Ununterbrochener Antiziganismus: Sinti und Roma nach dem Überleben der NS-Verfolgung

Hintergrund

Auch nach Kriegsende wurden Sinti*zze und Romn*ja weiter ausgegrenzt, überwacht und kriminalisiert. Ihre Stimmen blieben lange ignoriert. Wie gelang es den Überlebenden dennoch, wieder in ein ziviles Leben zurückzufinden?

Familie Fischer am Familiengrab in Bremervörde, undatiert, nach 1951
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Familie Fischer am Familiengrab in Bremervörde, undatiert, nach 1951, Privatbesitz Familie Schmidt-Fischer

Mindestens 220.000 Sinti*zze und Romn*ja fielen dem nationalsozialistischen Völkermord zum Opfer. In allen Teilen Europas verfolgten die deutschen Nationalsozialist*innen und ihre Unterstützer*innen Menschen, die als „Zigeuner“ stigmatisiert und diffamiert wurden. War eine Person, unabhängig vom Alter, von den Behörden als „Zigeuner“ erfasst worden, so gab es kaum ein Entkommen. Die Deportation in Haftanstalten, Lager und Ghettos, Hunger, Zwangssterilisation, Vertreibung, Erschießungen und Mord gehörten zu den zentralen Erfahrungen von Sinti*zze und Romn*ja während des Zweiten Weltkrieges (Fings, 2019, 2024).

Die meisten Sinti*zze und Romn*ja waren in den Kriegsjahren von Angehörigen getrennt worden. So wussten die Überlebenden bei der Befreiung nicht, wo ihre Liebsten waren; ob diese überhaupt noch lebten. Wer körperlich dazu in der Lage war, versuchte so schnell wie möglich an den ehemaligen Wohnort zurückzukehren. Viele Überlebende hofften, so ihre Angehörigen wiederzufinden. Ihre Erwartungen wurden jedoch zumeist bitter enttäuscht: Nur selten kehrten Familienmitglieder, Freund*innen oder Bekannte zurück; viele hatten insbesondere das von der SS in Auschwitz-Birkenau eingerichtete Familienlager für Sinti*zze und Romn*ja nicht überlebt; viele andere waren bei Massenerschießungen ermordet worden (Fings, 2025; Holler, 2009; Nerdinger, 2016).

(Weiter-) Leben in der Hoffnung auf einen Neubeginn

Überlebende, die an ihre ehemaligen Wohnorte zurückkehrten, mussten feststellen, dass ihre Wohnungen von Fremden, manchmal von ihren Nachbar*innen übernommen worden waren. Oft hatten Sinti*zze und Romn*ja keinerlei Besitz mehr. Ihr Hab und Gut war geraubt, oft bereits verkauft oder im Krieg zerstört worden (Ulbricht, 2014). Doch längst nicht allen Überlebenden war eine Rückkehr in die alte Umgebung möglich. Grenzverschiebungen und damit einhergehende Bevölkerungsverschiebungen während und nach dem Krieg hatten insbesondere das östliche und südöstliche Europa stark verändert. So gab es für nicht wenige Sinti*zze und Romn*ja gar kein zurück (Florian, 2013). Ihnen stellten sich vor allem zwei übergroße Fragen: Zum einen ging es um das Wohin, zum anderen darum, wie sie an Informationen zum Schicksal ihrer Angehörigen, gegebenenfalls in Kontakt kommen könnten. Besonders diese heimatlos gemachten Sinti*zze und Romn*ja brauchten oft Jahre um herauszufinden, wo sich überlebende Familienmitglieder befanden (Stone, 2023). Zudem mussten sie ein neues Zuhause finden, sich eine neue Existenz aufbauen, sich in einer Region, manchmal in einer anderen Sprache zurechtfinden (Grandke). Erschwerend kam hinzu, dass Sinti*zze und Romn*ja auch nach der NS-Zeit weiterhin großen Vorurteilen gegenüberstanden. Kurz nach Kriegsende wurde die Verfolgung in Deutschland zeitweise anerkannt – vor allem aufgrund der alliierten Besatzung. Ab den 1950er Jahren änderte sich dies jedoch grundlegend (Joskowicz, 2016; Robel, 2021, 2022).

 Oft hatten Sinti*zze und Romn*ja keinerlei Besitz mehr.

