Petersberg bei Bonn ist für Deutschland schon lange ein historischer Ort. Dort wurde im November 1949 das Petersberger Abkommen zwischen der deutschen Bundesregierung und den Alliierten geschlossen, der Marshallplan zum Wiederaufbau Deutschlands besiegelt. Die deutsche Regierung hat sich zu den Grundsätzen der Freiheit, Toleranz und Menschlichkeit bekannt und jegliches Wiederaufleben totalitärer Bestrebungen zu verhindern versprochen.
Offensichtlich mit dieser historischen Mission im Hinterkopf wurde genau an diesem Ort 2001ein weiteres Petersberger Abkommen geschlossen. Dieses Mal ging es um die Befriedung, Demokratisierung und den Wiederaufbau Afghanistans. Darauf folgende UN-Resolutionen legitimierten den demokratischen Transitionsprozess und das zivile und militärische Engagement der internationalen Gemeinschaft.
Genau zehn Jahre später – im Dezember 2011 – soll am gleichen Ort weniger Bilanz gezogen als vielmehr die Perspektiven (Beyond 2014) für das Land diskutiert werden, wenn sich wie angekündigt, die internationalen Truppen zurückzuziehen beginnen. Wie kann Afghanistan militärisch, politisch und ökonomisch mehr und mehr auf eigenen Füßen stehen? Die Konferenz soll um drei zentrale Komplexe herum organsiert werden – die Übergabe der Verantwortung, mit der ein Abzug der Internationalen Truppen bis 2014 erreicht werden soll, der politische Prozess, der zu einer Verhandlungslösung des Afghanistan-Konflikts führen soll, und eine langfristige Entwicklungsstrategie, mit der Afghanistan auch nach 2014 unterstützt werden soll. Diese Fragen sollen im Mittelpunkt stehen, weshalb folgerichtig die afghanische Regierung den Vorsitz auf dem Petersberg und in Bonn führt. Die deutsche Bundesregierung versteht sich als Gastgeber. Regie soll auf jeden Fall die afghanische Regierung führen. Im Vorfeld der Bonner Konferenz ist politische Dynamik zu Afghanistan zu erwarten: Im Juni 2011 wird US-Präsident Obama eine Zwischenbilanz seiner neuen Afghanistan-Strategie vorlegen und seine Ankündigungen zu einem Abzug der US-Truppen konkretisieren. Und im Oktober wird in der Türkei eine größere Konferenz stattfinden, auf der eine regionale Lösung des Afghanistan-Konflikts vorbereitet werden soll.
Blick zurück: 2001 war die Beteiligung der Taliban ein Tabu. 2011 ist es eine offene Frage, ob Vertreter der radikal-islamistischen Kämpfer eingeladen werden sollen. Damals waren die Taliban von der Petersberg-Konferenz ausgeschlossen, heute – in Zeiten von Programmen zur nationalen Aussöhnung mit den regierungsfeindlichen Kräften und deren Wiedereingliederung in die afghanische Gesellschaft – ist eine Teilnahme der Taliban ein Thema. Und ein Kontroverses dazu. Die politischen Konzessionen der Karzai-Regierung an die Aufständischen sind seit längerem unübersehbar. Im politischen Prozess werden längst Gesprächsangebote gemacht, bzw. geführt. Auch die US-Regierung verhandelt direkt mit den Taliban.
Ebenfalls 2001: Auch die Zivilgesellschaft war nicht direkt an den Petersberger Gesprächen beteiligt. Sie hat sich parallel getroffen. Der ehemalige Außenminister Afghanistans und heutige Berater von Regierungschef Karzai, Rangin Dadfar Spanta, spielte eine nicht unwichtige Rolle dabei. Im Juni 2001 stellte er sich bei der Heinrich-Böll-Stiftung in der Zentrale in Berlin vor. Mit einem Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung in Politikwissenschaft hatte er promoviert. Nun wollte er politisch aktiv werden, sich einmischen in den Aufbau seines Landes. Rangin Spanta lebte als Afghane im Exil in Aachen, wo er ein Bündnis afghanischer Oppositionsgruppen anführte. Er suchte nun unsere unmittelbare politische Unterstützung.
