Aktuelle Entwicklungen, Hintergründe und Ursachen von Polizeigewalt und organisierter Kriminalität im Land der nächsten Fußballweltmeisterschaft.
Ende Dezember 2010 erschien in der Kinderbeilage der in Rio de Janeiro erscheinenden Tageszeitung O Globo ein Strip in drei Bildern, überschrieben: „Die Weltgeschichte neu erzählt – berühmte Kriege“. Das erste Bild zeigt das Trojanische Pferd, das zweite einen alliierten Soldaten 1945 am Strand der Normandie und das dritte einen Hügel in Rio. Der Begleittext lautetet hier: „2010 stürmten die Soldaten die Favela des Complexo de Alemão, um den Drogenkrieg in Rio de Janeiro zu beenden.“
Es war also offenbar ein historischer Moment, als schwer bewaffnete Polizisten zum Teil in gepanzerten Fahrzeugen Ende November 2010 in das Armenviertel Vila Cruzeiro und den benachbarten Complexo de Alemão eindrangen, einem aus 14 Favelas bestehenden Konglomerat. Und der Begleittext des Bildchens hatte insofern nicht ganz unrecht, als tatsächlich Einheiten des Heeres und der Marine der Polizei logistische Unterstützung leisteten. Während der fünf Tage andauernden Operation wurden fast 200 Menschen festgenommen, um die 40 Tonnen Marihuana sowie mehrere hundert Waffen sichergestellt. Nach Polizeiangaben starben dabei mindestens 37 Menschen, unter ihnen Drogendealer, aber auch Zivilisten. Zu diesen „Kollateralschäden“ (so der zuständige Minister José Mariano Beltrame) gehört auch die 14 jährige Schülerin Rosângela Alves. Sie starb durch eine Polizeikugel, als sie in ihrer Wohnung vor dem Computer saß.
Es war nicht das erste Mal, dass Polizei und Militär derartige Operationen in Favelas durchführten. Zuletzt hatten 1.400 Polizisten und Soldaten im Mai und Juni 2007 denselben Complexo do Alemão gestürmt. Kurz vor den Panamerikanischen Spielen erschossen sie seinerzeit insgesamt 43 Menschen. Der viel gefeierte Unterschied und Gradmesser für den empfundenen Erfolg der Operation war nun, dass die Sicherheitskräfte es dieses Mal schafften, den Complexo de Alemão zu „erobern“, d.h. das Drogenkommando zu vertreiben. Die Bilder von den fliehenden Drogenhändlern haben schon jetzt brasilianische Fernsehgeschichte geschrieben. In der Tat hat der Medienkonzern Globo mit Hubschrauberkameras, Rund-um-die-Uhr-Sonderberichterstattung in seinen Fernsehkanälen und einer beispiellosen Zeitungskampagne den „Krieg von Rio“ zum nationalen Ereignis werden lassen. „Der D-Day“ titelte O Globo am Tag der Invasion der Favela Vila Cruzeiro am 26. November in Bildzeitungsgröße. Als die Polizei Tage später auf dem Alemão stand, hisste sie die brasilianische Nationalflagge. Das gute Brasilien kämpfte gegen das Böse in sich, und dieses Mal siegte es endlich.
Seit vielen Jahren stehen die betroffenen Favelas unter der Kontrolle des so genannten Roten Kommandos (Comando Vermelho), der wohl größten der vier in der Stadt operierenden Drogenorganisationen. In den Wochen vor der Razzia hatten bewaffnete Drogenhändler wiederholt Zivilisten überfallen und ihre Autos als auch Nahverkehrsbusse in Brand gesetzt. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die Behörden spontan reagierten. Eine Aktion dieser Komplexität muss bereits länger vorbereitet gewesen sein. Dies bestätigen jetzt Wikileaks-Dokumente. Danach hatte Rio de Janeiros Gouverneur Sérgio Cabral bereits Ende 2009 dem US-Konsul in Rio gesagt, die Behörden planten eine Aktion gegen den Alemão, die „mehr den Schlachten im irakischen Falludscha als einer üblichen Polizeiaktion gleichkommen“ werde.
