
Wer am 8. Oktober die Abendnachrichten des israelischen Fernsehens anstellte, sah ein Schauspiel, das für den modernen Staat Israel wohl bisher einmalig ist: bis zu 800.000 Menschen - etwa ein Zehntel der israelischen jüdischen Bevölkerung - drängten sich rund um den Sanhedria Friedhof in Jerusalem. Kurz nachdem die Nachricht vom Tod von Rabbi Ovadia Yosef bekannt wurde, setzten sich die Massen in Bewegung. Das Begräbnis des 93-jährigen spirituellen Oberhaupts der sephardischen Juden am gleichen Abend geriet zu einem Massenspektakel ungeahnten Ausmaßes. Es war das größte Begräbnis in der Geschichte Israels.
Mit seiner turbanartigen Kopfbedeckung, seinem goldbestickten schwarzen Gewand und der dunkeln Brille wurde seine Erscheinung bereits zu seinen Lebzeiten zu einer Ikone. Wer war dieser für Außenstehende anachronistische Repräsentant eines Teils des Judentums im modernen Israel?
1920 in Bagdad geboren, emigrierte seine Familie 1924 nach Palästina. 1972 wurde er zum Oberrabbiner der Sephardim in Israel, eine Position, die er bis 1983 innehatte. Sein Rücktritt minderte seinen Einfluss keineswegs, eher im Gegenteil. Seine unbestrittene Führungsposition dieses Teils des israelischen Judentums machte ihn auch zu einer politisch einflussreichen öffentlichen Figur. Mit seinen wöchentlichen am Shabbatabend abgehaltenen Predigten prägte er die Weltsicht vieler Menschen. Mit fortschreitendem Alter wurden diese Stellungnahmen weltfremder und extremer und erregten auch über die Grenzen des Staates Israel hinaus Aufsehen. So gab es einen Aufschrei als er über die Opfer des Holocaust sagte, ihr Schicksal sei das Zeichen für Sünden aus vorangegangenen Leben. Seine verbalen Ausfälle gegenüber Arabern brachten ihm den Ruf eines Rassisten ein. Was wiederum Mahmoud Abbas nicht davon abhielt, seiner Familie anlässlich seines Todes Beileid auszusprechen.
Er war die Quelle eines neuen sephardischen Stolzes, darüber sind sich die Kommentatoren einig. Den seit der Gründung des Staates Israel kulturell deklassierten und sozialen benachteiligten Emigranten aus Ländern wie Marokko, Algerien Ägypten, Iran und dem Irak schuf er eine neue Identität. Er kodifizierte die unterschiedlichen Lehren aus der Diaspora und befreite sie von den esoterischen Elementen des Sephardismus. Damit öffnete er den Weg in die israelische Gesellschaft für viele gläubige Einwanderer und ihre Nachkommen. Ausgestattet mit einer gemäßigten und den Anforderungen an die nationalen Interessen angepassten Lehre begründete der „ größte Weise seiner Zeit “ eine neue Tradition, die ein kulturelles Band aller Sephardim darstellte und ihnen eine neue kulturell-gesellschaftliche Identität ermöglichte. Allerdings gibt es auch Stimmen, die ihm vorwerfen, dass er seine Anhänger in Richtung hin zu ultra-orthodoxen Haltungen führte, eine Weltsicht, die immer mehr Gemeindemitglieder in die Isolation trieb und sie abhängig vom Sozialsystem machte.
Seinen Einfluss auf das Leben tausender Israelis zu ermessen, ist erst dann möglich, wenn man sich vor Augen führt, welche Bereiche des öffentlichen Lebens direkt durch die Entscheidungen religiöser Führerschaft beeinflusst werden. Beispielsweise die Entscheidung über die Legalität von Ehen, die Entscheidung darüber, wer als Jude anerkannt wird. Letzteres war von besonderer Bedeutung bei der Ankunft der äthiopischen Juden, die erst durch das religiöse Diktum Rabbi Ovadia Yosefs als vollwertige Bürger in die israelische Gesellschaft aufgenommen wurden und ihn folglich sehr verehrten.
Die eigentliche Schaltstelle zur politischen Macht und Mitsprache stellte die 1982 gegründete Shas-Partei dar, die politische Formation der religiösen Sepharden, die in der Folgezeit in fast allen Regierungen vertreten waren. Rabbi Ovadia Yosef wurde nach einigen Abspaltungen die unumstrittene geistige und politische Autorität. Er fällte die Entscheidung, dass die Shas-Partei 1992 mit der Arbeiterpartei Yitzak Rabins eine Koalition einging um damit den Weg zu Friedensverhandlungen mit den Palästinensern frei zu machen. Mit seinem zu diesem Zeitpunkt propagierten Grundsatz des pikuah nefesh, dass die Rettung von Menschenleben oberste Priorität vor allen anderen Gesetzen habe solle, stimmte er nicht nur der Rückgabe der Sinaihalbinsel 1967 zu, sondern unterstützte auch die weiteren politischen Lösungsversuche des Konflikts, indem die an der Regierungskoalition beteiligte Shas sich bei der Abstimmung über die Oslo-Verträge enthielt.
Formal und aus der Perspektive einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie erscheint dieser Einfluss begrenzt, auch wenn die Inspiration für die Politik einer einflussreichen und in die Händel der Macht in der Knesset verstrickten Partei aus einer vordemokratischen spirituellen Quelle sprudelte. Einige seiner politischen Opponenten argumentieren, dass sich darin nicht die Macht dieses geistigen Oberhaupts und seiner Entourage erschöpfte. Durch eine geschickte Personalpolitik, die Besetzung wichtiger Posten innerhalb der Schaltstellen des religiösen Establishments wurde diese Macht gefestigt und ausgebaut. Und durch eine Personalpolitik, die sich an ethnischen Zugehörigkeiten orientierte.
Solange allerdings die Grenzen zwischen der liberalen Grundsätzen einer modernen Demokratie, denen das parlamentarische Systems Israel zweifellos folgt, religiös-ethnischer Definition von nationaler Zugehörigkeit und öffentlicher Einflussnahme eines unkontrollierten religiösen Establishments nicht geklärt sind, solange kann man einem religiösen Führer nicht vorwerfen, dass er die Macht, die ihm gewährt wurde, auch nutzte.