So hat unser eigenes demokratisches Engagement in Afghanistan seinen Anfang genommen. Nach dem Fall der Taliban Ende Oktober 2001 nahm Rangin Spanta dann am ersten Afghanistan-Fachgespräch der Stiftung am 14.11.2001 teil, u.a. neben Citha Maaß von der SWP und Susanne Schmeidl, die als Konfliktforscherin der Schweizerischen Friedensstiftung mehrmals in Afghanistan gewesen war. Beide Frauen wurden ein paar Tage später vom Auswärtigen Amt und vom UN-Sonderbeauftragten Afghanistan, Lakhdar Brahimi beauftragt, parallel zur offiziellen Petersberg-Konferenz eine Zivilgesellschaftskonferenz zu organisieren, die dann vom 29.11. bis 02.12.2001 in Königswinter am Fuße des Petersberges stattfand. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat sich aktiv und finan-ziell mit den neuen Sondermitteln des BMZ an dieser Konferenz der Zivilgesellschaft beteiligt. Unsere damalige Büroleiterin in Pakistan, Roshan Dhunjibhoy, begleitete mehrere Frauen aus der afghanischen Diaspora in Peshawar/Pakistan zur Zivilgesellschaftskonferenz in Königswinter. Rangin Dadfar Spanta reiste 2002 mit einem Auftrag zur Exploration von Arbeitsfeldern der Heinrich-Böll-Stiftung zum ersten Mal nach 20 Jahren wieder in seine Heimat.
Seit 2002 unterstützt die Stiftung in Afghanistan konsequent zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure. Wir begleiteten in Kabul u.a. die Gründung des Afghan Civil Society Forum, ACSF, in des-sen Aufsichtsrat die Stiftung heute vertreten ist. Neben dem in Afghanistan landesweit vernetzten und politisch sichtbaren ACSF ist mit dem Afghan Women Network (AWN) zehn Jahre später immer noch ein von der Heinrich-Böll-Stiftung von Anfang an unterstützter Dachverband politisch aktiv. Ab 2003 hatte die Heinrich-Böll-Stiftung ihre erste Büroadresse in Kabul im Gebäude des ACSF, bevor wir im Mai 2006 ein eigenes Bürogebäude bezogen. Für Parlamentarierinnen sind wir ein wichtiger Ort für Austausch, Wissen und Vernetzung geworden. Das langfristige Engagement im Bereich Frauenrechte, die Nähe zu Bürgerinnen und Bürgern und Unterstützung für zukunftsrelevante Themen wie Ökologie wird von unseren Partnern vor Ort geschätzt. Das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung ist über die Jahre zu einer wichtigen Anlaufstelle für zivilgesellschaftliche Organisationen geworden und nimmt seine Vermittlerrolle zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit ernst.
Wie steht es heute um die Einbeziehung des afghanischen Parlaments und der Zivilgesellschaft bei der neuerlichen Bonner Konferenz zu Afghanistan im Dezember 2011? Wie wird sie einbezogen? Oder wird sie – wie so häufig bei internationalen Konferenzen – ausgegrenzt? Welche Erwartungen hat die Zivilgesellschaft an solche Konferenzen überhaupt und an die internationale Gemeinschaft?
Diesen und weiteren Fragen werden wir in den nächsten Monaten in verschiedenen Formen nachgehen: mit diesem Dossier und einer Konferenz am 23. November in Berlin. Den demokratischen Kräften Afghanistans wollen wir einen Raum für Analysen und Debatten geben. Wie sehen sie die Zukunft des Landes – zehn Jahre nach der ersten Vertreibung der Taliban, nach Wahlen, nach zehn Jahren ziviler Aufbauhilfe und einem nicht enden wollenden Krieg? Welche Erwartungen richten sie in der aktuellen Situation an die eigene Regierung und die internationale Gemeinschaft?
Barbara Unmüßig, Vorstand
Barbara Unmüßig
Barbara Unmüßig ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Sie hat zahlreiche Zeitschriften- und Buchbeiträge zu Fragen der internationalen Finanz- und Handelsbeziehungen, der internationalen Umweltpolitik und der Geschlechterpolitik veröffentlicht.Dossier
Afghanistan 2011 - 10 Jahre Internationales Engagement
Nach zehn Jahren internationalem Einsatz in Afghanistan wird im Dezember 2011 eine weitere Afghanistan-Konferenz in Bonn stattfinden. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt seit 2002 aktiv den zivilgesellschaftlichen Aufbau in Afghanistan und fördert den Austausch zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit. Das folgende Dossier gibt Raum für Kommentare, Analysen und Debatten im Vorfeld der Bonner Konferenz zu Afghanistan.