Anders als die Kriegsmetaphorik glauben macht, handelt es sich beim Drogenhandel in Rio nicht um eine „Armee“ im Sinne eines organisierten und durchstrukturierten Gegenübers. Er zerfällt in Banden, die miteinander in blutigen Kämpfen um einzelne Territorien rivalisieren. Es gibt kein übergeordnetes Konzept noch eine überspannende Autoritätsstruktur, sondern nur lokal begrenzte, prekäre Herrschaft, die auf schwerer Bewaffnung und der Bestechlichkeit der Polizei beruht. Für den ehemaligen Sicherheitssekretär von Rio de Janeiro und der Bundesregierung, Luiz Eduardo Soares ist der Drogenhandel bewaffneter Banden in Rio ein Auslaufmodell. „Es ist riskant, schwerfällig und sehr aufwändig und teuer in Durchführung und Erhalt. Heutzutage wird in der Drogenwelt mit anderen, rationaleren, leichteren und rentableren Modellen operiert. Der unauffällige Handel, dessen unbewaffnete Händler die Ware an der Haustür abliefern, und der Teil eines ökonomisch diversifizierten Unternehmens ist, ist zeitgemäßer.“ Dass die Polizeiführung von Rio eine Phase der Schwäche genutzt hat, glauben auch andere Experten. Rodrigo Pimentel, früherer Elitepolizist und Co-Autor der Drehbücher für die Filme Tropa de Elite Eins (gewann den Goldenen Bären auf der Berlinale 2008) und Zwei, sieht ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren: Die Milizen, mafiöse Zusammenschlüsse ehemaliger oder aktiver Polizisten und anderer Sicherheitskräfte, die die Drogenbanden aus Stadtvierteln vertreiben und dann dort ein lukratives Schutzgeldsystem installieren, haben an Zahl und Einfluss zugenommen. Viele der Führungskräfte der Drogenkommandos sitzen in Haft und sind unlängst in Bundesgefängnisse weit entfernt von Rio verlegt worden. Dies hat die Kommunikation zwischen den Häftlingen und ihren Organisationen erheblich erschwert und diese geschwächt. Zusätzlichen Druck auf die Kommandoführungen üben neue Haft- und Verhörmethoden aus. 2003 wurde eine verschärfte Isolationshaft eingeführt, die seitdem auf Anführer des Drogenhandels angewendet wird. In letzter Zeit sind die Behörden auch dazu übergegangen, Familienangehörige der Häftlinge zu verhören und in Haft zu nehmen.
Das Bild vom Krieg
Wie das Eingangsbeispiel illustriert, arbeiten Medien und Regierungen konsequent daran, das Bild „Rio befindet sich im Krieg“ in den Köpfen der Bevölkerung zu verankern. Die Kriegsmetaphorik erlaubt das Denken in Dichotomien: Gute Polizisten bekämpfen böse Drogenkommandos. Die Stadt teilt sich in saubere Viertel der Mittel- und Oberschicht und Favelas, die als Brutstätte des Drogenhandels und der Kriminalität im Allgemeinen wahrgenommen werden. Es nutzt wenig, darauf hinzuweisen, dass 98 Prozent der Favelabewohner Arbeiterinnen und Arbeiter sind, die Geiseln des Drogenhandels sind und bei Auseinandersetzungen mit der Polizei oder mit rivalisierenden Fraktionen die ersten Opfer. Die Favela als solche gilt als der Ort des Übels. Die Kriminalisierung der Favela wiederum erlaubt es, ohne größere Schwierigkeiten Aktionen wie die vom November als saubere Polizeiarbeit zu verkaufen. „Die Menschenwürde und das Recht haben in Rio eine Postleitzahl, nämlich die der besseren Wohnviertel“, sagte unlängst der Landtagsabgeordnete und Menschenrechtsspezialist Marcelo Freixo. Wie bei Polizeiaktionen üblich, stürmten die Polizisten bei der Invasion der Favelas in Vila Cruzeiro und Complexo de Alemão Privatwohnungen ohne Durchsuchungsbefehl, zertrümmerten Mobiliar, ließen Geld, Mobiltelefone und sogar Fernseher mitgehen, misshandelten und töteten unbeteiligte Anwohner. Dieses Verhalten wäre in einem Stadtteil wie Ipanema undenkbar, wo Rechtsnormen durchsetzbar sind.
