Überzeugt von der eigenen Wahrheit – Postfaktizität in Lateinamerika

Analyse

Das Wiedererstarken der Rechtsparteien in Lateinamerika ist auch das Ergebnis gezielter Desinformationskampagnen. Akteure mit einer offen wissenschaftsfeindlichen Haltung nutzen vor allem die sozialen Netzwerke um den öffentlichen Raum einzunehmen.

Postfaktizität in Lateinamerika

Als Jair Bolsonaro 2019 in Brasilien die Präsidentschaftswahl gewann, waren die fortschrittlichen Bewegungen in Lateinamerika fassungslos. Doch diese Wahl war kein Einzelfall: Der Sieg von Mauricio Macri 2015 in Argentinien, Alejandro Lacalle Pou in Uruguay, Lenín Moreno in Ecuador, Sebastián Piñera in Chile und auch der Putsch in Bolivien sind Entwicklungen, die nicht getrennt voneinander betrachtet werden können.

Die politischen Verhältnisse im Vorfeld dieser Wahlsiege können zwar nicht unbedingt über einen Kamm geschoren werden, doch ist das Wiedererstarken der Rechtsparteien, denen die genannten Politiker nahestehen und denen sie ihren Wahlerfolg verdanken, das Ergebnis einer Synergie zwischen bereits zuvor in der Gesellschaft vorhandenen konservativen Tendenzen und gezielten Desinformationskampagnen. Dieses Zusammenwirken hat die Konstruktion des Postfaktischen verstärkt. Dessen Erfolg gründet sich auf die Vereinnahmung des öffentlichen Raums durch soziale Netzwerke, Akteure aus dem Spektrum der neuen evangelikalen Kirchen und Bewegungen mit einer offen wissenschaftsfeindlichen Haltung.

Postfaktizität und Desinformation: Was sollen wir glauben?

Postfaktizität ist nicht die Negation der Wirklichkeit, sondern die Überzeugung, dass die eigene Position als einzig wahre über jeglichen Beweis des Gegenteils erhaben ist. Das Postfaktische wird nicht durch ein punktuelles Ereignis oder eine Falschmeldung erzeugt, sondern durch einen langwierigen Prozess der Sinnkonstruktion. Deshalb sprechen wir weniger von Falschmeldungen als vielmehr von Desinformationsprozessen, die den Nährboden für die Konstruktion des Postfaktischen bilden. Solche Prozesse stützen sich auf ein motiviertes Denken (motivated reasoning), bei dem unsere Überzeugungen nicht durch Evidenz verändert werden, sondern das, was wir glauben, für unsere Auswahl von Evidenzen ausschlaggebend ist.

Wie ein solcher Desinformationsprozess abläuft, zeigt sich beispielhaft in der Konstruktion von Vorstellungswelten zu Themen wie den Frauenrechten oder der ganzheitlichen Sexualerziehung. Jair Bolsonaro hat einen Großteil seines Wahlkampfes mit einem homophoben, antifeministischen Diskurs bestritten, gespickt mit Schuldzuweisungen für die Zerstörung der Familie, um eine Wählerschaft für sich zu gewinnen, die schon vorher ein traditionalistisches Weltbild hatte. Dieses Gedankengut wird schon seit Langem von ultrakonservativen religiösen Strömungen vermittelt, die sich in Brasilien massiv ausgebreitet haben. Deren territoriale Verankerung, die Nutzung der Medien und der intensive Einsatz sozialer Netzwerke sowie Dienste wie WhatsApp haben dazu beigetragen, den Einfluss Bolsonaros zu zementieren.

Guadalupe Nogués erläutert eingehend das Phänomen der Konstruktion des Postfaktischen anhand von drei Schlüsselbeispielen: den Verschwörungstheorien, verschiedenen Formen des Negationismus und dem postmodernen Relativismus.

Die Verschwörungstheorien stützen sich auf die Vorstellung, dass es Machtgruppen gibt, die zum eigenen Vorteil Wahrheiten verschleiern bzw. sich mit Unwahrheiten durchsetzen. So wurde beispielsweise in Argentinien die Debatte über Frauenrechte und den legalen Schwangerschaftsabbruch mit einer Flut von gezielten Falschmeldungen, sogenannten Hoaxes, gegeißelt, die über WhatsApp, YouTube und auch im Fernsehen verbreitet wurden. Das Spektrum reichte von haltlosen Spekulationen zu den Finanzierungsquellen der feministischen Organisationen über den unterstellten Einfluss internationaler Labors und sonstige undurchsichtige Geschäfte bis hin zur großen Verschwörung, die nur das Ziel habe, die Familie als Institution zu zerstören, und all dies gesteuert von Feministinnen und LGBTI. Nicht grundlos richten die militanten Vertreter der ultrakonservativen Rechten ihre Angriffe direkt gegen diese Gruppen.

