Das andere Europa: Transnationale Erfahrungsräume in den Konzentrationslagern und nach der Befreiung

Hintergrund

In den NS-Lagern und auf den Rückwegen nach der Befreiung trafen Menschen aus ganz Europa aufeinander. Inmitten nationaler Unterschiede entstanden Solidarität und ein Gefühl der Gemeinsamkeit. Wurden hier bereits Erfahrungen eines gemeinsamen Europas gemacht?

Zahlreiche Personen sitzen an gedeckten Tischen, eine Frau steht sprechend am Rand, auf den Tischen stehen kleine Flaggen.
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Sitzung des vorläufigen Internationalen Ravensbrück-Komitees (IRK) für die Vorbereitung einer Gedenkstätte und Museums in Ravensbrück, Berlin 1956. Hier stehend: Erika Buchmann, sie stellt die ersten Vorschläge zur Gestaltung der künftigen Gedenkstätte vor.

„Im Lager wurde ich zum Europäer!“ Mit diesen Worten beschrieb Pierre Sudreau, Angehöriger der Résistance und später Minister in Frankreich, die Erfahrung seiner Gefangenschaft im Konzentrationslager Buchenwald (vgl. Knigge 2020: 268). „In diesem Vielvölkergemenge“, so auch die Überlebende Ramona Duracz rückblickend über das Konzentrationslager Auschwitz, konnten wir uns „mit eigenen Augen davon überzeugen, wie idiotisch alle Theorien von der Überlegenheit der einen oder anderen ‚Rasse‘ sind, wie sinnlos die Erzählungen von guten Polinnen, Französinnen, Holländerinnen, schlechten Tschechinnen, Jüdinnen, Griechinnen. (…). Am eigenen Körper erfuhr ich die Güte und die Schlechtigkeit der einen oder der anderen. Wir lernten, dass es kein Volk gibt, dem man das Etikett ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ anheften kann“ (vgl. Strzelecka 2009: 19).

Dieses „Vielvölkergemenge“ gab es in allen nationalsozialistischen Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkrieges. Aus allen von den Deutschen besetzten Ländern wurden Menschen in Lager deportiert und dort zur Zwangsarbeit verpflichtet. Viele hatten Widerstand gegen die deutsche Besatzung in ihrem Land geleistet. Juden und Jüdinnen sowie Sinti und Roma wurden aus rassistischen Gründen verfolgt.

Die Konzentrationslager waren Resultate der imperialistischen Machtpolitik des NS-Regimes. Mit militärischer Gewalt, der Vertreibung und Ermordung von Bevölkerungsgruppen und gezielten Veränderungen in der Bevölkerungsverteilung sollte ein Europa unter deutscher Vorherrschaft entstehen. Konzentrationslager bildeten gewissermaßen die Kehrseite: Hier waren all jene inhaftiert, für die in einem Europa unter nationalsozialistischen Vorzeichen kein Platz vorgesehen war – sie symbolisierten ‚das andere Europa‘.

Kontroversen über die Zukunft Europas

Leidenschaftlich diskutierten Häftlinge dieses ‚andere Europa’ und damit die Fragen der europäischen Nachkriegsordnung. Im KZ Ravensbrück gab es eine Gruppe namens „Vereinte Nationen Europas“, in der je zwei Häftlinge aus einem Land politische Konzepte der Zukunft erörterten (Genest et al. 2025: 63).

Diskutiert wurden Fragen wie: Sollte man auf Befreiung durch die Sowjetunion hoffen? Oder wäre von einer kommunistischen Zukunft nichts zu erwarten? „Wir durften den Glauben an die UdSSR nicht verlieren, sonst hätten wir die Hoffnung verloren und wären umgekommen“, so die tschechische Häftlingsärztin Zdena Nedvedova rückblickend (Nedvedova: 1972). Die polnische Aristokratin Karolina Lanckoronska sah das anders: Nachdem sie im Februar 1945 in einer der Baracken des KZ Ravensbrück von der Konferenz in Jalta gehört hatte, „ging ich von dort weg als Mensch ohne Vaterland“ (Lanckoronska 2003: 252). Wie ihr war zahlreichen Polinnen und Polen die Rückkehr in ihre fortan kommunistisch regierte Heimat unvorstellbar geworden.