Gesellschaftliche und staatliche Diskriminierung hielten in ganz Europa an. So lebten einige Sinti*zze und Romn*ja gezwungenermaßen noch lange nach dem Krieg in Behelfsunterkünften. Toni Hanny Schmidt, geb. Fischer (1923–1999), musste viele Jahre um Entschädigung kämpfen. Die Auschwitz-Überlebende schrieb mehrfach an das Bayerische Landesentschädigungsamt. Sie bat verzweifelt um Unterstützung. 1962, also knapp 20 Jahre nach der Befreiung, schrieb die dann zweifache Mutter: „Ich lege meine ganze Hoffnung in Ihre Hände, bitte nehmen Sie sich meiner an. Ich […] muss Jahrein, Jahraus, in einem Camping-Wohnwagen wohnen. Mein Gatte ist im ambulanten Gewerbe tätig, das reicht gerade zum Lebensunterhalt. Ich möchte doch meinen Kindern und mir auch einmal ein festes Heim schaffen. Bitte […] sind Sie mir nicht böse, dass ich Sie mit meinem persönlichen Kummer belästige. Wenn ich Sie noch bitten darf, geben Sie mir Antwort.“1 Die meisten überlebenden Sinti*zze und Romn*ja blieben nach der Verfolgung überwiegend auf sich allein gestellt und wurden weiterhin von der Mehrheitsgesellschaft zurückgewiesen und abgelehnt.

Anhaltende Kriminalisierung

Viele Sinti*zze und Romn*ja in der BRD wurden so um Entschädigung gebracht und weiter massiv kriminalisiert.

Die rassistisch begründete Sondererfassung bei der Polizei ging auch nach 1945 weiter. Zum Beispiel setzte im Münchner Polizeipräsidium die sogenannte „Dienststelle für Zigeunerfragen“ ihre Tätigkeiten fast bruchlos fort – teils mit demselben Personal wie zuvor. Die Rolle der Kriminalpolizei ist besonders negativ herauszustellen. In Westdeutschland wurden zum Beispiel Kripobeamt*innen für Gutachten in Entschädigungsverfahren für erlittenes NS-Unrecht eingesetzt. Diese Personen waren oft diejenigen, die in der NS-Zeit dafür gesorgt hatten, Sinti*zze und Romn*ja in Konzentrationslager zu deportieren. Nicht wenige dieser Kripobeamten hatten die Deportationszüge sogar persönlich begleitet (Grandke, 2021; Rauschenberger, 2024). Genau solche Mitarbeiter*innen der Kriminalpolizei galten dann in den westdeutschen Entschädigungsverfahren oft als Expert*innen. In ihren Gutachten begründeten sie die zumeist von ihnen selbst organisierten NS-Deportationen mit einer angeblichen „Asozialität“ der Sinti*zze und Romn*ja. Viele Sinti*zze und Romn*ja in der BRD wurden so um Entschädigung gebracht und weiter massiv kriminalisiert. Es war aber nicht nur das Personal der Kriminalpolizei nach dem Krieg, das sehr problematische Kontinuitäten mit der Zeit des Nationalsozialismus aufwies: Die Polizei benutzte auch über Jahrzehnte Aktenmaterial, das während der NS-Zeit zusammengestellt wurde, führ ihre Überwachungsarbeit weiter. Diese Akten enthielten extrem detaillierte Informationen über Einzelpersonen und ganze Familien. Stammbäume, Fotos, Fingerabdrücke usw. fanden eine Wiederverwendung. Im behördlichen Handeln wurde dies als äußert praktisch gewertet. Nicht selten wurden in den Polizeiakten der Nachkriegszeit sogar die KZ-Häftlingsnummern der Überlebenden verwendet.

Fortwährende strukturelle und gesellschaftliche Benachteiligung

Antiziganistische Vorurteile und auch staatliche Diskriminierung setzten sich nach 1945 in vielen Behörden und auch an Universitäten fort. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die Ursprünge dazu bereits weit vor 1933, also vor der NS-Zeit, liegen. Antiziganismus war und ist gesellschaftlich tief verwurzelt. Trotz der rassistischen und mörderischen NS-Verfolgung von Sinti*zze und Romn*ja haftete den Überlebenden weiterhin das Stigma an, sie seien „asozial“ oder „Berufsverbrecher“ (Reuter, 2014). Dadurch wurden Sinti*zze und Romn*ja aus dem Kreis der ehemaligen NS-Verfolgten in ganz Europa oftmals ausgegrenzt und blieben über Jahrzehnte eine marginalisierte Opfergruppe (Joskowicz, 2023; Nerdinger, 2016).

