Feministische Zukunft: Frieden und Sicherheit in der Ukraine neu denken

Veranstaltungsbericht

Die anhaltende militärische Vollinvasion Russlands in der Ukraine erfordert neue Perspektiven auf Frieden und Sicherheit. Beim CSW69-NGO-Forum diskutierten Expertinnen einen ganzheitlichen feministischen Ansatz mit Fokus auf Verteidigung, Energie und Zivilgesellschaft.

Foto: Fünf Personen stehen in einem Saal vor einer Leinwand und halten gemeinsam eine ukrainische Flagge.
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Oksana Potapova, Anna Lysiak, Valentyna Beliakova, Galyna Kotliuk, Kateryna Pryimak (v.l.n.r.)

Die anhaltende militärische Vollinvasion Russlands in der Ukraine in all ihren Dimensionen hat massive Auswirkungen auf alle Bewohner*innen des Landes. Die unmittelbare militärische Bedrohung durch Beschuss, die Unsicherheit in Bezug auf Energieversorgung und alle Aspekte des Lebens, einschließlich der sozialen Sicherheit, der Infrastruktur, des Gesundheitswesens – um nur einige zu nennen – sind zum Alltag aller Ukrainer*innen geworden, von denen 3,7 Millionen innerhalb des Landes vertrieben wurden und 6 Millionen Zuflucht in EU-Ländern gefunden haben. Die finanzielle Belastung des Wiederaufbaus ist immens: Nach einer gemeinsamen Schätzung der ukrainischen Regierung, der Weltbankgruppe, der Europäischen Kommission und der Vereinten Nationen vom 31. Dezember 2024 werden sich die Gesamtkosten für den Wiederaufbau in den nächsten zehn Jahren auf 524 Milliarden US-Dollar belaufen. Diese Zahl entspricht ungefähr dem 2,8-fachen des für 2024 prognostizierten nominalen BIP der Ukraine.

Angesichts derartiger Zerstörungen erfordert der Weg zum Wiederaufbau der Ukraine und zur Sicherung eines nachhaltigen Friedens nicht nur militärische und politische Lösungen, sondern auch einen Fokus auf menschliche Sicherheit, Gerechtigkeit und soziale Resilienz. Die Frage eines möglichen gerechten Friedens und einer gerechten Sicherheit für die Ukraine muss umfassend und integrativ angegangen werden, unter Einbeziehung eines ganzheitlichen feministischen Ansatzes, der alle Facetten staatlicher Sicherheit und des Wohlergehens aller Menschen berücksichtigt.

Im Rahmen des CSW69-NGO-Forums in New York veranstaltete die Heinrich-Böll-Stiftung, Büro Kyjiw-Ukraine, in Zusammenarbeit mit dem Berliner Büro eine öffentliche Diskussion mit feministischen Expertinnen und Aktivistinnen aus der Ukraine, um diese Perspektiven aus drei verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten: Verteidigungsstrategien, Energiesicherheit und zivilgesellschaftliches Engagement für den Widerstand und menschliche Sicherheit. Durch die Hervorhebung der Stimmen derjenigen, die direkt in der Ukraine und der Region arbeiten, schuf die Veranstaltung einen Raum für die Diskussion vielfältiger Visionen von Frieden und Sicherheit in der Ukraine und der gesamten Region Osteuropas. Der folgende Text fasst die wichtigsten Diskussionspunkte zusammen.

Dieser Bericht wurde gemeinsam mit den Speakerinnen der Veranstaltung verfasst:

  • Valentyna Beliakova (Leiterin des Women's Energy Club of Ukraine)
  • Kateryna Pryimak (Leiterin der Veteranka-Bewegung, Veteranin und Kampfsanitäterin) und 
  • Oksana Potapova (Forscherin, Menschenrechtsverteidigerin und Frauenrechtsaktivistin).

Moderiert wurde die Veranstaltung von Galyna Kotliuk, Programmkoordinatorin für Geschlechterdemokratie bei der Heinrich-Böll-Stiftung, Büro Kyjiw - Ukraine.