Eine Gruppe von Menschenrechtsorganisationen veröffentlichte Ende Dezember 2010 einen Bericht, der Fälle von Beleidigung, Hausfriedensbruch, Erpressung, Beleidigung, unrechtmäßiger Festsetzung, Todesdrohungen und Folter zusammenträgt. Die Organisationen fordern eine unabhängige Untersuchung dieser Fälle sowie der Umstände, unter denen Bewohner der Favelas während der Invasion starben. Ihr Bericht wird der Sonderberichterstatterin über Folter der UNO sowie der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten zugestellt.
Das Kriegsszenario unterstützt auch die Vorgehensweise der Polizei, „feindliches Territorium“ zu besetzen und „Feinde“ zu eliminieren – und nicht, Verdächtige dingfest zu machen und sie dem Untersuchungsrichter vorzuführen. Bei Schießübungen werden die Polizisten nicht darauf trainiert, den Verdächtigen kampfunfähig zu machen, vielmehr bekommt der Schütze die meisten Punkte, der auf Herz oder Kopf zielt. In den vergangenen acht Jahren sind im Bundesstaat Rio de Janeiro im Durchschnitt jährlich um die 1.000 Menschen durch Polizeikugeln getötet worden. Bei den Opfern handelt es sich überwiegend um Jugendliche bzw. junge Männer im Alter von 15-24 Jahren, die meisten von ihnen sind schwarz. Die Polizei tötet (fast) ausschließlich in den Armenvierteln. Ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Opfer wurde im wehrlosen Zustand getötet – sprich: hingerichtet. Dieses Vorgehen erfreut sich nicht unbeträchtlicher Zustimmung in der Bevölkerung. Für viele Menschen in Rio war, wie eilfertig abgedruckte Leserbriefe wissen ließen, die Aktion deshalb kein Erfolg, weil zu viele „Banditen“ mit dem Leben davon kamen.
Gute Polizisten gegen böse Drogendealer: Eine falsche Dichotomie
Unter der Wortführerschaft des Globo-Konzerns feierten Regierung und Medien in Rio die Vertreibung des Drogenhandels dennoch nicht nur als einen großen Sieg, sondern auch als Triumph des Rechtsstaats. Die ihn repräsentierende Polizei habe als „Kraft des Guten“ über das Böse triumphiert, lautete der Tenor. Es dauerte einige Tage, bis sich eine Stimme Gehör verschaffen konnte, die aussprach, was in Rio insbesondere die Journalisten wissen, die täglich auf den Straßen unterwegs sind: “Die Polarität (gute Polizei – böser Drogenhandel) gibt es nicht. Es wäre in der Tat die vordringlichste Aufgabe der Sicherheitspolitik, Kriminelle und Polizei strikt zu trennen. Aber es gibt kein organisiertes Verbrechen in Rio, an dem Polizisten nicht beteiligt wären. „Der Drogenhandel würde gar nicht funktionieren, wenn nicht ein (großer) Teil der Polizisten mit den Dealern kooperieren und am Drogenhandel selbst verdienen würde“, schrieb Luiz E. Soares in einem Blog, der binnen Stunden vielfach im Internet reproduziert und zitiert wurde. Auch ihre Waffen erhalten die Drogenhändler aus den Händen korrupter Polizisten und Militärs.