Wie Lanckoronska sahen viele Häftlinge im Nationalsozialismus und Kommunismus gleichermaßen totalitäre Systeme.

Wie Lanckoronska sahen viele Häftlinge im Nationalsozialismus und Kommunismus gleichermaßen totalitäre Systeme. So gesehen sind die Lager der Diktaturen des 20. Jahrhunderts Räume extremer menschlicher Erfahrungen. Dieser Erfahrung wollte Milena Jesenská, tschechische Journalistin und Freundin Franz Kafkas, zusammen mit der späteren Sozialdemokratin und Publizistin Margarete Buber-Neumann nach ihrer Befreiung aus dem KZ Ravensbrück ein gemeinsames Buch widmen: „Ein Werk über die Konzentrationslager beider Diktaturen, mit Zählappellen, marschierenden uniformierten Kolonnen und der Entwürdigung von Menschen zu Millionen von Sklaven; in der einen Diktatur im Namen des Sozialismus, in der anderen zum Wohl und Gedeihen der Herrenmenschen.“ (Buber-Neumann 1993: 274) Dieses Buch konnte nicht geschrieben werden, da Jesenská 1942 in Ravensbrück ums Leben kam.

Jesenská, Buber-Neumann und Lanckoronska standen nicht allein: Andere wie beispielsweise Ruth Klüger (Theresienstadt und Auschwitz), Jorge Semprún (Buchenwald), Imre Kertész (Auschwitz und Buchenwald) oder Germaine Tillion (Ravensbrück) schrieben nach 1945 ihre Erinnerungen an die Zeit im Lager, ohne das feste Geländer eines ideologisch fundierten Geschichtsbildes.

Nationale Bezugspunkte und transnationale Begegnungen

Bei den Kontroversen der Häftlinge über die Zukunft Europas bildeten ihre Herkunftsländer den primären Bezugspunkt. Denn in den 1930er-Jahren waren die europäischen Kulturen ausgesprochen national geprägt. Unter der deutschen Besatzung verstand man die Erinnerung an die eigenen nationalen Kulturgüter als Widerstand gegen die deutsche Okkupation – in den Konzentrationslagern ebenso wie in den besetzten Ländern.

Die Erinnerungsberichte ehemaliger Häftlinge betonen immer wieder den patriotischen Charakter ihrer kulturellen Aktivitäten im Lager: Der Kanon des jeweiligen nationalen Kulturgutes stand im Mittelpunkt. Beispielsweise ist von „der ehrenvollen kulturellen und erzieherischen Arbeit unserer Polinnen“ die Rede, von den „Patriotinnen, die die Verantwortung für das moralische, psychische, geistige und kulturelle Leben der polnischen Häftlinge übernahmen“ (vgl. Winska 1985). Anlässlich von Stalins Geburtstag führten sowjetische Frauen Volkstänze auf; Sängerinnen sowjetischer Theater trugen Volkslieder vor (Müller, Bericht). Auch im Milieu der Rotarmistinnen und Kommunistinnen waren kulturelle Aktivitäten national geprägt.

Die französische Ethnologin Germaine Tillion berichtet, dass in ihrem Block „jeden Abend, nachdem das Licht gelöscht war, eine von uns (rief): ‚Frankreich…‘, und die anderen fielen ein: ‚…lebe hoch!‘ Es war ein täglicher Ritus, aus dem, tief im Inneren, ein heiliges Bild aufleuchtete.“ (Tillion 1998: 223)

Dennoch kam es auch zu transeuropäischen Aktivitäten: Ein Beispiel ist die Dekoration, mit der Häftlinge ihren Block an Weihnachten 1944 ausstaffierten – und zwar mit Hilfe von gestohlenem Papier und Kohlestücken aus dem Ofen: Eine Französin zeichnete „den Montmartre, die Flics, einen Hund mit zum Pinkeln erhobenem Bein“, während eine Italienerin die Wände mit Zeichnungen des heimatlichen Berges, des Monviso, schmückte. Darüber hinaus zeichnete sie „den Vesuv und eine Pinie wie auf einer Ansichtskarte“ (Rolfi 2016: 187).

