Identitätspolitik – Facetten einer Debatte

Analyse

Die Wahl des amerikanischen Präsidenten Donald Trump im November 2016 hat eine breite Debatte über die politisch-strategische Ausrichtung linker Politik nach sich gezogen. Insbesondere über den Sinn von „Identitätspolitik“, also die Ausrichtung von Politik an der Berücksichtigung von marginalisierten Gesellschaftsgruppen, wurde kontrovers diskutiert. Den Auftakt zur jüngsten Diskussion machte im November 2016 ein Beitrag des US-amerikanischen Ideengeschichtlers Mark Lilla in der New York Times.

Vielfalt

Lilla forderte ein Ende der identitätspolitischen Ausrichtung der US-amerikanischen Linken. Er zieht in Zweifel, ob Diversity als Matrix einer emanzipatorischen Politik taugt und ob Politik sich gegenwärtig nicht eher an „Americans as Americans“ richten sollte, und zwar insoweit ihre Gemeinsamkeiten und nicht ihre Unterschiede herausgestellt werden. Die identitätspolitisch orientierte Linke habe den Sinn für den Teil der amerikanischen Bevölkerung verloren, der sich selbst keiner bestimmten Gruppe zurechnet, sondern einfach als Mehrheitsgesellschaft versteht. So habe die Linke vor allem die heterosexuellen Weißen vom Land wie den kleinen Mann aus den post-industriellen Revieren vergessen.

Durch die „narzistische“ Fixierung auf das eigene Milieu, die intellektuelle Blase des Universitätscampus, hätte die Linke nicht nur die soziale Frage aus dem Blick verloren, sondern mit der Entfernung vom Alltag und der Sprache vieler Amerikaner/innen ein Bild abgegeben, gegen das der Populismus die „Identität“ einer Mehrheitsgesellschaft in Stellung zu bringen versucht. Identitätspolitik ist also kein Privileg der Linken, sofern sich Identitätspolitik auch gegen die Minderheiten einer Gesellschaft richten kann: Der Ku-Klux-Klan sei schließlich die erste identitätspolitische Bewegung der USA gewesen.

Diese Position blieb umstritten: Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser zum Beispiel hat dieser Analyse vehement widersprochen. Für sie ist nicht die Identitätspolitik der amerikanischen Linken der Kern des Problems, sondern ihre Allianz mit „kommerziellen, oft dienstleistungsbasierten Sektoren von hohem Symbolgehalt (Wall Street, Silicon Valley und Hollywood)“. Gegen diesen „progressiven Neoliberalismus“ und seine Agenda habe die Trump-Wählerschaft im sogenannten „Rustbelt“ gestimmt. Dabei sei ein neoliberales Programm des Sozialabbaus der eigentliche Grund für die Wut der Betroffenen gewesen, nicht die Gleichstellung benachteiligter Gruppen.

Stimmen der bundesrepublikanischen Debatte

Auch in der Bundesrepublik entstand eine zum Teil hitzig geführte Debatte um Lillas Thesen und um deren Adaption. Die Fronten zeichneten sich schon im Oktober 2016 ab, nachdem die Publizistin Carolin Emcke den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten hatte. Emcke ist eine der prominentesten Stimmen, die im deutschen Diskurs mit Positionen einer linksliberalen Identitätspolitik in Verbindung gebracht werden. Emcke ergreift Partei für alle, die „anders aussehen, anders glauben, anders denken oder anders lieben“ als die Mehrheitsgesellschaft. Aus diesem Grund problematisiert sie insbesondere den politischen Sprachgebrauch, der Migrant/innen, religiöse Minderheiten, Frauen und Communities der LGBTI diskriminiert. Anlässlich der Friedenspreisverleihung in der Frankfurter Paulskirche warf ihr Adam Soboczynski, seines Zeichens Ressortchef des ZEIT-Feuilletons, in einem Artikel vor, sich an „Oberflächenproblemen“ abzuarbeiten, anstelle einer strukturellen Analyse; er kritisierte Emckes „betont sensiblen Blick auf Minderheiten und auf vermeintliche Abweichungen von gesellschaftlichen Normen“. Emcke wiederum hat jüngst, nach der Kritik ihrer Friedenspreisrede, in der Süddeutschen Zeitung einen Text veröffentlicht, der emphatisch die Bedeutung des „Gemeinsinns“ in einer „demokratischen Gesellschaft“ verteidigt; sie appelliert an ein republikanisches „Wir“, das ausdrücklich „über die partikularen, narzisstischen Interessen der Einzelnen hinausgeht“.