Und Marcelo Freixo zufolge müssen Drogen- und Waffenhandel gesondert betrachtet werden. Dass die Drogenhändler überhaupt Zugang haben könnten zu Waffen auch schweren Kalibers, und dies in großer Zahl, sei eine Besonderheit des Drogenproblems in Rio. Auch andere Experten fordern, man müsse der Kontrolle des internationalen Waffenhandels in Brasilien und in Rio mehr Aufmerksamkeit widmen. Sie verweisen darauf, dass hier eine genuine Aufgabe für die brasilianische Armee bestehe, die für die Grenzsicherung zuständig sei.
Damit ist die Sicherheitspolitik der Stadt auch nach dem „Erfolg“ der Invasion von Ende November wieder an einem Ausgangspunkt angelangt. Denn neben sozio-ökonomischen Ursachen wie der weiter eklatant großen Kluft zwischen Arm und Reich, der Misere im Gesundheits- und Bildungswesen und dem Fehlen staatlicher Bürgerdienstleistungen in den Favelas ist die Reform eines Strafwesens, dass junge Männer zu Schwerverbrechern ausbildet, und die Reform der Polizei vordringlich. Hierzu gehört eine bessere Ausstattung und Bezahlung der Polizisten. Die Gehälter der Polizisten sind zurzeit so niedrig, dass viele von ihnen einer Nebentätigkeit nachgehen müssen und für Bestechung besonders anfällig sind. Die Aufhebung der Trennung von Militär- und Zivilpolizei und eine Reform der Ausbildung mit Schwerpunkt auf (Menschen-)Rechtsbildung sind weitere wichtige Elemente. „Die brasilianische Polizei muss endlich ihre aus der Militärdiktatur (1964-1985) kommende Freund-Feind-Ideologie hinter sich lassen, und sich zu einem demokratisch und rechtsstaatlich ausgerichteten Akteur entwickeln“, so Soares.
Eine bürgernahe Polizei hat ihre Grenzen
In diesem Zusammenhang wird gerne auf die neuen Polizeieinheiten UPPs als Zukunftsmodell verwiesen. Ende 2008 begann die Regierung von Rio de Janeiro mit dem Aufbau dieser neuen, bürgernahen Polizeieinheiten. Sie sollten einen Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik einleiten. Nachdem schwerbewaffnete, mit Panzerwagen ausgestattete, Polizeieinheiten die Favela Santa Marta gestürmt hatten, wurde das erste UPP-Bataillon dort stationiert. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Bataillonen der Militärpolizei sollen die Polizisten des UPP nicht nur Patrouille fahren, sondern den Kontakt mit der Bevölkerung suchen. Die Medien, allen voran das in Rio de Janeiro führende Meinungsblatt O Globo berichten geradezu enthusiastisch über die ‚friedensstiftenden Polizisten’; mit ihnen sei „die Demokratie in die Favelas eingekehrt“. Inzwischen sind in weiteren 12 Favelas der Stadt UPPs eingerichtet worden – jeweils nachdem die dichtbesiedelten Gebiete unter schwerem Schusswaffeneinsatz gestürmt worden waren. Bis zur Fußball-Weltmeisterschaft in vier Jahren sollen weitere 27 Favelas „befriedet“ werden. Zurzeit beginnt eine zweite Phase des UPP-Konzepts, die sogenannten „UPPs Social“. Danach sollen den Polizisten Sozialarbeiter in die Favelas folgen. Berufsbildungskurse, Kleinkredite, Kulturveranstaltungen, aber auch Eigentumsregelung für Bewohner sind Elemente dieses Konzepts, das das Landesministerium für soziale Dienste und Menschenrechte koordiniert.