Um Europa und nationale Typisierungen ging es auch bei einer szenischen Aufführung: Dargestellt wurde, wie die Nationalsozialisten „die europäischen Länder okkupierten“. An den Kostümen der Frauen seien die Nationen erkennbar geworden: „Der Brite, elegant, mit Handschuhen, wirbt um Frankreich (…), Polen kämpft, Jugoslawien auch“ usw. (Gorsic, Bericht).

Auch individuell fanden sich Mittel und Wege, um mit Häftlingen anderer Herkunftsländer zu kommunizieren – religiöse Prägungen erwiesen sich hier als durchaus hilfreich.

Die griechische Jüdin Bari Nahmias berichtet, dass sie sich in Ravensbrück mit einer Jüdin polnischer Herkunft auf Hebräisch verständigte: „Ich sang sogar Lieder jüdischer Festtage“ – mit der Folge, dass die Polin, die in der Häftlingsküche arbeitete, sie mit „zwei mit Margarine und Marmelade bestrichenen Brotscheiben“ beschenkte (zitiert nach Herzog und Efrat 2005: 100).

Weihnachten 1944, als das Ende des Zweiten Weltkrieges absehbar wurde, war in Ravensbrück Anlass transnationaler Begegnungen, wie sich auch die Italienerin Bianca Paganini Mori erinnert: Nachdem deutsche Inhaftierte, deren Baracke mit einem Weihnachtsbaum geschmückt war, nach Mitternacht Weihnachtslieder zu singen begannen, riefen sie die Italienerinnen dazu: „Ich erinnere mich, dass Maria Fasana Tu scendi dalle stelle, o Re del cielo und später Mamma sang. Alle weinten, auch die Deutschen, die offenbar verstanden, worum es in dem Lied ging.“ (Paganini Mori 2016: 260)

Nach der Befreiung

„Einmal herausgetreten aus seinen Ufern, ergoss sich der Strom der Freiheit (…) unaufhaltsam, und keine Möglichkeit blieb mehr, ihn in das alte enge Bett vorsichtigen Gehorsams zurückzuholen.“ (Vermehren 1987: 156). Isa Vermehren gehörte zu den sogenannten Sonderhäftlingen des NS-Regimes und wurde gegen Kriegsende mit etwa 150 weiteren Sonderhäftlingen in Tirol interniert. „Dass hier 21 Nationen, die seit sechs Jahren erbittertste Gegner waren und einen vernichtenden Krieg untereinander führten, in tiefster Friedlichkeit miteinander lebten“, beeindruckte sie tief: „Ein Traum schien in Erfüllung zu gehen, wenn auch in mikrokosmischer Form: ein einiges, ein heiteres Europa, eine heitere, einige Welt, in der Friede herrscht.“ (Vermehren 1987: 164 ff)

Margarete Buber-Neumann hatte im Sommer 1947 Gelegenheit, Freundinnen aus Ravensbrück in Oslo zu besuchen. Auf dem Bahnsteig wurde sie von Lise Börsum erwartet: „Es fiel mir schwer, Tränen zu unterdrücken, denn das war sie ja gar nicht mehr. Lise hatte sich vom Häftling in eine elegante Dame verwandelt“, die als erstes ihre deutsche Freundin zu einer Stadtrundfahrt in ihrem eigenen Wagen einlud. Der in Oslo zusammengekommene Ravensbrücker Freundinnenkreis erwartete eine Woche später Anicka Kvapilová, die aus Prag nach Norwegen emigrierte (Buber-Neumann 1978: 203 ff). Ähnlich wie Schweden, das nach Kriegsende zahlreiche Polinnen aufnahm, die nicht in ihre kommunistisch regierte Heimat zurückkehren wollten, bot Norwegen tschechischen Emigrantinnen und Emigranten eine neue Zukunft.

Lidia Beccaria Rolfi reiste 1947 aus der italienischen Provinz nach Paris, um dort ihre Ravensbrücker Freundin Monica wieder zu sehen. In Paris lernte sie eine neue Welt kennen, „authentisch, unangepasst, unverstellt, glaubwürdig“, eine neue Lebensart, „bei der man sich keinen Zwang antun musste und offen seine Gedanken aussprechen konnte“, Erfahrungen, die das weitere Leben Rolfis nachhaltig prägen sollten (Rolfi 2007: 140 f).