Die Kontroverse reichte aber weit über den Anlass der Friedenpreisverleihung hinaus. Im November 2016 hatte Adam Soboczynski das Thema dann unter dem Titel „Vielfalt von oben?“ erneut aufgerufen. Er skizzierte die Debatte in den USA und kam zu dem Schluss, dass die identitätspolitische Linke auch hierzulande eine Mitschuld an den Erfolgen der Rechtspopulisten trüge: „Wer vornehmlich auf die Identitätskarte setzt, liefert fatalerweise auch gute Argumente für jene, die identitätspolitisch eine Leitkultur einfordern und damit gerade auf die Ablehnung von Vielfalt abzielen.“

Doch diese Argumentation findet sich auch mit umgekehrten Vorzeichen: So bezweifelte zum Beispiel Christian Volk, ob eine Wiederentdeckung der sozialen Frage tatsächlich eine linke Politik gegen rechtspopulistische Herausforderungen wappnen kann. Ein Gegeneinander-Ausspielen von „Antidiskriminierungpolitik gegen eine Politik der sozialen Gerechtigkeit“ könne am Ende einer „rechten Sprachpolitik“ nützen, deren völkische, antipluralistische Narrative das Gegenstück zu dem bilden, was Volk mit Adorno für den normativen „Kern“ linker Politik hält: „Ohne Angst verschieden sein zu können.“ Weiter ging  noch Marie Schmidt. Sie weist die Versuche vehement zurück, verschiedene Arten der Diskriminierung gegeneinander auszuspielen und etwa armen Menschen vorzugaukeln, „es befördere irgendwie ihre Freiheit, wenn man von Latinos, Frauen und Körperbehinderten rücksichtlos reden dürfe“.

Ijoma Mangold mahnte dagegen eine „kritische Selbstbefragung“ des linksliberalen Milieus an. Der identitätspolitische Diskurs produziere groteske Sprech- und Denkverbote, jedwede Kritik werde im identitätspolitischen Lager als Anschlag auf Minderheitenrechte gewertet, und wer für einen „republikanischen Universalismus“ streite, würde im identitätspolitischen Lager als reaktionär gelten. Vielleicht könne am Ende der „gute, alte Universalismus“ die Gesellschaft doch eher zusammenführen als eine immer radikalere Diversity-Politik: „Die liberale Gesellschaft jedenfalls wird den Kampf gegen den rechten Populismus nicht gewinnen, wenn sie die identitätspolitischen Routinen für sakrosankt erklärt und die Räume des Nachdenkenswerten immer enger macht.“

Der Hamburger Sozialwissenschaftler Sighard Neckel hat das Problem in einer Krise der Gleichheit verortet. Die liberale Linke habe sich in den letzten Jahrzehnten vor allem gegen das Übel der Diskriminierung recht erfolgreich engagiert. Gleichzeit habe aber die wirtschaftliche Ungleichheit stark zugenommen. „Der Kampf um Anerkennung wurde vielfach gewonnen, der Kampf um Umverteilung ging hingegen weitgehend verloren […].“ Linksliberale Politik habe den Sinn für Klasseninteressen verloren. Zusammen mit ihrem Engagement für Identitätspolitik sei dadurch eine Repräsentationslücke entstanden, die vom Rechtspopulismus ausgefüllt werde.

Winfried Thaa argumentierte in eine ähnliche Richtung. Er konstatiert – wie Nancy Fraser – ein Bündnis zwischen kulturellen und ökonomischen Liberalen, das aber an der Marginalisierung der kleinen Leute gescheitert sei, wie die Brexit-Abstimmung und die Präsidentschaftswahl in den USA zeige. Thaa kommt zu dem Schluss: „Politik, die vor allem auf Identitäten setzt, eröffnet keine gemeinsamen Handlungsfelder.“ Für ihn ist die Antwort auf den rechtspopulistischen Furor eine Politik, die das Versprechen wieder einlöst, die Gesellschaft zu verändern sowie eine „Neuformulierung allgemeiner, gemeinwohlorientierter Ziele“.