UPPs sind aber kein Sozialprojekt, sondern eine neue Form einer Politik der öffentlichen Sicherheit, die grundsätzlich repressiv konzipiert ist. Die UPPs besetzen Favelas und legen diesem Stadtteil und seinen Bewohnern die Logik und Infrastruktur der polizeilichen Sicherheit auf. Die Polizisten werden ausgesucht, den Vorzug erhalten Absolventen der Polizeiakademie, die noch nicht durch den Alltag „verdorben“ sind. Dennoch bleiben Konflikte nicht aus. Nachdem sich Menschenrechtsverletzungen häuften, brachten Bewohner von Santa Marta zusammen mit Amnesty International und dem Menschenrechtsausschuss der Abgeordnetenkammer von Rio ein illustriertes Informationsheft heraus, in dem die Favela-Bewohnern darüber aufgeklärt werden, welche Rechte sie gegenüber den Sicherheitskräften haben und wie sie sich vor polizeilichen Übergriffen schützen können.
Die Favela-Bewohner kritisieren ferner, dass der Staat weiterhin in vielen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge durch Abwesenheit glänzt. In den Gesundheitszentren fehlt es an Ärzten, Zahnärzte sucht man vergebens, die Kindergärten funktionieren schlecht und die Lehrer an den öffentlichen Schulen bekommen ihre Gehälter regelmäßig Monate zu spät ausgezahlt. Dieses seit Jahrzehnten bestehende Desinteresse des Staates an den Armenvierteln ist aber genau die Hauptursache dafür, dass die Drogenkommandos überhaupt eine so dominierende Stellung in den Favelas einnehmen konnten. „Es wird immer behauptet, die Drogenkommandos hätten während der letzten 25 Jahre in den Armenvierteln einen Parallelstaat errichtet, um sich bewusst dem Zugriff der staatlichen Ordnungskräfte und damit dem Rechtsstaat zu entziehen. In Wahrheit musste sich aufgrund der Abwesenheit des Staates eine parallele Gesellschaft entwickeln, die versucht, ihre eigenen Lebensverhältnisse zu ordnen“, so der Journalist und Schriftsteller Julio Ludemir. „Die Drogenbosse haben dieses Vakuum des Staates zum Auf- und Ausbau ihrer Macht ausgenutzt.“
Trotz der berechtigten Kritik stellen die UPPs einen Fortschritt für die Favela-Bewohner dar. Für Menschen, die ständig in der Angst leben mussten, von einer verirrten oder auch gezielten Kugel getroffen zu werden, ist das Ende der ständigen Schusswechsel ein gewaltiger Zuwachs an Lebensqualität. Außerdem bemühen sich die UPPS durchaus, die Konfrontationsstrategie der Polizei in der Favela aufzubrechen. Aber zu glauben, dass die UPPs auch das Drogengeschäft unterbunden hätten, wäre falsch. Die Drogenhändler sind vertrieben, aber der Drogenhandel geht weiter.
Von einem Paradigmenwechsel kann auch deswegen nicht gesprochen werden, da es sich lediglich um ein Pilotprojekt handelt. Zwar sollen einem Gesetzentwurf zufolge die UPPs mindestens 25 Jahre in den Favelas bleiben. Aber im besten Fall werden 2014 gerade einmal in 40 Favelas UPPs installiert worden sein. In Anbetracht von insgesamt über 1.000 Favelas – die zu etwa 55 Prozent von Drogenkommandos und etwa 40 Prozent durch Milizen kontrolliert werden – sicher keine strukturverändernde Anzahl.
