Chile: Wie die Ultrarechte mit Angstpolitik an die Macht kam

Analyse

José Antonio Kast hat die Präsidentschaftswahl in Chile gewonnen. Das Land steht nun vor der wohl tiefgreifendsten politischen Zäsur seit dem Ende der Militärdiktatur, analysiert unsere Büroleiterin Gitte Cullmann.

Ein Mann steht telefonierend an einem Schreibtisch, hinter ihm ein Gemälde und eine chilenische Flagge.
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Der Präsident der Republik Chile, Gabriel Boric Font, wird ein Telefongespräch mit dem gewählten Präsidenten José Antonio Kast führen.

Am Sonntag, den 14.12.25, setzte sich der ultrarechte Kandidat José Antonio Kast der Republikanischen Partei mit 58 Prozent in der Stichwahl um das Präsidentenamt in Chile durch. Er besiegte damit die linke ehemalige Arbeitsministerin Jeannette Jara, die auf 42 Prozent der Stimmen kam. Vielen Chilen*innen fiel die Entscheidung diesmal schwer: Sie hatten das Gefühl, sich zwischen zwei Extremen entscheiden zu müssen. Die Agenden der Kandidat*innen hätten politisch und ideologisch nicht unterschiedlicher sein können.

Jeannette Jara hatte als Arbeitsministerin im Kabinett von Gabriel Boric zwar wichtige sozialpolitische Verbesserungen durchsetzen können – etwa die Wochenarbeitszeit von 45 auf 40 Stunden verringert und den Mindestlohn von umgerechnet 350 auf 530 Euro angehoben. Doch die Zugehörigkeit der 51-Jährigen zur kommunistischen Partei und zum Kabinett Boric hat die Wahlentscheidung beeinflusst. In Chile pendelt die politische Gunst historisch zwischen dem rechten und linken Lager; der Wunsch nach Kontinuität des links-progressiven Kurses stieß bei der Mehrheit der Wähler*innen auf Ablehnung. 

Kast setzte vor allem auf Angstpolitik

Diese Wahl stand somit weniger im Zeichen programmatischer Debatten als vielmehr im Zeichen einer Abwahl der amtierenden Regierung. Trotz der Unterstützung durch das breite Parteienbündnis „Unidad por Chile“ – ein Zusammenschluss aus neun demokratischen (mitte-)links Parteien – fiel Jaras Niederlage mit einer Differenz von über 16 Prozent überdeutlich aus. Während 2019 noch Millionen Chilen*innen beim sogenannten Estadillo Social auf den Straßen für mehr soziale Gerechtigkeit und das Ende des neoliberalen Wirtschaftsmodells aus der Pinochet-Diktatur protestierten, hat sich das politische Panorama seither radikal gewandelt: Nach zwei gescheiterten Verfassungsprozessen schlug die Unzufriedenheit mit der amtierenden Regierung unter Boric in eine Politikverdrossenheit um. Diese bot fruchtbaren Boden für populistische Antworten auf komplexe Probleme boten und beförderte das Erstarken der Ultrarechten. José Antonio Kast füllte dieses Vakuum.

Der 59-Jährige Gründer der ultrarechten Republikanischen Partei (2019) war zuvor langjähriges Mitglied der Rechtspartei UDI (Unión Demócrata Independiente, übersetzt Unabhängige Demokratische Union). Seine Biographie ist eng mit der Geschichte der Rechten verknüpft: Er ist Sohn eines deutschen Wehrmachtssoldaten und NSDAP-Mitglieds sowie Bruder von Miguel Kast, einem ehemaligen Minister unter Pinochet. Als Vater von neun Kindern gehört Antonio Kast der erzkatholischen Schönstatt-Bewegung an. 

José Antonio Kast erzeugte mit seiner Rhetorik der „harten Hand“ ein tiefes gesellschaftliches Bedrohungsgefühl.

Die soziale Ungleichheit – eigentlich der Hauptgrund für die stagnierende Entwicklung des Landes – trat in Kasts Wahlkampf vollkommen in den Hintergrund. Sie wurde durch eine gezielte Angstmetaphorik rund um Migration und Kriminalität ersetzt. Obwohl Chile weiterhin als eines der sichersten Länder Lateinamerikas gilt, erzeugte seine Rhetorik der „harten Hand“ ein tiefes gesellschaftliches Bedrohungsgefühl. Dies verschleierte die 2019 im Estallido Social geforderten Systemveränderungen und brandmarkte die aktuelle Regierung gleichzeitig als Sündenbock. 

Anstatt konkrete programmatische Ideen vorzuschlagen, setzte Kast vor allem auf die Etablierung einer Atmosphäre von Angst. Dabei gab er sich im Vergleich zum Wahlkampf in 2021 sehr viel gemäßigter und staatsmännischer, um so  konservative Wähler*innen für sich zu gewinnen. Die Radikalisierung des ideologischen Kulturkampfs – geprägt von Anti-Globalismus, Anti-Gender, Anti-Migration – überließ er seinem vormaligen Kontrahenten und jetzigen Unterstützer Johannes Kaiser. Auf diese Weise stellte die Rechte sicher, dass auch das radikale Wählersegment geschlossen hinter dem Projekt von Kast steht.