Wie nachhaltig sich die transnationalen Begegnungen in Ravensbrück auf das spätere Leben der Frauen auswirkten, zeigt nicht zuletzt der Nachlass von Antonina Nikiforova aus Sankt Petersburg, einer russischen Militärärztin: Darin ist eine umfangreiche Korrespondenz mit fünfzig ehemaligen Ravensbrücker Häftlingen aus ganz Europa erhalten (Saavedra Santis: 2013).

Bereits unmittelbar nach der Befreiung gründeten ehemalige NS-Verfolgte in allen vormals von Deutschen besetzten Ländern eigene Verbände, die sich in den 1950er- Jahren wiederum zu internationalen Komitees zusammenschlossen. Die Ehrung der Toten, der Einsatz für die Freiheit der Völker, der Erhalt des Friedens, die Vermittlung der antifaschistischen Ideale an die Jugend, die Sicherung von Beweisen und die Strafverfolgung der Täter waren erklärte Ziele dieser Komitees.

Der Prozess der europäischen Verständigung ist eine Antwort auf die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges – für ihn haben sich zahlreiche Überlebende der Lager auch über die Grenzen des Eisernen Vorhangs hinweg eingesetzt. Transnationale Vernetzung, das Engagement für humanitäre Belange und nicht zuletzt auch die Entwicklung der vormaligen Konzentrationslager zu europäischen Gedächtnisorten waren und sind Ziele der Überlebenden und ihrer Nachkommen – bis heute.

Literatur

Buber-Neumann, Margarete (1993): Als Gefangene bei Stalin und Hitler, Frankfurt a.M., Berlin: Ullstein.

Genest, Andrea; Touissant, Jeanette; Tuchel, Johannes (2025) (Hrsg.): Widerstand von Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück. Ausstellungskatalog, Berlin: Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

Herzog, Hanna; Efrat, Adi (2005): „Wir Griechinnen wurden klepsi klepsi genannt“. Jüdisch-griechische Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück, in: Bock, Gisela (Hrsg.): Genozid und Geschlecht. Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem, Berlin: Metropol.

Knigge, Volkhard (2020): Geschichte als Verunsicherung. Konzeptionen für ein historisches Begreifen des 20. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein.

Lanckeronska, Karolina (2003): Mut ist angeboren. Erinnerungen an den Krieg 1939–1945, Wien, Köln, Weimar: Böhlau.

Paganini Mori, Bianca (2016): Erinnerungsbericht, in: Rolfi, Lidia Beccaria; Bruzzone, Anna Maria (Hrsg.): Als Italienerin in Ravensbrück. Politische Gefangene berichten über ihre Deportation und ihre Haft im Frauen-Konzentrationslager, Berlin: Metropol.

Rolfi, Lidia Beccaria (2007): Zurückkehren als Fremde. Von Ravensbrück nach Italien: 1945–1948, Berlin: Metropol.

Rolfi, Lidia Beccaria (2016): Als Italienerin in Ravensbrück. Politische Gefangene berichten über ihre Deportation und Haft im Frauenkonzentrationslager, Berlin: Metropol.

Saavedra Santis, Ramona (2013): Im Auftrag der Erinnerung. Antonina Nikiforova und das Ravensbrück-Gedächtnis, Berlin: Metropol.

Strzelecka, Irena (2009): Das Frauenlager im KL Auschwitz-Birkenau. In: Hefte von Auschwitz 24/2009: 7–124.

Tillion, Germaine (1998): Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, Lüneburg: zu Klampen.

Vermehren, Isa (1987): Reise durch den letzten Akt. Ravensbrück, Buchenwald, Dachau: Eine Frau berichtet, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt

Winska, Urszula (1985): Zwyciezyly wartosci: Wspomnienia z Ravensbrück, Gdansk: Wydawnictwo Morskie.

 

Unveröffentlichte Quellen

MU Dr. Zdena Nedvedova 1972, Bericht NL 97/I-2, Archiv Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (im Folgenden: MGR/SBG)

Müller, Charlotte Bericht Slg Bu, Bd. 23 (267), MGR/SBG

Gorsic, Milka Bericht 7/895, MGR/SBG.

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