: „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung und Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.“

In einer Welt ohne Supermächte und mit vielen nichtstaatlichen Bedrohungen werden die Artikel 39 bis 50 in Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen, die die erste Ausnahme des generellen Gewaltverbots unter der Ägide des Sicherheitsrates regeln, an praktischer Bedeutung gewinnen, während eine exzessive Auslegung und Beanspruchung des Rechts auf Selbstverteidigung, der zweiten, „naturgegebenen“ Ausnahme, immer tiefer in friedloses Chaos führen müsste. Man sollte der zweiten Variante selbst in aller Unschuld und Naivität nicht das Wort reden.

Joscha Schmierer

Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.

 

Dieser Text steht unter einer Creative Commons-Lizenz.