Von der Last und Lust des Wartens

Silhouette Wartender...

Wir tun es immer und überall, und fast immer tun wir’s sehr ungeduldig. Im Halbschlaf warten wir auf das Läuten des Weckers, auf dem Weg zur Arbeit auf Bus, Bahn oder im Verkehrsstau. Wir warten im Supermarkt vor der Kasse, warten vor dem Fernseher auf den Beginn der Lieblingssendung, warten zweimal wöchentlich auf den Sechser im Lotto und immer mal wieder auf die im Wahlkampf versprochene Steuersenkung. Mal wartet man einsam, mal gemeinsam, häufig gestresst und selten entspannt; wartet an Bahnhöfen, auf Parkplätzen, im Café, an Flughäfen, bei Ärzten, vor Klotüren, an windigen, und wenn man Glück hat auch mal an sonnigen Orten. Der Tag beginnt mit Warten, und er endet mit dem Warten auf den folgenden. Kurz gesagt: «Das Leben ist ein Wartesaal» (Joseph Roth).

Sechs Monate seines Lebens, so sagen es uns die «Experten» mit den Hornbrillen und dem schütteren Haar, wartet der Durchschnittsamerikaner vor roten Ampeln, fünf Jahre verbringt er beim Schlangestehen, und 68 Stunden wartet er jährlich am Telefon. Der Mensch ist ein «Wartender». Er wartet, wartet und wartet sein Leben lang – und wahrscheinlich tut er es nur, weil er den Eindruck hat, dass die Zeit beim Warten langsamer vergeht.

Und trotzdem, obgleich wir es so häufig tun, wir lieben das Warten nicht und tun es deshalb hektisch, ungeduldig und ruhelos: «Wartʼ mal schnell!» Fünf verwartete Minuten lassen sich noch ertragen, zehn nur noch bei laufendem Motor. Dauert das Warten länger, ist mit unkontrollierten Aggressionsausbrüchen zu rechnen. Warten zählt zu den lästigen Zeiterfahrungen. Weil das so ist, warten wir oft nicht einmal mehr auf den von der Natur vorgesehenen Tag der Geburt eines Kindes, sondern legen den Termin dafür gemeinsam mit Arzt und Hebamme fest. Wir warten nicht mehr auf den Postboten und auch nicht mehr auf einen Brief, sondern erwarten, unverzüglich «angemailt» zu werden. Wir warten nicht mehr auf die Entwicklung unserer Urlaubfotos, sehen sie uns Sekunden nach dem Klick bereits an. Wir warten nicht mehr auf das Abklingen einer Erkältung, nicht mehr auf das Christkind und schon lange nicht mehr auf den Osterhasen. Wir wollen alles, immer, überall, und zwar sofort!

Warten hat einen schlechten Ruf. Es sei «vertane» Zeit. Zum Warten wird man »verdammt», «verurteilt» und oftmals auch «gezwungen». Warten ist so etwas wie ein Defekt, ist Sand im Getriebe, ein Fehler im System. Wartezeiten sind die Folge schlechter Organisation, mangelhaft durchdachter Planung und unausgereifter Technik. Warten ist «Zeitdiebstahl», «geraubte» Zeit, eine Art «Krankheit der Zeit», kurzum: Warten, das ist eine Zumutung.

Warten kann ganz unterschiedlich erlebt werden – es wird gehasst und genossen

Es ist nicht allzu verwegen, in der Moderne diejenige Epoche zu erkennen, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Warten abzuschaffen. Dass sie erfolgreich war, kann man nun beim besten Willen nicht behaupten. Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, müssen wir rundum modernisierten Zeitgenossen uns eingestehen, dass der aufwändig geführte Kampf gegen das Warten gescheitert ist. Angekommen sind wir in einer Welt, in der das Warten, dessen Abschaffung uns Jahr für Jahr lauter versprochen wurde, zur Alltagsnormalität gehört. Es ist paradox – durch die Vordertür vertrieben, kehrt die Warterei durch die Hintertür zurück. Warum die nicht enden wollende Mobilmachung gegen das Warten? Warum aber auch das Scheitern seiner Abschaffung? Warum dieser anhaltend erfolglose Kampf?

Die kurze Antwort: Weil Warten ambivalent ist, weil es ganz unterschiedlich erlebt wird. Es wird gehasst und genossen. Länger die Antwort, wenn man etwas genauer hinschaut. Dann nämlich entdeckt man, dass es nicht nur ein einziges Warten, sondern ganz unterschiedliche Formen und Qualitäten des Wartens gibt. Beginnen wir mit dem ärgerlichsten Warten.

