Tchad - Fluch der Finsternis?

Fort-Lamy, das heutige N'Djamena, in der Nacht vom 10. auf den 11. August 1960. Premierminister François Tombalbaye ruft gerade die Unabhängigkeit des Staates Tschad aus, als ein Stromausfall ihn dazu zwingt, die Rede im Schein einer Taschenlampe zu beenden. Die letzten Zuckungen eines im Sterben liegenden Kolonialismus? Es wird ein Geheimnis bleiben. Doch scheint es nicht so, als ob diese plötzlich hereinbrechende Finsternis ein Fluch sei, den man auf mein Land legte? Bisher geben die Fakten den Abergläubischen recht.  -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus Afrika.

Doch so einfach ist es nicht. Vor der europäischen Eroberung existierte der Tschad mit seinen gegenwärtigen Grenzen nicht. Im Osten des gleichnamigen Sees lagen drei Königreiche - Ouaddaï, Baguirmi und Kanem-Bornou - die maßgeblich vom Sklavenhandel, ein Tauschverkehr, der primär der arabisch-muslimischen Welt zugute kam, lebten. Nach ihrer Niederlage gegen die Weißen wurden sie gemeinsam mit den animistischen Fürstentümern, die sie regelmäßig überfallen hatten, um sich neue Sklaven zu verschaffen, in ein politisches Gebilde unter französischer Fahne gedrängt: das Staatsgebiet des heutigen Tschad war damit abgesteckt. Seitdem lassen die präkolonialen Feindschaften den vom Kolonialismus gesäten Samen der Zwietracht immer wieder blühen. Hieraus entstehen die Konflikte, denen noch heute viele Menschen zum Opfer fallen.


Die Unabhängigkeit ist das, was die Menschen, die sie erkämpften, daraus machen. Nun ist aber angesichts der vielen internen Kriege die Souveränität der Tschader und Tschaderinnen wenn nicht dauerhaft beschnitten, so doch durch die französische, libysche, sudanesische oder multinationale Militärpräsenz erheblich eingeschränkt. Vor diesem Hintergrund kann man sich fragen, was es für eine Bevölkerung, von der ein bedeutender Teil nur durch externe Hilfe überlebt, noch bedeuten kann, „unabhängig“ zu sein? Ist die Unabhängigkeit nicht letztendlich eine überkommene Vorstellung, in Zeiten, in denen der Austausch Geschwindigkeiten angenommen hat wie Elektronen in einem Beschleuniger, in dem sich Kulturen und Gemeinschaften im Rhythmus von Charterflügen kreuzen? 

In jedem Fall wird die Unabhängigkeit des Tschad nichts als eine Farce bleiben, solange wir unsere grundlegenden Bedürfnisse nicht befriedigen können, solange die meisten von uns Analphabeten sind, und wir unsere Wünsche und Vorstellungen für die Zukunft nicht frei äußern können. Doch wird uns immer bewusster, dass es vor allem unsere Schwächen sind, aus denen die ominösen Neokolonialisten des Typs Françafrique, Chinafrique oder USAfrique ihre Vorteile ziehen. Zugleich beglückwünschen wir uns jedes Mal selbst dafür, wenn es einem Tschader oder einer Tschaderin gelingt, hinter die Geheimnisse des Lesens und Schreibens zu gelangen. Denn durch ihn oder sie hat der ganze Tschad einen weiteren Schritt gemacht, um sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.

Perspectives Afrika: In dieser englischsprachigen Publikationsreihe wollen wir Fachleuten aus Afrika eine Plattform bieten, ihre Ansicht zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen ihrer Regionen zu veröffentlichen. Perspectives Africa legt dabei den Fokus auf Standorte im Süden, Osten und Westen des Kontinentes an denen die Heinrich-Böll-Stiftung mit Regionalbüros vertreten ist.

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Der Tschad wird 50. Na und? 50 Jahre im Leben eines Menschen, wie viele Sekunden macht das umgerechnet auf eine Nation? Wenn der Fortschritt meines Landes im Form eines Schulzeugnis bewertet würde, wären folgende Vermerke zu finden: „Mit den Mitteln, die ihm in die Wiege gelegt wurden, hat er sich ganz gut geschlagen“, „Wäre erfolgreicher ohne Kriege“, und „Weist enormes Steigerungspotenzial auf“.

Hier ein tschadisches Sprichwort über das fast unmögliche Unterfangen, laufen zu lernen: „Ab einem gewissen Alter glaubt man alles gesehen und verstanden zu haben. In Wirklichkeit hört man jedoch bis zu seinem Lebensende nicht auf, laufen zu lernen. All die Fehltritte, Rückschläge und Stürze finden erst im Paradies ein Ende.“

So ähnlich ist es mit der Unabhängigkeit: statt sich zu erfreuen, sie ein für allemal erreicht zu haben, gilt es sie unaufhörlich wiederzuerlangen.


Nétonon Noël Ndjékéry (*1956 in Moundou im Süden des Tschad) hat Mathematik und Physik studiert und arbeitet heute als Informatiker in der Schweiz. Seine ersten literarischen Texte veröffentlichte er in Paris (La Descente aux enfers et onze autres nouvelles. Hatier 1984, « Der Abstieg in die Hölle und andere Erzählungen »). Sein Band Sang de kola (« Blut von Kola ») erschien 1999 in Paris. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit (letzter Titel Chroniques tchadiennes, Infolio, Schweiz 2008) schreibt er seit 2003 regelmässig für die Zeitschrift Carrefour in der tschadischen Hauptstadt Ndjamena.