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Mehrheitsmeinung und minoritäre Militanz im Nahen Osten

Die sogenannte Begrenzungsmauer soll Israel vor palästinensischen Terroristen schützen. Foto: Le Mur - The Wall - Palestine. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

Ein Friedensproblem der Demokratie

17. August 2010
Joscha Schmierer
Von Joscha Schmierer

Mag sein, dass in den nächsten Wochen die direkten Gespräche zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Autonomiebehörde wiederaufgenommen werden. Eine haltbare Friedensvereinbarung wird man sich für’s Erste davon kaum versprechen dürfen. Obwohl: Wenn es in Avi Primors kleinem, vor kurzem erschienenen Buch (1) gleich im Titel heißt Frieden in Nahost ist möglich, will kein gutwilliger Idealist eine zeitlose Wahrheit verkünden, sondern stellt ein diplomatisch erfahrener Realist eine historisch begründete politische Maxime für hier und heute auf. Denn Frieden in Nahost war nicht immer möglich.


Lernprozesse

Erst mussten sich die Palästinenser und die arabische Nachbarn nach der Serie ihrer Niederlagen mit der Existenz des Staates Israel abfinden und die jüdischen Israelis die Absicht aufgeben, ihre großen Siege in die Besiedlung und dauerhafte Aneignung des biblischen Israel umzumünzen. Lange hatten Palästinenser und Araber die Niederlage von 1948 für ein nur durch eine Weltverschwörung erklärliches historisches Missgeschick gehalten. Daraus folgte eine Politik, „die auf einer Belagerung Israels und dessen wirtschaftlicher und diplomatischer Boykottierung basierte, sowie eine Reihe von Kriegen mit dem Zweck, den ,Fehler‘ von 1948 zu beheben. Solange die Araber der Überzeugung waren, dass dies nicht nur ein wünschenswertes, sondern auch ein erreichbares Ziel sei, bestand für eine friedliche Regelung keine Chance.“

Im Unterschied zu den Arabern sei für die jüdische Bevölkerung bei der Gründung Israels nicht die territoriale Frage, sondern die jüdische Souveränität im Vordergrund gestanden. Es gab daher zum Zeitpunkt der Aufteilung Palästinas durch die UN „kaum jemanden, der nicht begriff, dass die Wiederherstellung einer nationalen Unabhängigkeit der Juden wichtiger war als die Größe des Territoriums, egal, wie viel dieses historisch bedeuten mochte.“ Diese „echte Verzichtsbereitschaft“ sei mit dem Sechstagekrieg von 1967 geschwunden. Nach der Eroberung sämtlicher „biblisch-historischen Territorien seines Stammlandes, auf die es 1947 verzichtet hatte“, sahen die Dinge, so Primor, auch in den Augen der Israelis anders aus: „Richtig, sagten sie, auf diese Gebiete, die das Herzstück des jüdischen Volkes sind, haben wir 1947 zugunsten eines wichtigeren Ziels verzichtet, aber heute, nachdem sie uns wieder zugefallen sind, und das noch dazu durch die Schuld unserer Nachbarn, besteht kein Grund zu einem abermaligen Verzicht. Richtig, in diesen Gebieten lebt eine andere Bevölkerung, aber das ist kein Problem, das bedeutend genug wäre, um auf das zu verzichten, was uns gehört und sich nun auch in unserer Hand befindet.“

Die anachronistische Berufung auf historisches Recht lieferte noch die Begründung für die ansonsten nur schwer verständliche Losung „Land für Frieden“, mit der später die Verständigungsbereitschaft gegenüber den Palästinensern signalisiert wurde. Es zeigte sich, dass nur noch eine „kleine Minderheit“ in Israel „diese Version immer noch für politisch bindend und potenziell erfolgreich hält.“ Der Großteil der israelischen Bevölkerung glaube zwar nach wie vor, „dass uns diese Gebiete biblisch-historisch gehören, versteht jedoch ebenso, dass die Herrschaft über diese nicht reell ist. Er versteht, dass wir weder das Recht haben noch imstande sind, ein fremdes Volk zu beherrschen.“


Mehrheiten für Selbstbeschränkung?


Diese Entwicklungen in Richtung Selbstbeschränkung und Anerkennung des Anderen könnten die Zwei-Staaten-Lösung, wie sie vor allem von der internationalen Gemeinschaft betrieben wird, auch auf jüdisch-israelischer und palästinensisch-arabischer Seite akzeptabel machen. Doch was besagen oder bewirken gar Mehrheitsmeinungen in einer historisch aufgeladenen, ethnisch und religiös überspannten politischen Situation, wenn der Aktionismus von militanten Minoritäten auf beiden Seiten die Initiative behält, ohne von den Mehrheiten der jeweils eigenen Seite in die Schranken gewiesen zu werden? Jenseits der Mehrheitsmeinungen, die eine Verständigung zu ermöglichen scheinen, kann sich ein Mechanismus der Konfrontation erhalten und weiter befestigen, dem gegenüber wirkungslos bleibt, was die Mehrheiten meinen oder zu wollen meinen. Da die Mehrheitsmeinung sich nur durch pragmatische Einsicht von den Überzeugungen der militanten Minorität unterscheidet, wird sie deren Handlungsweise immer wieder billigend oder duldend in Kauf nehmen. Zu einer Zwei-Staaten-Lösung könnte es unter diesen Bedingungen nur kommen, wenn sich die Mehrheitsmeinung zu einem entschiedenen politischen Willen bildet und sich in handlungsfähigen Institutionen und einer verhandlungsfähigen Exekutive Ausdruck verschafft.

