„Die einzige Lösung für den Senegal ist, den Raum der Demokratie auszuweiten"

Interview

Interview mit Fadel Barro, Mitbegründer der Bewegung Y EN A MARRE über die senegalesische Jugend, die derzeitigen Proteste und warum sich Macky Sall mit seiner Politik selbst ein Bein stellt.

Jugend protestiert in Senegal auf den Straßen

Das Interview führte Selly Ba, Programmkoordinatorin im Senegalbüro der Heinrich-Böll-Stiftung.

Wie ist die derzeitige Situation in Senegal zu verstehen?

Um zu verstehen, was momentan im Senegal passiert, müssen wir ins Jahr 2012 und die damaligen Proteste zurückschauen, die dazu führten, dass Macky Sall ins Amt kam. Schnell zeigte sich, dass auch der neue Präsident Sall die Sorgen der Senegales/innen nicht ernst nahm und ihren Forderungen nach einer aufrichtigeren Führung nicht nachkam. Nach und nach schwächte er die Institutionen, so dass die Bevölkerung inzwischen gar kein Vertrauen mehr in diese hat.

Die politischen Gegner wurden zu Opfern einer instrumentalisierten Justiz. Khalifa Sall und Karim Wade, die beiden wichtigsten Oppositionsführer, landeten im Gefängnis. Und diejenigen, die noch nicht außer Gefecht gesetzt worden waren, wurden mit politischem Klientelismus kooptiert. Idrissa Seck, Zweiter bei den letzten Präsidentschaftswahlen, schloss sich schließlich Sall an. Genauso wie Seck, haben sich mittlerweile auch die lautesten und entschiedensten Gegner von Mackys Politik der Mehrheit des Präsidenten angeschlossen. Zuvor von der Justiz für ihre Kritik am Präsidenten verfolgt, werden sie nun im Austausch für ihr Schweigen und ihre Komplizenschaft in Ruhe gelassen - und entlohnt.

Übrig geblieben war letztendlich nur noch eine einzige kritische Stimme: nämlich die des Oppositionspolitikers Ousmane Sonko. Dieser brachte offen den Frust der Senegales/innen und deren Unzufriedenheit mit dem Regime Macky Salls auf den Tisch. In diesem Kontext der demokratischen Rückschritte und dem Ersticken der freien Wahlmöglichkeiten der Bürger/innen Senegals kam es im Februar zu den Anschuldigungen wegen Vergewaltigung gegen Ousmane Sonko.

Der Wille der Mächtigen, jegliche Opposition zu ersticken - durch Komplotts gegen politische Gegner oder die Schwächung der Justiz - hat in der Bevölkerung das Fass zum Überlaufen gebracht.  Inzwischen ist nicht mehr klar, wem sie überhaupt noch Glauben schenken soll.

Von dem Augenblick der Anschuldigungen an, änderte sich die Form der Meinungsäußerung. Die Menschen gingen auf die Straßen – und dies teilweise gewaltsam Die Anliegen der Protestierenden lassen sich hier unter verschiedenen Gesichtspunkten analysieren. Einige von ihnen gaben zu verstehen, dass sie keinen weiteren „Komplott“ gegen eine/n wichtigen Oppositionsführer/in durchgehen lassen würden. Andere wiederum wollten ihre generelle Unzufriedenheit und Ablehnung der Politik von Macky Sall zum Ausdruck bringen. Dazu zählte auch seine an die Jugend gerichtete Politik, die bekanntlich keine rühmlichen Ergebnisse gebracht hat. Denn hätte sie Früchte getragen, würden nicht all die jungen Menschen im Meer ihr Leben lassen. All diese jungen Menschen können angesichts geschlossener Grenzen nicht mehr weggehen. Und diejenigen, die es über das Meer geschafft haben, wurden teilweise ohne jegliche Unterstützung in ihr Land abgeschoben.

All die seit Jahren perspektivlosen jungen Menschen brachten nun (erneut) ihre Ablehnung in gewaltsamer Form zum Ausdruck.