Modernisierung der Streitkräfte als feministisches Anliegen

Die ukrainische Armee hat seit 2014 eine enorme Entwicklung durchlaufen. Ein wichtiger Meilenstein dieses Wandels war die offizielle Aufnahme von Frauen in das Militär. Seit 2016 dürfen Frauen als Kämpferinnen in den ukrainischen Streitkräften dienen und erhalten damit gleichberechtigten Zugang zu militärischen Positionen, die zuvor eingeschränkt waren. Nach dem Stand vom September 2024 sind rund 68.000 Frauen bei den ukrainischen Streitkräften eingezogen worden, über 48.000 von ihnen dienen als Soldatinnen und rund 5.000 sind in Kampfgebieten eingesetzt. "Obwohl diese Veränderungen einen bedeutenden Fortschritt innerhalb der ukrainischen Streitkräfte darstellen, gibt es Raum für Weiterentwicklung und Bekämpfung von immer noch vorhandenen Methoden und Verhaltensweisen aus der Sowjetzeit", sagt Kateryna Pryimak, Leiterin der ukrainischen Frauenbewegung „Veteranka“. Sie betont, dass die zunehmende "Feminisierung" der Streitkräfte von kontinuierlichen Reformen begleitet werden muss, um sicherzustellen, dass die strukturellen Veränderungen mit der zunehmenden Präsenz von Frauen in den Streitkräften einhergehen.

Die Integration von Drohnentechnologien hat die Möglichkeiten für Frauen im ukrainischen Militär weiter verbessert. Immer mehr Frauen schließen sich freiwilligen mobilen Einheiten an, die für den Abschuss russischer Drohnen zuständig, die die ukrainische Zivilbevölkerung und Energieinfrastruktur terrorisieren. Die Beteiligung von Frauen stärkt nicht nur die Verteidigungsfähigkeit des Landes, sondern befähigt sie auch, Aufgaben zu übernehmen, die traditionell von Männern wahrgenommen werden.

Die Umsetzung von Reformen und die Arbeit mit neuen Technologien funktioniert mit Berufseinsteiger*innen in der Armee viel besser – ein Mentalitätswandel ist für die Weiterentwicklung notwendig.

Mehr weibliche Führungskräfte für die Energiesicherheit

Sie wollen den Geist der Menschen zerstören, denn man kann nicht normal leben, wenn man keinen Strom hat, wenn man keine Heizung im Haus hat und nicht weiß, was morgen passieren wird. 

Energiesicherheit ist nationale Sicherheit, und jeder Angriff auf die Energieinfrastruktur hat direkte Auswirkungen auf die Wirtschaft des Landes und auf jede*n Bürger*in. "Sie wollen den Geist der Menschen zerstören, denn man kann nicht normal leben, wenn man keinen Strom hat, wenn man keine Heizung im Haus hat und nicht weiß, was morgen passieren wird", sagt Valentyna Beliakova, Leiterin des Women's Energy Club of Ukraine. Jeder Angriff auf die Energieinfrastruktur hat direkte Auswirkungen auf die Gesundheit und Widerstandsfähigkeit der Ukrainer*innen. Nicht nur in der Ukraine, sondern in ganz Europa sind mehr Investitionen in erneuerbare Energien erforderlich, um die Sicherheit in diesem Bereich zu erhöhen.

Die Stromausfälle wirken sich besonders auf die Betreuer*innen aus – bei denen es sich zumeist um Frauen handelt – da sie sich unter schwierigen Umständen um Kinder und andere Familienmitglieder kümmern müssen. Ihre Perspektive ist entscheidend für das Verständnis der Bedürfnisse vulnerabler Gruppen für den kurz- und langfristigen Wiederaufbau sowie die Zukunft des Landes im Hinblick auf grüne Energiequellen. Aus diesem Grund sollten mehr Frauen Führungspositionen im Bereich der Energiesicherheit übernehmen. Der Women's Energy Club of Ukraine ist eine Plattform, die diese Entwicklung im Land fördert: Frauen tauschen ihr Fachwissen aus, bilden sich weiter und unterstützen gegenseitig in ihrer beruflichen Weiterentwicklung. Valentyna Beliakova betonte auch die Notwendigkeit, Netzwerke zu fördern, die die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt erhöhen und ihre Verantwortung stärken. Dies könnte ein geeigneter Ansatz sein, um der Abwanderung von Fachkräften aus dem Land entgegenzuwirken.

Feministische Graswurzelinitiativen als Pfeiler der Zivilgesellschaft

Angesichts der durch die russische Invasion ausgelösten beispiellosen Krise haben mehr als 75 Prozent der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die vor 2022 in verschiedenen Bereichen tätig gewesen sind, ihre bisherige Tätigkeit auf humanitäre Hilfe, Evakuierung und Unterstützung der von der Invasion betroffenen schutzbedürftigen Gruppen verlagert oder ausgeweitet. Dies gilt insbesondere für feministische und Frauenrechtsorganisationen, die den Großteil der Unterstützung für gefährdete Gruppen übernommen haben, einschließlich der Bereitstellung von Unterkünften für vertriebene Communities, der Unterstützung von Überlebenden konfliktbedingter sexueller Gewalt, von Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt und vielem mehr, wie Oksana Potapova, eine ukrainische feministische Aktivistin, erklärt.