Das Gegenteil ist im Nahen Osten der Fall. Auf der palästinensischen Seite hat die Hamas im Inneren von Gaza eine staatsartige Souveränität erlangt, die außerhalb Gazas niemand anerkennt. Umgekehrt verweigert sie Israel die Anerkennung als Staat und sabotiert bisher jede ernsthafte Friedensbemühung. Mit der palästinensischen Autonomiebehörde in der besetzten Westbank rivalisiert sie um die Vormacht und stellt permanent deren Legitimität als Verhandlungsführerin in Frage. Damit sieht sich diese gezwungen, Vorbedingungen für Gespräche mit der israelischen Regierung zu stellen, die diese wiederum nicht zu erfüllen bereit ist, weil sie sonst ihre Regierungsmehrheit verliert. Israels Sicherheit bleibt bedroht und die Westbank wird trotz befristeten provisorischen Baustopps weiter zersiedelt. Ostjerusalem wird immer fester von jüdischen Siedlungen eingerahmt. Das Leben der Palästinenser dort wird ständig erschwert. So zieht sich eine Situation hin, die unabhängig von Mehrheitsmeinungen die realen Bedingungen für eine dauerhafte Verständigung auf zwei und zwischen zwei Staaten untergräbt. Die jüdischen Israelis erweitern und vermehren ihre Siedlungen und die Palästinenser vergrößern ihre Zahl. Während so eine Zwei-Staaten-Lösung zu nehmend illusorisch wird, wird gleichzeitig die Umwandlung einer allmächtigen Besatzung in eine förmliche Annexion der Westbank allein schon wegen der demographischen Entwicklung immer weniger attraktiv.


Wenn die Zwei-Staaten-Lösung scheitert


Vor Jahren, 2003 in The New York Review of Books, hatte der jüngst verstorbene europäisch-amerikanische Historiker Tony Judt geschrieben, wenn die Zwei-Staaten-Lösung sich als reale Möglichkeit immer weiter verflüchtige, bleibe als Alternative schließlich nur noch ein gemeinsamer jüdisch-palästinensischer Staat – oder die Apartheid.(2) Er ist dafür arg gescholten worden. Der enttäuschte frühere Linkszionist musste sich Antisemitismus vorwerfen lassen. Als ihm 2007 für seine Geschichte Europas der von Bremen und der Heinrich-Böll-Stiftung verliehene Hannah Arendt Preis für politisches Denken zugesprochen  wurde, lief die jüdische Gemeinde in Bremen Sturm gegen die Preisverleihung.

Gegenüber einer Apartheid-Variante, die er ablehnte, hielt Tony Judt bei einem Scheitern der Zwei-Staaten-Lösung einen gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Staat für die bessere Perspektive. Was er damals als denkbaren Ausweg aus einem Scheitern der Zwei-Staaten-Lösung ins Spiel brachte, ist inzwischen zu einem letzten und entscheidenden Argument für ihre Rettung  geworden. So erinnert Avi Primor daran, „dass sogar die nationalistischsten Regierungen in Israel – diejenigen, die stets gepredigt hatten, dass diese Gebiete in unseren Händen bleiben müssten; diejenigen, die gepredigt hatten, dass wir deren wahre Eigentümer seien und dort Siedlungen schaffen müssten – es niemals wagten, diese Territorien tatsächlich zu annektieren. Denn ein solches Vorhaben hätte unweigerlich zu der Frage geführt, was wir nach einer Annexion mit deren enorm gewachsener Bevölkerung anfangen sollten. Vertreiben ist unmöglich, in jeder Hinsicht unmöglich. Den Einwohnern den Status von Bürgern zweiter Klasse zu verleihen, also eine Art Apartheid einzuführen ist ebenso unmöglich. Man kann bei uns keine Apartheid einführen. Die Welt würde es nicht zulassen, und auch die jüdische und die israelische Mentalität und Tradition könnte mit einer solchen Situation nicht leben.“ Was also tun, wenn nicht wenige Palästinenser darauf hinarbeiten, „verbittert und enttäuscht über das Scheitern sämtlicher Versuche, der Besatzung ein Ende zu setzen, fordern, auf den Traum von einem Palästinenserstaat zu verzichten und stattdessen auf die Annexion durch Israel hinzuarbeiten. Wenn es unmöglich ist, einen palästinensischen Staat zu gründen, sagen sie, dann lasst uns einen Großstaat gründen, einen Staat, der beiden Bevölkerungsgruppen gehört.“

Auf palästinensischer Seite ist das keine neue Idee. Die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) hatte dies zum zentralen Programmpunkt erhoben und das konnte Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre als klare Absage an alle Versuche verstanden werden, die „Juden ins Meer zu treiben“. Jedem Israeli aber ist und war schon damals klar, „dass dieser Vorschlag alles andere als naiv ist: dass eine solche Verschmelzung Israels und der palästinensischen Gebiete dem jüdischen Staat ein Ende setzen soll.“


Letzte Chance, ernste Warnung?