Antiziganismus war und ist gesellschaftlich tief verwurzelt.

Sinti*zze und Romn*ja mussten um Entschädigung und Unterstützung für die erlittenen Verluste, ihrer beschädigten Gesundheit und Probleme beim beruflichen Fortkommen kämpfen – und wurden oft von Opfern zu Tätern gemacht (Fings, 2015). In ganz Europa gab es sehr verschiedene Vorgaben und Grundlagen für materielle Hilfe und Entschädigung von NS-Überlebenden. In Westdeutschland begann insbesondere seit den 1950er-Jahren eine restriktive Praxis gegenüber Sinti*zze und Romn*ja. Viele erhielten nur sehr geringe Summen oder sie wurden von westdeutschen Entschädigungszahlungen ausgeschlossen. Die Behörden und Gerichte in Westdeutschland argumentierten zum Beispiel, dass Sinti*zze und Romn*ja bis 1943 in der Regel nicht aus „rassischen Gründen“, sondern aus präventiven Erwägungen verhaftet und deportiert worden seien. In den 1960er-Jahren wurde in der BRD einiges geändert – doch viele Sinti*zze und Romn*ja waren zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben oder erfuhren nichts von den neuen Reglungen. Auch in der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR gab es Antiziganismus. Entgegen dem Gründungsmythos vom Antifaschismus blieben viele Verantwortliche für den NS-Völkermord an den Sinti*zze und Romn*ja auch in der DDR auf freiem Fuß; die Überlebenden wurden auch hier gesellschaftlich ausgegrenzt (Meier, 2024).

(Weiter-) Leben mit den Toten

Reinhard Florian, ein deutscher Sinto und ursprünglich aus Ostpreußen, schrieb in seinen Erinnerungen eindringlich, wie unmöglich es für ihn war, nach dem Krieg an sein vorheriges Leben anzuknüpfen. Viele Sinti*zze und Romn*ja beschrieben die Zeit nach 1945 als zweite Verfolgung.2 Die fehlende Anerkennung und die weitere Kriminalisierung wirkten traumatisierend und insbesondere re-traumatisierend. Florian schrieb, dass er zwar im Mai 1945 aus dem Konzentrationslager befreit wurde, doch de facto ein Gefangener blieb, gefangen in der anhaltenden Diskriminierung, in der Angst und in seinen Erinnerungen an die NS-Verfolgung.3 Dazu war das Leben von Sinti*zze und Romn*ja durch einen großen Verlust geprägt. Das Leben nach dem Überleben war durchdrungen von tiefer Trauer. Es fehlten nicht nur die Angehörigen – auch Bräuche, Geschichten, Lieder und teils die gemeinsame Sprache waren zu große Teilen ausradiert worden. Die NS-Verfolgung und ihre Nachwirkungen waren allgegenwärtig.

Sinti*zze und Romn*ja versuchten der gesellschaftlichen und strukturellen Benachteiligung zu entkommen. Nicht wenige entschieden sich, ihre Identität zu verbergen und nicht über ihre Verfolgung zu sprechen. Manche hofften auf eine Auswanderung und auf ein Leben außerhalb Europas (Grandke 2025). Viele Sinti*zze und Romn*ja im deutschsprachigen Raum versuchten hingegen in den Nachkriegsjahrzehnten, möglichst unauffällig zu leben und von der deutschen Dominanzgesellschaft akzeptiert zu werden. In Westdeutschland organisierten sich dann besonders ab den 1970er-Jahren Sinti*zze und Romn*ja in einer Bürgerrechtsbewegung. Sie forderten Gleichberechtigung und Menschenrechte ein, prangerten den weitverbreiteten Antiziganismus an. Erst 1982 erkannte Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) als erster hoher politischer Vertreter der Bundesrepublik Deutschland den Völkermord an Sinti*zze und Romn*ja an. Dies war ein wichtiger und vor allem symbolischer Schritt, doch bis heute gibt es wenig Wissen über den NS-Genozid an Sinti*zze und Romn*ja in den europäischen Gesellschaften. Vorurteile und Ausgrenzung halten an. Der Familienverband bildet für viele überlebende Sinti*zze und Romn*ja wie auch deren Nachkommen oft den zentralen Rückzugsort – ein Raum, in dem sowohl die Erinnerung an die eigene Herkunft als auch das Gedenken an die Ermordeten bewahrt werden konnte und kann.