Das Wartenlassen ist eine Praxis der Mächtigen und Möchtegernmächtigen

Das Wartenlassen zählt zu den verbreitetsten Selbstaufblähungsritualen der Mächtigen und noch mehr derer, die sich dafür halten. Es hat seine bevorzugten Orte. Das sind die Flure, die Gänge und Korridore, und das sind unzählige Vor-, Empfangs- und Wartezimmer. Dort trifft man, mal stehend, mal sitzend, aber fast immer mit geneigtem Kopf und hängenden Schultern, diejenigen an, über deren Zeit verfügt wird, die Opfer der Demonstration und der Manifestation sozialer Unterschiede. Wartenlassen ist eine soziale Praxis, der sich Mächtige und Möchtegernmächtige bedienen, um ihre Vorrangstellung zu zeigen und zu zelebrieren. Konkret sieht das dann so aus: ¬Privatpatienten kommen schneller dran, Kassenpatienten müssen mit längeren Wartezeiten rechnen. Den Pförtner kann man unverzüglich sprechen, den Herrn Direktor erst in drei Wochen. Nicht immer frei von sadistischen Attitüden und überzogenem Geltungsdrang genießen die Herren (es sind meist Herren) hinter den Doppeltüren die Ohnmachtserfahrungen derer, die vor der Tür auf ihre Direktiven warten. Kein Wunder, dass sich Wartende in solchen Situationen unwohl, abgewertet und entwürdigt fühlen. Ihr Warten ähnelt dem «eines Gefangenen auf die Gelegenheit zum Ausbruch» (Musil).

Den Zeit-ist-Geld-Anhängern gilt Warten als «verlorene» Zeit

Weniger entwürdigend, aber auch unerwünscht und frustrierend wird dort gewartet, wo die Verwertungslogik der knappen Zeit das Geschehen bestimmt, wo Zeit immer «genutzt», «gewonnen» und «gespart» werden muss. Im Umfeld der Zeit-ist-Geld-Diktate ist Warten, das nicht zum Geldverdienen oder Geldausgeben genutzt wird, mit dem Makel behaftet, «verlorene», oder «gestohlene» Zeit zu sein. In der Welt der Zeit-ist-Geld-Imperative spielt es keine Rolle, welche Qualitäten Warten hat. Den Zeit-ist-Geld-Anhängern gilt das Warten auf ein öffentliches Verkehrsmittel ebenso als «verlorene» Zeit wie das Warten auf die ersehnte Ankunft einer geliebten Person, das Warten im Verkehrsstau ist gleich unnütz für sie wie das Warten auf die Lottozahlen oder auf den Sonnenuntergang am Meeresstrand. Die qualitätslose Rechenmarke «Geld» raubt dem Warten jeden besonderen Charakter und jeglichen Eigensinn. Wo die Zeit zur Dienstmagd Mammons wurde, spielen die mit dem Warten verbundenen Gefühle und Stimmungen keine Rolle. Es wird dort weder freudig noch voller Hoffnung er- und gewartet, nicht zuversichtlich und nicht zukunftsfroh. Nur so kann der fatale Eindruck entstehen, man müsse etwas gegen das Warten unternehmen. Man unternimmt auch etwas, aber niemals so viel, dass das Warten abgeschafft würde. Warten ist nämlich nicht nur eine Last, sondern auch eine Lust.

Das Warten «stiehlt» uns nicht nur keine Zeit, es «schenkt» sie uns.

Dass das Warten auch zu den schönen Töchtern der Zeit gehört, erschließt sich bei einem Blick in das anregende Wörterbuch der Brüder Grimm. Sieht man dort beim Stichwort «Warten» nach, findet man nicht den geringsten Hinweis darauf, dass «Warten» etwas Unangenehmes, etwas Unnötiges oder gar etwas Entwürdigendes an sich haben könnte. Man entdeckt dort auch keine Andeutung, die dem Warten eine Nähe zur «Belästigung» oder gar zur «Nötigung» attestiert. Selbst von einer «verlorenen», einer «unnützen» Zeit steht dort nichts. Im Gegenteil, das Warten ist für die Grimms eine positiv besetzte, eine attraktive, menschen- und lebensfreundliche Zeitqualität. Warten, liest man dort, bedeutet: Wohin schauen, Ausschau halten, aufpassen, seine Aufmerksamkeit auf etwas richten, versorgen, pflegen, einem dienen, harren usw.