Die Vorstellung, wenn alles weiter ginge wie bisher, könnte schließlich nur noch ein gemeinsamer Staat als Perspektive übrig bleiben, mag also als Schreckgespenst taugen, um auf israelischer Seite sich entschiedener als bisher für eine Zwei-Staaten-Lösung einzusetzen. So versucht Volker Perthes, Nahost-Experte und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, die Präsidentschaft Barack Obamas den Israelis als letzte Chance für eine akzeptable Friedenslösung schmackhaft zu machen (3). Wenn Obama ohne einen israelisch-palästinensischen Friedensvertrag aus dem Amt scheiden sollte, werde diese Hoffnung begraben sein. „Der nächste Präsident wird der Lösung eines Konflikts, an der sein Vorgänger gerade gescheitert ist keine Priorität geben.“ Schon jetzt ist in der Community der außenpolitischen Experten umstritten, ob es nicht ein Fehler sei, der Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts strategischen Vorrang einzuräumen. Richard Haass, der Präsident des Council on Foreign Relations etwa bestreitet diesen Vorrang (4). Nach einem erneuten Scheitern der Friedensverhandlungen und wenn sich erst die demographischen Verhältnisse zu Gunsten der Palästinenser verschoben hätten, werde, meint Perthes, die Auseinandersetzung mit Israel wohl von einem „Kampf für Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit auf einen Antiapartheidkampf für gleiche Rechte in einem Staat“ umschwenken. „Spätestens dann würde deutlich, dass das Nichtzustandekommen einer fairen, haltbaren Zweistaatenlösung die wirkliche existentielle Bedrohung des jüdischen Nationalstaats darstellt.“

Aber werden die Palästinenser nach einem Scheitern der Zwei-Staaten-Lösung wirklich noch zu einem solchen großangelegten Strategiewechsel in der Lage sein? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass sich die palästinensische Gesellschaft weiter zersplittert und dass damit Bedingungen für sporadischen Terrorismus günstiger werden? Die abstrakt betrachtet gar nicht so schlechte, konkret besehen aber praktisch ausgeschlossene Lösung ist als Schreckbild für Israels Hardliner nur wenig geeignet.

Israel ist gut durch die Krise gekommen und entwickelt sich immer mehr zu einem innovativen und prosperierenden Hightech-Staat. Die wachsende Gleichgültigkeit gegenüber der Lage der Palästinenser in der israelischen Gesellschaft wird nur durch Sicherheitsprobleme gestört. Es sind die Sicherheitsfragen, die das Interesse an einem funktionierenden palästinensischen Staat wach halten sollten. Aber gerade die enge Sicht auf Sicherheitsinteressen hat durch Siedlungen, entsprechende Infrastruktur und Grenzbefestigungen die Bedingungen für eine palästinensische Staatsbildung untergraben. Und wo Israel wie im Gaza sich einseitig zurückzieht, behält es sich das Recht auf Abschließung und Intervention vor.

Eine Zweistaatenvereinbarung bleibt die wünschenswerte Lösung. Sie aber könnte auch in Zukunft scheitern, obwohl auf dem Papier in Dutzenden von Vorschlägen und Teilabkommen ihre Grundzüge längst umrissen sind. Israelis und Palästinenser leben sich immer mehr auseinander und bleiben doch ineinander verhakt, ohne zu einer staatlichen Trennung in der Lage zu sein. Die jeweilige Mehrheitsmeinung für die Zwei-Staaten-Lösung, sofern es sie denn wirklich und stabil geben sollte, erweist sich einstweilen als hilflos gegenüber denen, die auf Frieden pfeifen. So fällt es schwer, Peter Münch zu widersprechen, wenn er  Israelis und Palästinenser auf einem „nahöstlichen Pfad ins Nirgendwo“ (5) vermutet. Avi Primor freilich widerspricht mit Nachdruck solchen depressiven Anwandlungen und fordert mehr europäisches Engagement.


Fussnoten:
  • (1) Avi Primor, Frieden in Nahost ist möglich. Deutschland muss Obama stärken. Ein Standpunkt, hrsg. Von Roger de Weck, Hamburg (edition Körber-Stiftung) 2010
  • (2) www.nybooks.com/articles/archives/2003/oct/23/israel-the-alternative)
  • (3) Obama ist Israels letzte Chance auf Frieden, Die Zeit vom 5.8.2010
  • (4) The Palestine Peace Distraction, Wall Street Journal April 26, 2010
  • (5) Sisyphos Obama, SZ 8.7.2010

 

Joscha Schmierer

Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.

 

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