 

Junger Protestierender vor Feuer

 

Warum greifen die Jugendlichen internationale Konzerne wie die französische Supermarktkette "Auchan" an?

Dass während der Unruhen auch Gebäude von multinationalen (französischen) Konzernen angegriffen wurden, darf nicht nur als Ausdruck antifranzösischer Ressentiments gesehen werden, die sich in Westafrika und im französischsprachigen Afrika ohnehin immer weiter ausbreiten.

Wir müssen viel weiter ausholen und über die Wirtschaftspartnerabkommen (EPAs) zwischen der Europäischen Union und den afrikanischen Staaten sprechen. Damals war in Senegal Präsident Abdoulaye Wade an der Macht und hatte sich geweigert, die Verträge zu unterzeichnen.

Meiner Ansicht nach hat die EU darauf gewartet, dass diese Präsidenten (wie Abdoulaye Wade) abtreten, um dann die eigene Strategie gegenüber den neuen Führern wie Macky Sall oder Alassane Ouattara zu ändern.

Deswegen unterzeichnete die EU nicht einen gemeinsamen Vertrag mit Regionalorganisationen wie der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion (UEMOA), sondern mit einzelnen Staaten. So kam es zur Unterzeichnung der APE mit Senegal, welche Auchan ermöglichten, sich in Senegal niederzulassen.

Aus dem Proteststurm angesichts der APE-Verträge entstand in den Jahren 2008-2009  sie Initiative „Auchan Dégage“ („Weg mit Auchan“), die im Prinzip am Anfang der heutigen "France dégage" (Frankreich verschwinde) - Bewegung steht und sich darin äußert, dass Jugendliche ihren Frust häufig durch Angriffe auf internationale und französische Konzerne äußern.

Dabei sticht Auchan heraus, da sich die Supermärkte nicht wie andere Firmenketten hauptsächlich in den schicken Bezirken befinden, in denen Menschen mit viel Geld leben. Die Auchan Niederlassungen finden sich in den ärmeren Arbeitervierteln, in denen die Menschen auf Kleingewerbe angewiesen sind. Damit steht Auchan in Konkurrenz mit den kleinen Ständen und Läden im Kiez.

Die Leute empfanden das als Angriff auf ihre Lebensgrundlage, auf ihre Art des Gelderwerbs, der Selbstversorgung und des Lebens.

Dies bedeutet nicht, dass wir gegen die Niederlassung ausländischer Marken bei uns sind! Das bedeutet lediglich, dass die multinationalen Konzerne unsere sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen berücksichtigen sollen, anstatt die Bevölkerung auf die Rolle einfacher Konsument/innen zu reduzieren.

 

2 – Welche Rolle spielen die unterschiedlichen Bewegungen und Parteien in der derzeitigen Konfrontation zwischen Sall und Sonko?

Als Pastef, (Patrioten Senegals) die politische Partei Ousmane Sonkos, mit dem Kampf begonnen hat, sind zivilgesellschaftliche Kräfte im Lande ihm zur Hilfe gekommen - so wie Y’En A Marre (YEM), die seit dem Machtantritt Macky Salls auf Probleme aufmerksam gemacht haben. So haben wir z.B. bereits Alarm geschlagen, als die Justiz in der Affäre Karim Wade (ehem. Präsidentschaftskandidat, der wegen Korruption vor den Wahlen 2019 verhaftet wurde, Anm. d.Redaktion) nicht unabhängig agierte und ihr Urteil auf Druck der Exekutive gefällt hat.

Wir haben immer davor gewarnt, dass es nach „Y en a marre“ (Wir haben es satt) ein „Il y a pire“ (Es wird schlimmer) geben würde. Die Justiz wird schwächer und mir war immer klar, dass zukünftige Proteste gewalttätiger ausfallen werden als im Juni 2011 (Im Zuge der Proteste gegen eine dritte Amtszeit Abdoulaye Wades, Anm. d. Redaktion).

Die Regierung nahm sich weiterhin alles nur Erdenkliche heraus, und als es schließlich zur Affäre um Sonko kam, beschlossen die Kräfte aus Opposition und Zivilgesellschaft, die sich bis dahin bereits gegen Machtmissbrauch auflehnten, jetzt nicht locker zu lassen.  