Wartezeiten sind Zeiten der Erwartung, des Hoffens und Wünschens, kurzum: Sie sind ein Geschenk der Zeit. Der Kampf gegen das Warten, heute zum Fortschrittsprogramm erklärt, wäre für die Brüder Grimm absurd, er gliche einem Kampf gegen das Lebendige im Leben und gegen die bunte Vielfalt des Zeitlichen.

Zu den Merkwürdigkeiten des begriffsgeschichtlichen Bedeutungswandels gehört es, dass wir einen der zentralen Bedeutungshöfe des Grimmʼschen «Wartens» heute nur mehr dort kennen, wo es um die Pflege – die «Wartung» – unserer Autos und Maschinen geht.
Das Warten «stiehlt» uns nicht nur keine Zeit, es «schenkt» sie uns. Der eindrücklichste Beleg für das Glück des Wartens ist Walter Benjamins Erfahrung, dass die Frauen schöner und schöner wurden, je länger er am Bahnsteig auf sie warten musste. Die Wartenden werden, vorausgesetzt, sie kämpfen nicht gegen das Warten an, vom Leben belohnt. Die Leere der Zeit, die wir «Warten» nennen, regt zu Phantasien, zu Gedankenspielen und zu Tagträumen an. Robert Walser erzählt davon nicht ohne Stolz: «Ich habe es gelernt, zu träumen während ich warte.» Und eine 25-jährige Jobberin an der Theatergarderobe schildert einer Journalistin ihr kleines Zeitenglück des Wartens: «Ich mag die Zeit des Wartens. Man ist so frei und kann nebenbei noch so viel anderes Zeug erledigen. Ich muss sagen, dass ich nie einen angenehmeren Job hatte.» Warten und Wartenkönnen bereichern das Leben, machen die Zeit und das Leben bunter, vielfältiger und friedlicher, mit einem starken Wort: menschlicher. Warum also der Frust über einen Verkehrsstau, was soll all die Empörung über die Zuspätkommenden und was die gereizt-hektische Suche nach einem unauffälligen Trick, sich in der Warteschlange nach vorne zu mogeln, um nur kurze Zeit später in der nächsten Warteschlange zu landen?

Selbst dort, wo es ums Zeitnutzen geht, sind Wartezeiten beileibe nicht immer «verlorene», sondern produktive und zuweilen auch profitable Zeiten. Man muss nur den am Flussufer vor sich hindösenden Angler, den wir uns als glücklichen Menschen vorstellen können, fragen. Seine Devise: «Bereit sein ist viel, warten können ist mehr.» (Schnitzler)
Aber auch Bauern und Bäuerinnen, Gärtner und Gärtnerinnen können ein schönes Lied vom Warten singen. Sie wissen, dass sie die «Kunst des Wartens» beherrschen müssen, um die schönsten Äpfel, die dicksten Kartoffeln und den besten Wein zu bekommen. Die Natur kann warten, und die, die mit ihr zu tun haben, sind gut beraten, es ihr nachzutun. «Gut Ding will Weile haben,» das trifft aber nicht nur auf wohlschmeckende Äpfel und guten Wein zu, ohne Warten geht auch in der Erziehung und Bildung nichts voran. Bildung, so Adorno, heißt «Wartenkönnen». Man kann Bildung nicht machen, man kann sie nur zulassen, muss auf sie warten. Und das heißt in der Erziehung und der Bildung immer auch aktives Tun, Aufmerksamkeit und Präsenz. Es darf nicht mit Untätigkeit und erst recht nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden. Thomas Mann beschreibt das in seinem «Felix Krull»: «Bildung wird nicht in stumpfer Fron oder Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßigganges; man erringt sie nicht, man atmet sie ein.»

Gebildete wissen: Wer sich auskennt, wer Bescheid weiß, kann warten. Warten auf das, was kommt, und warten auf Fragen und Antworten, die das Warten und das Abwarten zur Voraussetzung haben. Auf die Zukunft müssen wir alle warten, ohne Warten kommt sie nicht. Warten ist also nicht die Hölle. Die Hölle ist vielmehr ein Leben, das kein Warten kennt. Dann nämlich würde niemand mehr auf uns warten. «Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann.» (Tolstoi)  ---

 

Der Artikel wurde zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift Böll.Thema 2/2015: Sehnsucht nach Zeit.
 
Karlheinz Geißler schreibt, lehrt und lebt in München (→ www.timesandmore.com). Er hat mehrere Bücher zum Thema Zeit veröffentlicht, das neueste: Geißler Karlheinz/ Geißler Jonas: «Time is Honey. -Vom klugen Umgang mit Zeit», Oekom Verlag, München 2015.