Schließlich gibt es einen zukunftsweisenden Zusammenhang zwischen den UPPs und der Erstürmung von Vila Cruzeiro und Complexo do Alemão. Ein Blick auf den Stadtplan Rios zeigt, dass die UPPs dort installiert sind, wo die Wohlhabenden der Stadt wohnen, wo die Hotels stehen und die Sportstätten der Fußballweltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016 errichtet werden. Bundes-, Landes- und Stadtregierung in Rio eint das Interesse, Rio de Janeiro als attraktiven und vor allem sicheren Austragungsort für die Großereignisse zu präsentieren. Genug, dass das Land zuletzt wiederholt von der FIFA für geringe Fortschritte im Stadionbau und seine mangelhafte Infrastruktur gerügt worden ist. Schon vor 2014 stehen diverse (Stress-)Tests an: Bereits 2011 bringen die Internationalen Militärmeisterschaften fast so viel Sportler nach Rio wie die Olympischen Spiele; 2012 richtet die Stadt die große UNO-Konferenz Rio2012 zu Umwelt und Entwicklung aus, und 2013 tragen in Brasilien die acht besten Fußballmannschaften den Confederation Cup aus. Die Inszenierungen der Polizei- und Militäraktion von Ende November spielen wie die Diversifizierung der Befriedungsstrategien im Marketing der Stadt als internationalem Eventzentrum eine wichtige Rolle. In Rio und anderen Austragungsorten der Fußball-WM drohen Zwangsvertreibungen. In Rio seien mindestens 60 Siedlungen betroffen, auch wenn die Behörden konkrete Informationen dazu unter Verschluss hielten, sagte die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen, die brasilianische Urbanistin Raquel Rolnik, im November in Sao Paulo. Zivilgesellschaftliche Organisationen fordern, die Infrastrukturpolitik der nächsten Jahre breit und partizipativ unter der Perspektive des „Rechts auf Stadt“ zu debattieren.
Stigmatisierung und Kriminalisierung der Armen – Schweigen gegenüber den Milizen
Eine der Hauptbegründungen für die militärischen Operationen in den Armenvierteln ist, dass sie den Drogenhandel erfolgreich zurückdrängen. Der Kampf richtet sich einzig und allein gegen die Favelas und damit gegen die am meisten benachteiligte Bevölkerungsgruppe, die pauschal als Komplizen der Drogenhändler diffamiert wird. Doch der Anteil der Abgeordneten, welchen an illegalen Geschäften, einschließlich dem Drogenhandel, verdienen, dürfte einiges höher sein, sagt Marcelo Freixo. Der Abgeordnete weiß wovon er spricht. Auf seine Initiative hin wurde 2008 ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingerichtet, um gegen die sich in Rio ausbreitenden Milizen zu ermitteln. In den vergangenen fünf Jahren haben sie die Drogenkommandos aus etwa 400 Favelas verdrängt und selbst die Kontrolle dieser Armenviertel übernommen. Man erkennt sie an ihrem Symbol, dem grünen Dreieck, welches an die Häuserwände gemalt wird.
Nach außen stellen sich die Milizen häufig als »Schutzring« dar. Tatsächlich erpressen sie Schutzgelder, vergewaltigen, morden – und einige betreiben, entgegen eigenen Darstellungen, Drogen- und Waffenhandel, wie die von der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebene Studie „Vom Regen in die Traufe – Über das Phänomen der so genannten Milizen in Rio de Janeiro“ ergab. Dies gilt besonders für die Milizen, welche von Polizeikräften angeführt werden.
Auffällig ist, dass die Polizei in den von den Milizen besetzten Favelas keine Großrazzien durchführt und keine UPPs einrichtet. Freixo glaubt die Gründe hierfür zu kennen. Zum einen betrachtet die Regierung die Milizen als Verbündete beim Kampf gegen die Drogenkommandos. Nicht selten unterstützt die Polizei sogar die Milizen bei deren gewalttätigem Eindringen in die von Drogenkommandos besetzten Favelas. Zum anderen sind zahlreiche Politiker der Stadt in die Geschäfte der Milizen selbst verwickelt. Dies beschreibt der Film „Tropa de Elite Teil Zwei“ in eindringlicher Weise als ein funktionierendes System. Capitão Nascimento ist jetzt in die Politik gegangen und muss erkennen, dass die, die das Recht durchsetzen sollen, das organisierte Verbrechen betreiben. Der Film läuft seit Oktober in den brasilianischen Kinos und ist schon jetzt die meistgesehene nationale Produktion aller Zeiten.
Sven Hilbig ist Referent für Klimawandel und Armutsbekämpfung in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin und arbeitete von 2001 bis 2006 für die brasilianische Menschenrechtsorganisation Justiça Global in Rio de Janeiro.
Dawid Danilo Bartelt ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Brasilien, Rio de Janeiro.