Die chilenische Rechte strebt einen autoritär-technokratischen Staat an

Mit der Amtsübernahme von José Antonio Kast am 11. März 2026 steht Chile vor der wohl tiefgreifendsten politischen Zäsur seit dem Ende der Militärdiktatur vor 35 Jahren (1990). Einige Beobachter*innen ziehen sogar Parallelen zu den Umbrüchen nach dem Militärputsch von 1973 – wenngleich ohne Blutvergießen und als schleichenden Prozess. Dass Kast offen die Diktatur bewundert und sogar die Begnadigung von Miguel Krassnoff in Erwägung zog – einem der berüchtigtsten noch lebenden Menschenrechtsverbrecher der Diktatur – verdeutlicht seine Relativierung begangener Gräueltaten. Dies zeugt von einer gefährlichen Gleichgültigkeit gegenüber den Menschenrechten und der Vergangenheitsbewältigung. 

Gefährliche Gleichgültigkeit gegenüber den Menschenrechten und der Vergangenheitsbewältigung

Damit folgt Chile dem internationalen Trend des Illiberalismus bzw. Postliberalismus, der durch einen Autoritarismus neuen Typs, einen nationalistischen Fokus auf geschlossene Grenzen sowie eine offene Feindseligkeit gegenüber der liberalen, säkularen und pluralistischen Demokratie gekennzeichnet ist. Die neue chilenische Rechte ist dabei weder eine bloße Rückkehr zum traditionellen Konservatismus noch eine einfache Wiederholung des klassischen Pinochetismus. Vielmehr handelt es sich um eine moderne politische Kraft, die das digitale Zeitalter für sich nutzt und international eng vernetzt ist.

Das Ziel ist es, die kulturellen und sozialen Fortschritte der letzten Jahrzehnte in Chile nicht nur durch Gesetze, sondern durch einen tiefgreifenden Umbau von Staat und Zivilgesellschaft sowie durch entschlossenes Handeln der Exekutive rückgängig machen. Politisch strebt die chilenische Rechte einen autoritär-technokratischen Staat an, der primär auf Ordnungs- und Kontrollfunktionen ausgerichtet ist und den gesellschaftlichen Pluralismus systematisch zurückdrängt.

Das wirtschaftliche Leitbild ist ein deregulierter, nationalistischer Kapitalismus.

Das wirtschaftliche Leitbild ist ein deregulierter, nationalistischer Kapitalismus ohne globale Bindungen, gesteuert durch die faktischen Machteliten des Wirtschafts- und Unternehmenssektor – unter Inkaufnahme massiver Senkungen von Sozial- und Umweltstandards. Soziokulturell dominiert das Ideal der „traditionellen“ Familie; die Disziplinargewalt in Schulen sowie die Ordnung im öffentlichen Raum und auf der Straße sollen unter staatlicher Führung wiederhergestellt werden. Diese Ausrichtung wurde in Kasts erste Rede nach der Wahl überdeutlich, in der Gott und die traditionelle Familie als zentrale Referenzrahmen fungierten. 

Sein Plan „Desafío 90“ – der die Herausforderungen der ersten 90 Tage seiner Amtszeit darstellt - verdeutlicht die Geschwindigkeit, mit der dieser systematische Umbau erfolgen soll: Geplant ist eine Senkung der Unternehmenssteuern von 27 Prozent auf 20 Prozent sowie die vollständige Abschaffung der Steuern auf Kapitalerträge. Parallel dazu sollen die ohnehin unzureichenden Umwelt- und Sozialstandards für Investitionen drastisch gesenkt und die Prozesse der Umweltprüfbehörden beschnitten werden, was umweltschädliche Bergbauaktivitäten deutlich erleichtern würde. Ein radikaler Sparplan sieht zudem die Kürzung öffentlicher Ausgaben um 6 Mrd. US-Dollar vor - bei einem Gesamthaushalt von 90 Mrd. US-Dollar. Diese Rosskur zeigt deutliche Parallelen zu den aktuellen Entwicklungen in den USA, Argentinien oder Ungarn auf.

Chiles soziale und ökologische Herausforderungen bleiben

Für das linke Lager wird eine grundlegende Neuorientierung notwendig.

In Zukunft wird entscheidend sein, wie widerstandsfähig die chilenischen Institutionen gegenüber diesem Umbruch sind und inwieweit sie ihn abfedern können. Für das linke Lager wird eine grundlegende Neuorientierung notwendig, um eine konstruktive Oppositionsarbeit zu leisten. Trotz der klaren Niederlage stimmten über 5 Mio. Chilen*innen für Jara – viele davon ausdrücklich, um das disruptive Projekt von José Antonio Kast zu verhindern. Einer der zentralen Aufgaben wird es sein, dieser Wähler*innenschaft sowie jenen, die Kast primär aus ökonomischen Erwägungen und nicht aus faschistischer oder antidemokratischer Überzeugung gewählte haben, ein zukunftsfähiges Gegenprojekt vorzulegen. 

Chile stehlt aufgrund seiner massiven Vulnerabilität gegenüber der Klimakrise vor gewaltigen Herausforderungen. Die für die globale Dekarbonisierung unverzichtbaren Rohstoffe - Kupfer, Lithium und seltene Erden - erfordern ein verantwortungsvolles Wirtschaftsmodell. Ein stabiler institutioneller Rahmen ist dabei unerlässlich, um Biodiversität und Ökosysteme zu schützen und gleichzeitig eine menschenrechtszentrierte Rohstoffextraktion zu gewährleisten.


Redigiert von Bega Tesch und Julia Ziesche.

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