Und dabei haben wir nicht einmal darüber gesprochen, wie sehr seit Macky Salls Machtantritt öffentliche und demokratische Räume eingeschränkt wurden.

Sie sehen ja, wie sehr die Machthaber die Nichtregierungsorganisationen eingeschüchtert haben, verbunden mit dem Versuch, YEM zu diskreditieren.

Zum Verständnis: Macky Salls Strategie ist sehr einfach. Es geht ihm darum, jegliche Kräfte der Republik zu diskreditieren, damit er letztendlich Sonko allein gegenübersteht, den er für einen Populisten hält. Aber er hat dabei die eigene Bevölkerung falsch eingeschätzt.

Und die Senegales/innen haben gut reagiert. Der M2D1 hat versucht, uns alle in einem gemeinsamen Kampf zu vereinen. M2D kann im Übrigen zu einer noch größeren Plattform heranwachsen. So wie ich die Senegales/innen kenne, werden wir Synergien herstellen und zu einer Dynamik beitragen, um ein für alle Mal den Rechtsstaat wiederherzustellen.

 

Der Innenminister hat die Demonstrierenden als „Terrorist/innen“ bezeichnet und behauptet, dass sich hinter alledem fremd gesteuerte Kräfte verbergen. Was hat es damit tatsächlich auf sich?

Das ist absolut nichts Neues.

Jedes Mal, wenn sich verantwortungslose Politiker/innen dem Groll des Volkes gegenübersehen, beschuldigen sie verschiedene Gruppen, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Diese politische Strategie ist bekannt, sie hat aber lange genug die Welt zerstört.  „Weiße sind so …, Araber/innen sind so…, Schwarze so und junge Leute so…“

Anstatt genau hinzuhören und das Wesen der Forderungen zu verstehen, beschuldigen sie lieber einfach ganze Gruppen, stecken sie gedanklich in Kisten, eine Methode, um ein Subjekt zu entmenschlichen, um es besser zu unterdrücken. 

Es handelt sich hierbei jedoch lediglich um Vorwände zum Verschleiern einer viel komplexeren Realität.

 

Gibt es keine denn keine Gefahr durch Extremismus in Senegal?

Wenn Macky Sall Senegals Stabilität untergräbt, werden die Terroristen das ausnutzen. Doch das sollte kein Vorwand dafür sein, nicht für den Rechtsstaat zu kämpfen. Im Gegenteil.

Der beste Schutz gegen Extremismus und radikalen Islamismus sind Rechtsstaat und Demokratie, sind Freiheit in der Wahl der Lebensformen und vor allem, freie Meinungsäußerung.

Wenn alle republikanischen Wege, alle Möglichkeiten der Meinungsäußerung und des demokratischen "Atmens" außer Kraft gesetzt werden, dann stehen wir vor einem großen Problem. Wenn die Jugend noch andere Auffassungen hören könnte, wenn Karim Wade mit seinen Forderungen der PDS („Parti Démocratique Sénégalais“) noch im Land wäre, wenn Khalifa Sall noch die Werte der PS („Parti Socialiste“) von früher vertreten könnte und wenn die republikanischen Werte weiter gelten würden, dann wäre die Gegenwart eine andere.

Dann ließe sich die Jugend für konkrete demokratische Visionen besser mobilisieren. Wenn die verschiedenen politischen Parteien in ihrer Pluralität die Jugend ansprechen und mobilisieren könnten, wäre sie nicht so anfällig für gewalttätige Diskurse, weil sie ihre Hoffnung in die Politik setzen würden.

 

Das heißt, Mack Salls Politik provoziert Gegengewalt?

Heute sind alle Wege der Republik verstellt und deren Stimmen verstummt. Und Macky Sall sieht sich mit einer Radikalität konfrontiert, die ihn zu Grunde richten kann, die er aber sich selbst zuzuschreiben hat. Gegenwärtig besteht jedoch die einzige Lösung darin, den Raum der Demokratie auszuweiten. Das ist der einzige Weg zur Befriedung des Landes.