Die Anpassung an die Umstände des Krieges bedeutete auch, dass Ressourcen von der Gleichstellungsarbeit auf dringende humanitäre Bedürfnisse verlagert wurden. Einige Frauenrechtsaktivistinnen haben begonnen, sich Sorgen um die Nachhaltigkeit der Gleichstellungsarbeit zu machen. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen die humanitäre Ausrichtung von Frauenrechtsorganisationen im Vordergrund geblieben ist und zu Burnout und Erschöpfung geführt hat. Die ukrainische Zivilgesellschaft und insbesondere die Frauenrechtsorganisationen unterscheiden sich nicht von den Frauenbewegungen in anderen Ländern, die dafür bekannt sind, dass sie Krisen schultern und die Rolle der Krisenreaktion und -nachsorge übernehmen, wobei sie häufig die Rolle und Funktionen von Nichtregierungsorganisationen (NRO) und sozialen Bewegungen doppeln oder ersetzen. Feministische und LGBTQI+-Communities werden besonders häufig als Orte der sozialen Reproduktion angesehen, da sie mehrere Funktionen erfüllen: Sie vertreten die Interessen der Gemeinschaften, gehen auf ihre Bedürfnisse ein, stellen wichtige Dienstleistungen bereit und bieten Betreuung an. Ihre komplexe Rolle und ihre komplexen Bedürfnisse werden jedoch von denjenigen, die sie finanzieren, meist ausgeblendet. Die Anerkennung der Arbeit, die feministische und queere Organisationen in Krisensituationen leisten, bedeutet, dass ihre Arbeit angemessen unterstützt und finanziert werden muss. Es bedeutet auch, dass die Stimmen dieser Akteure in alle Gespräche über Wiederaufbau, Frieden und Sicherheit während und nach dem Krieg sinnvoll einbezogen werden müssen. 

Gerechter Frieden und Sicherheit im Kontext feministischer Ansätze

Sicherheit und Frieden müssen umfassender verstanden und in die Frage nach dem Verhältnis von Feminismus und Krieg integriert werden. In diesem Zusammenhang verweist Oksana Potapova auf das im Rahmen der feministischen Friedens- und Sicherheitstheorie entwickelte Konzept eines Gewaltkontinuums, das einen umfassenden Ansatz zum Verständnis dieser miteinander verwobenen Themen bietet. Im Gegensatz zu eher klassischen Friedens- und Kriegstheorien, die "Frieden" als das Gegenteil von "Krieg" oder "Gewalt" betrachten, zeigt dieses Konzept auf, dass Gewalt von marginalisierten Individuen und Gemeinschaften auf komplexere Weise erlebt wird. Sie ist durch verschiedene Formen gekennzeichnet und manifestiert sich im Laufe der Zeit, oft schon lange vor der Anwendung von Militärgewalt. Sie umfasst verschiedene Formen geschlechtsspezifischer, rassistischer und anderer Arten von Gewalt und Ausgrenzung, die sich sowohl zu Hause als auch in Institutionen und im öffentlichen Raum manifestieren und insgesamt zu einer Gesellschaft führen, die für Randgruppen immer unsicherer wird. Am Beispiel von Putins homophober und frauenfeindlicher Politik und Rhetorik, die dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vorausgingen, stellt die feministische Wissenschaft einen Zusammenhang zwischen der Zunahme solcher Politiken innerhalb des Staates und den darauf folgenden wachsenden Risiken militarisierter Gewalt her. Es legt daher nahe, dass das Erreichen von nachhaltigem Frieden und sozialem Zusammenhalt eng mit dem Streben nach geschlechtsspezifischen Freiheiten und Gleichheit für alle verbunden ist.

Gleichstellung der Geschlechter und Sicherheit sind nicht nur voneinander abhängig, sondern prägen auch die Art und Weise, wie das Individuum auf Konflikte und Kriege reagiert. Diese Dynamik zeigt sich besonders deutlich in der Ukraine, wo viele Feministinnen und LGBTQI+ Personen sich sichtbar gemacht haben, indem sie sich aktiv an der Verteidigung ihres Landes beteiligten. Mit ihrem Eintritt in die Armee zeigen sie nicht nur, dass sie in der Lage sind, verschiedene Rollen in diesem Beruf zu übernehmen, sondern sie fordern auch, dass die Welt, für die sie kämpfen, eine ist, in der ihre Rechte ernst genommen und respektiert werden.