Patrick Bahners dagegen zog nicht so sehr die normative Kritik an der Identitätspolitik in Zweifel als die Diagnose Lillas und anderer, diese Politik habe tatsächlich zu einer Schwächung der Linken geführt, die in der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ihren Kristallisationspunkt erreichte. An dieser Stelle lässt sich die Frage anschließen, ob Identitätspolitik tatsächlich für den Verfall der politischen Linken verantwortlich gemacht werden kann, oder ob sie nicht vielmehr ein Krisensymptom einer auseinanderdriftenden Gesellschaft ist, in der wiederum ein erheblicher Teil der Linken keine anderen Antworten findet, als sich im eigenen Milieu zu verschanzen und Politik der Community zu betreiben, anstatt sich in den Institutionen der Gesellschaft einzubringen.

Identitätspolitiken und Gesellschaft

Es gilt zur Einordnung linker Identitätspolitiken im Blick zu behalten, dass es um marginalisierte Gruppen geht, die versuchen, (negative) Fremd-Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft zurückzuweisen und dagegen (positive) Selbstbestimmungen zu entwickeln. Die Forderungen bestehen häufig zunächst darin, als Gruppe gehört und gesehen zu werden, weil ihre Mitglieder anderweitig keine Möglichkeit finden, sich als Individuen zu artikulieren. Aus dieser Gemengelage heraus ist die Idee eines „strategischen Essentialismus“ (Spivak) entstanden, der Merkmale der Gruppenzugehörigkeit strategisch einsetzt, um sich in der politischen Debatte Geltung zu verschaffen. Es ist vermutlich kaum strittig, dass eine fragmentierte und immer noch vielfach von Diskriminierungen durchzogene Gesellschaft sehr wohl Orte der besonderen Befähigung für betroffene Menschen braucht.

Ein „strategischer Essentialismus“ könnte jedoch – entgegen seiner Intention – ausgerechnet „strategisch“ nach hinten losgehen. Thierry Chervel unterstellt in seinem Artikel in der Zeitung Die Welt solche (nicht intendierten) Wirkungen einer identitätspolitischen Agenda. Für ihn liegt das Problem der identitätspolitischen Bewegungen vor allem in Folgendem: „Rassismus wird nicht im Namen der Gleichheit, sondern der Differenz bekämpft“. Gemeint ist eine Dissonanz zwischen dem Kampf gegen die Ungleichbehandlung von Menschen einerseits und die Begründung dieses Kampfes durch Differenz andererseits. Chervel geht noch weiter und befürchtet gar eine Art Bumerang-Effekt, wenn sich identitätspolitische Bewegungen „letztlich die Kategorien des Feindes zu eigen“ machten und in eine Rhetorik abzudriften drohten, in der die rechtsidentitären Narrative von „Nation“ und „Volk“ dominieren.

Die geschilderten Kontroversen zeigen bis hierhin, wie wichtig die von Lilla angestoßene Debatte für die Frage ist, ob und in welcher Form Identitätspolitik ein berechtigtes Anliegen vorbringt. Außerdem wird problematisiert, wie viel Identitätspolitik liberale Demokratien vertragen, d.h. an welchen Stellen eine solche Politik zur Vertiefung von gesellschaftlichen Gräben führen kann, statt sie zu schließen. Schließlich bieten liberale Demokratien und ihre offenen Gesellschaften, in denen es verschiedene Identitäten gibt, durchaus milieu-übergreifend angelegte Institutionen der Beteiligung. Es bleibt letztlich die kritische Frage zu stellen, inwieweit eine Politik der Communities, des Rückzugs in den „Kiez“ zu einer Wagenburgmentalität führt, die einer offenen, inklusiven Gesellschaft nicht eben entgegenkommt.

Aufgrund solcher Kritik dürfen aber keinesfalls die maßgeblichen Unterschiede von linker und rechter Identitätspolitik aus den Augen verloren werden. Rechte und linke Identitätspolitik unterscheiden sich schließlich deutlich darin, ob die jeweilige Bezugsgruppe einer „Identität“ gesellschaftlich eher dominant oder eher marginalisiert ist.