Literatur

Fings, Karola (2015): Schuldabwehr durch Schuldumkehr: Die Stigmatisierung der Sinti und Roma nach 1945. In: Mengersen, Oliver von (Hrsg.): Sinti und Roma: Eine deutsche Minderheit zwischen Diskriminierung und Emanzipation. Bonn, München: Bundeszentrale für Politische Bildung; Bayerische Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit, S. 145–164.

Fings, Karola (2019): „Voices of the Victims“: Eine andere Perspektive auf den Völkermord an den Sinti und Roma Europas. Gedenkstätten Rundbrief (194/6): S. 31–35.

Fings, Karola (2024): Sinti und Roma: Geschichte einer Minderheit. München: C.H. Beck.

Fings, Karola (2025): Auschwitz-Birkenau (Hauptbuch des Zigeunerlagers): Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa.

Florian, Reinhard (2013): Ich wollte nach Hause, nach Ostpreußen! Das Überleben eines deutschen Sinto. Berlin: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

Grandke, Sarah (2025): Displaced Persons. In: Encyclopaedia of the Nazi Genocide of the Sinti and Roma in Europe. Karola Fings (Hrsg.), Research Centre on Antigypsyism at Heidelberg University, Heidelberg:

Grandke, Sarah (2021): Die Verfolgung von Sinti und Roma im Deutschen Reich am Beispiel München. In: Karola Fings und Sybille Steinbacher (Hrsg.), Sinti und Roma: Der nationalsozialistische Völkermord in historischer und gesellschaftspolitischer Perspektive. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 29–51.

Holler, Martin (2009): Der nationalsozialistische Völkermord an den Roma in der besetzten Sowjetunion (1941–1944): Gutachten für das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Heidelberg: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma.

Joskowicz, Ari (2016): Romani Refugees and the Postwar Order. Journal of Contemporary History 4(51): 760–787.

Joskowicz, Ari (2023): Rain of ash: Roma, Jews, and the Holocaust. Princeton, Oxford: Princeton University Press.

Meier, Verena (2024): The Role of Sinti and Roma Survivors and the Criminal Police in the Prosecution of Nazi Perpetrators in the Soviet Occupation Zone. In: Suzanne Bardgett, Christine Schmidt, Dan Stone (Hrsg.) Survivors of Nazi Persecution: Cham: Springer, S. 165–186.

Nerdinger, Winfried (Hrsg.) (2016): Die Verfolgung der Sinti und Roma in München und Bayern 1933–1945. Berlin: Metropol.

Rauschenberger, Joey (2024): Wiedergutmachung. In: Encyclopaedia of the Nazi Genocide of the Sinti and Roma in Europe. Ed. by Karola Fings (Hrsg.), Research Centre on Antigypsyism at Heidelberg University, Heidelberg: Reuter, Frank (2014): Der Bann des Fremden: Die fotografische Konstruktion des "Zigeuners". Göttingen: Wallstein.

Robel, Yvonne (2021): Auf der Suche nach Brüchen: Überlegungen zu einer Geschichte des bundesdeutschen Antiziganismus nach 1945. In: Karola Fings und Sybille Steinbacher (Hrsg.) Sinti und Roma: Der nationalsozialistische Völkermord in historischer und gesellschaftspolitischer Perspektive. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 167–189.

Robel, Yvonne (2022): Erfahrung(en) eines Neubeginns? Sintize und Sinti, Romnja und Roma in der frühen Nachkriegszeit in Hamburg. In: Alyn Beßmann, Insa Eschebach und Oliver von Wrochem (Hrsg.) NS-Verfolgte nach der Befreiung: Göttingen: Wallstein, S. 173–186.

Stone, Dan (2023): Fate Unknown: Tracing the Missing after World War II and the Holocaust. Oxford: Oxford University Press.

Ulbricht, Josephine (2014): Die Enteignung der Münchner Sinti und Roma und die Rolle der Reichsfinanzverwaltung. In: Matthias Bahr und Peter Poth (Hrsg.): Hugo Höllenreiner: Das Zeugnis eines überlebenden Sinto und seine Perspektiven für eine bildungssensible Erinnerungskultur. Stuttgart: Kohlhammer, S. 165–176.

Fußnoten

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