Wahre feministische Solidarität muss eine antiimperiale Perspektive einbeziehen und die Stimmen derer in den Vordergrund stellen, die heute unter den verschiedenen Formen imperialer Gewalt leiden.

Gleichzeitig müssen wir uns mit dem Paradoxon auseinandersetzen, dass die Ukraine derzeit eben Waffen braucht, um gegen eine ungerechte Invasion zu kämpfen, was in dem feministischen Manifest "Das Recht auf Widerstand", das auch drei Jahre nach seiner Veröffentlichung immer noch schmerzlich aktuell ist, gut zum Ausdruck gebracht wird. Wie im Manifest erwähnt, ist der Widerstand gegen verschiedene Formen von Gewalt, einschließlich Waffengewalt, Teil des weltweiten feministischen Kampfes. Gleichzeitig sprechen die Vorschläge vieler westlicher Feministinnen, die eine Position des blinden Pazifismus einnehmen, den Opfern direkter Gewalt das Recht auf die Wahl ihrer eigenen Antwort ab und sind somit mit dem Geist feministischer Solidarität nicht vereinbar. Darüber hinaus unterstrich Oksana Potapova, dass die Ursprünge der feministischen Friedensbewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im so genannten Globalen Norden entstanden, selten die Kritik an der damals noch vorhandenen kolonialen Gewalt einbezogen. Und auch heute noch versäumen es viele westliche Feministinnen, die dauerhaften Auswirkungen des Kolonialismus auf Gesellschaften, die noch immer unter seinen Folgen leiden, in den Mittelpunkt ihrer Analyse zu stellen. Wahre feministische Solidarität muss eine antiimperiale Perspektive einbeziehen und die Stimmen derer in den Vordergrund stellen, die heute unter den verschiedenen Formen imperialer Gewalt leiden.

Soziale Sicherheit und ein lebenswertes Leben für den Wiederaufbau

Infrastruktur, Energie, militärische Versorgung und Sicherheit im Alltag hängen alle mit der angestrebten Lebensqualität zusammen. Die Gewährleistung lebenswerter Bedingungen ist für dieses Ziel unerlässlich, betont Oksana Potapova. Ein feministischer Ansatz für den Wiederaufbau muss als wesentlicher Bestandteil der Sicherheit verstanden werden und unterscheidet sich von neoliberalen Strategien zur Unternehmensentwicklung, die den "Humankapital"-Ansatz für Menschen und ihre Bedürfnisse verfolgen. Statt der Fokussierung allein auf wirtschaftliches Wachstum steht aus feministischer Perspektive die Schaffung von Bedingungen für ein lebenswertes Leben im Vordergrund. Was dazu gehört, hängt von den Bedürfnissen der Menschen ab, die mit verschiedenen, sich wechselseitig bedingenden Formen der Vulnerabilität konfrontiert sind. Auf jeden Fall muss es bezahlbaren Wohnraum mit ausreichend Platz zum Leben, gleichberechtigten Zugang zu Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Bildung und sozialer Unterstützung sowie ein ausreichendes Einkommen zur Deckung aller Ausgaben umfassen.

Ein Beispiel für die Komplexität der Wiederaufbaubemühungen ist der Umgang mit der Ernährungssicherheit und dem Zugang zu Landnutzung. Dieser Bereich erfordert einen sensiblen und ausgewogenen Ansatz, da er potenzielle Spannungen zwischen makroökonomischen Zielen und menschlichen Sicherheitsbedürfnissen beinhaltet. Während Agrarreformen und Modernisierung Ineffizienzen beseitigen und die landwirtschaftliche Produktivität verbessern können, ist es auch wichtig, die Rolle der Kleinlandwirtschaft in der kulturellen und wirtschaftlichen Landschaft der Ukraine anzuerkennen. Viele Familien sind nach wie vor auf autarke landwirtschaftliche Praktiken angewiesen und bei jeder Veränderung müssen ihre Lebensgrundlagen und die möglichen sozialen Folgen einer umfassenden Landprivatisierung berücksichtigt werden.

Der ukrainische Weg des Wiederaufbaus sollte daher auf einem ganzheitlichen Wohlfahrtsmodell basieren und das sowohl in der ukrainischen Regierung als auch bei vielen europäischen Partnern vorherrschende Narrativ von Humankapital und Wachstum auf Unternehmensebene ausgleichen.