Was den Umgang mit Theorien im Spektrum der Identitätspolitik angeht, hat es jedoch fast den Anschein, als nutzten manche die Gunst der Stunde, um alte Rechnungen zu begleichen, einen endscheidenden Stich z.B. gegen die ungeliebten Theoreme des Poststrukturalismus sowie der Dekonstruktion zu machen, die dann gar zur Ursache des Rechtspopulismus erklärt werden sollten. Das überschätzt nicht nur den Einfluss solcher Theorien ungemein, es wäre auch eine einseitige Einschätzung ihrer Rezeption. Vielmehr dürfte die Konjunktur von Identitätspolitiken aus der Struktur gegenwärtiger Gesellschaften zu verstehen sein. Das gleichzeitige Bestehen von identitätspolitischen Bewegungen sowohl auf der politischen Linken als auch auf der politischen Rechten legt diesen Schluss zumindest nahe.

Kommunitarismus und Kosmopolitismus

Nun sind diese Debatten über die Bedeutung von Identität in Gemeinschaften keineswegs neu. In Teilen rufen sie einen alten Streit um Kommunitarismus und Liberalismus der 1980er und -90er wieder ins Gedächtnis. Für Autoren wie den Sozialphilosophen Charles Taylor, der aus der kanadischen Erfahrung verschiedener Sprachgemeinschaften für eine Pluralität von Identitäten plädierte, dürfte aber wohl kaum denkbar gewesen sein, mit welcher Macht der Kommunitarismus heute im Gewand einer identitären Rechten wiederkehren würde. Wie dabei kulturelle „Identität“ der politischen Rechten als Muster dient, um nach innen zu dominieren und sich nach außen durch Abschottung aus jeder Verantwortung für eine globalisierte Welt zu stehlen, mag eine Grenzbestimmung dafür sein, dass eine offene Gesellschaft für alle wohl kaum in einer Art Kampf um Identitäten zu erringen ist. Hier steht für die Linke eine politische Klärung an. Rückzug in die eigene Community bedeutet notwendig Exklusionen, raus in die Gesellschaft wird ebenso Zumutungen für alle Seiten bedeuten. Zumindest eine der Konfliktlinien verläuft dann möglicherweise nicht mehr nur zwischen Links und Rechts, sondern auch zwischen Offenheit und Geschlossenheit.

Dieses Feld nimmt insbesondere der Berliner Sozialwissenschaftler Michael Zürn in den Blick. Seine Forschungen zur Soziologie des Kosmopolitismus und Kommunitarismus beschreiben neue Konfliktlinien. Für Zürn ist die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit nicht mehr der entscheidende Konflikt im 21. Jahrhundert. Der grassierende Rechtspopulismus in Europa, die Schwäche der alten Volksparteien in Frankreich und Österreich wie der Wahlsieg Donald Trumps seien vielmehr Indizien für eine neue zentrale Konfliktkonstellation: Die Klassenkämpfe, die das 20. Jahrhundert geprägt haben, würden von den Auseinandersetzungen zwischen Kommunitarismus und Kosmopolitismus abgelöst. Hier rücken zwei große Fragen ins Zentrum. Wie offen sollen erstens nationale Grenzen „für Handel, für Menschen, für Ideen und auch für Emissionen sein? […] Und gibt es seine universal gültige Idee der Menschenrechte, die grenzüberschreitend wirkt?“ Zweitens werde darüber gestritten, auf welcher politischen Ebene Entscheidungen getroffen werden – auf der nationalen Ebene oder jenseits des Nationalstaates. Im Anschluss an diese Thesen stellen sich für die politische Linke die Fragen nach ihrer Offenheit in einer pluralistischen Gesellschaft.

Daraus wäre eine kritische Rückfrage nach dem Grad der Inklusivität auch an das „kosmopolitische Milieu“ zu richten. Es gilt dann auszuloten, inwieweit kosmopolitische Einstellungen, ein offener Umgang mit einer globalisierten Welt häufig mit einem hohen sozioökonomischen Status und sozialer Distinktion einhergehen. In dieser Argumentationslinie bestünde freilich eine wichtige Konsequenz darin, die kritische Frage nach Tendenzen zur Abschottung an alle gesellschaftlichen Milieus zu stellen, verbunden mit dem Anspruch, milieu-übergreifende Gemeinsamkeiten zu suchen.