Sollen die Meinungen doch geäußert werden, sollen die Menschen doch in einen friedlichen Wettbewerb gegeneinander antreten; doch diese Kluft zwischen Macky und Sonko kann nur Zündstoff sein, da sie eher Emotionen schürt als eine ordentliche Debatte.

Nur so lässt sich der « Ausnahmefall Senegal » retten, in dem es immer ein Gleichgewicht zwischen Macht/Durchsetzung und Debatte gegeben hat. Nur so lässt sich das Projekt Demokratie annehmen, in allen seinen Nuancen und Formen.

Der Staat kann und darf Sonko nicht den Mund verbieten, nur, weil er nicht hören will, was dieser zu sagen hat. Er hat das Recht zu sein und seine Sicht auf die Dinge zu verteidigen. Das Urteil darüber obliegt den Senegales/innen. Alle demokratischen Ausdrucksformen, -nuancen, -ursprünge und Glaubensformen soll es geben dürfen. Genau diese Vielfalt macht ja die Schönheit und den Charme unseres Landes aus.

Wenn jedoch versucht wird, alle diese Stimmen zu ersticken, um die „Meinungsäußerung der Opposition so klein wie möglich zu halten“, dann muss man auch die Folgen akzeptieren. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Und Macky Sall ist gerade dabei, dafür sein Lehrgeld zu zahlen.

 

Fadel Barro Porträt
Fadel Barro in Dakar

 

Ein letztes Wort, eine Empfehlung?

Mein Schlusswort ist nicht nur eine Empfehlung, sondern eine Verpflichtung. Meines Erachtens nach müssen wir alle dafür eintreten, den demokratischen Raum zurückzuerobern; die Leute müssen wieder atmen können, sich äußern und diskutieren dürfen. Es handelt sich um eine gemeinsame Verpflichtung aller. Auch die jungen Leute sollen sich darin wiederfinden und keine falschen Antworten auf die richtigen Fragen bekommen.

Gewalt als Ausdrucksform ist beispielsweise eine Methode, die Stereotypen verstärkt, sie ist nicht dafür geeignet, uns aus der Armut herauszuholen. Die Gründe für Empörung und Gewalt lassen sich rechtfertigen und nachvollziehen. Doch Gewalt ist keine Antwort.

Die Antwort finden wir, wenn wir zu uns selbst zurückkehren, uns besser organisieren und unser Projekt neu formulieren, in Form eines alternativen Narratives. Es ist keine Lösung, uns gegenseitig niederzumetzeln, und auch nicht, im Meer zu sterben.

 


Fadel Barro ist Mitbegründer der Bewegung „Y’en a marre“, ein Zusammenschluss von Journalist/innen, Rapper/innen und Student/innen, der im Zuge der Proteste um eine dritte Amtszeit des damaligen Präsidenten Abdoulaye Wade 2011 in Dakar entstanden ist.

Das Kollektiv und seine Mitglieder haben es sich zum Ziel gesetzt das Engagement als Bürger/innen, vor allem der Jugend, zu fördern und panafrikanisch zu vernetzen. In diesem Zuge haben sich 37 afrikanische Bewegungen auf der Plattform Afrikki zusammengetan. Die Gründung der ersten Volksuniversität für Bürgerschaftliches Engagement (UPEC) in den Mauern der Universität Cheik Anta Diop in Dakar im Juli 2018 führte zu einem stärkeren Praxis- und Erfahrungsaustausch zwischen diesen Bewegungen. Basierend auf der „Urban Guerilla Poetry" laden Y'en a marre und andere mit Kunst und Kultur zu spontanen Auftritten mit Kino, Slam, Rap und Theater ein. Fadel Barro ist 2016 zum „Ambassador of Concsience“ von Amnesty International ernannt worden und koordiniert derzeit PPLAAF, eine Plattform zum Schutz von Whistleblowern in Afrika. 

 

[1] M2D vereint den Großteil der politischen Parteien der Opposition sowie die Organisationen der Zivilgesellschaft Senegals.