Der Negationismus ist ein weiteres Beispiel für Postfaktizität. Seine Ausprägungsformen reichen von der Leugnung historischer Fakten wie z.B. des gewaltsamen Verschwindenlassens von Menschen in der Zeit der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983) über die von einem Teil der Rechten hartnäckig kleingeredete Zahl verschwundener Häftlinge bis hin zur Negation gesundheits- und umweltpolitischer Probleme wie der Klimakrise und HIV/AIDS. Selbst Institutionen wie die Großmütter der Plaza de Mayo, die wegen ihrer Nachforschungen zu den in Geheimgefängnissen der argentinischen Diktatur geborenen Kindern internationales Renommee genießen, wurden infrage gestellt.

Der Fall Bolsonaro in Brasilien und seine Interpretation der vom Coronavirus verursachten Krankheit als „kleine Grippe“ sind ein aussagekräftiger Beweis dafür, dass Negationismus zu humanitären Katastrophen ungeheuren Ausmaßes führen kann.

Der dritte Mechanismus bezieht sich auf den postmodernen Relativismus und stützt sich im Wesentlichen auf die Vorstellung, dass die Wirklichkeit ein gesellschaftliches Konstrukt ist und sich jeder Mensch die Wahrheit entsprechend seinen Standpunkten, Wahrnehmungen und Gefühlen zurechtlegt. Dieser Diskurs passt perfekt in die individualistische New-Age-Philosophie als Basis für die kulturelle Vorstellungswelt des Macrismus in Argentinien. Nach dieser Denkart bilden Unternehmertum, Begeisterung und individuelle Anstrengung die Erfolgsgrundlage in einer kapitalistischen, leistungsorientierten Gesellschaft, in der der Staat dank der allmählichen Abschaffung des kritischen Denkens jegliche kollektive und soziale Verantwortung von sich weisen kann.

Lateinamerikanische Politik in postfaktischen Zeiten

Die Rechtsparteien in Lateinamerika haben die heutigen Zeiten sehr genau studiert. Dank der Beratung durch internationale Kommunikationsfachleute haben sie begriffen, dass der Appell an die bereits existierenden konservativen Tendenzen in der Gesellschaft ein wahlpolitischer Trumpf ist. In den Desinformationskampagnen sind die sozialen Medien die treibenden Kräfte für den kulturellen Wandel, der für den Erfolg der Rechtsparteien notwendig ist. Die von ihnen aufgebauten Netzwerke führen in die Nähe identitärer Gruppierungen, und sie setzen die Aussagen von Sachkundigen und Wissenschaftler/innen mit denen von Influencern und bekannten Persönlichkeiten gleich, die sich aus konservativen Positionen heraus an die Spitze von Bewegungen setzen und sich damit profilieren.

Die Wirksamkeit der sozialen Medien liegt vor allem in ihren spezifischen Möglichkeiten: Die über solche Netzwerke transportierten Informationen stammen größtenteils aus Bezugsgruppen, zu denen die Menschen Vertrauen haben. Die ständige Zurschaustellung des individuellen Privatlebens fördert soziale und identitäre Segmentierung. Diese Segmentierung haben sich politische Bewegungen ausgesprochen erfolgreich zunutze gemacht, um anhand von Themen aus dem persönlichen Umfeld der Nutzer/innen die entsprechenden Kommunikationsinstrumente zu entwickeln und damit Einfluss auf deren Ängste, Unsicherheiten und Werte zu nehmen.

Besorgniserregend ist, dass die Mechanismen, die an Gefühle wie Menschenscheu, Zorn oder Verunsicherung appellieren, dazu genutzt werden, die Polarisierung auf die Spitze zu treiben. Die führenden Köpfe der populistischen Strömungen gewinnen so die fanatischsten Anhänger. Ein Teil der Bevölkerung entscheidet sich dafür, solchen Leitfiguren seine Stimme zu geben, und tut dies gerade wegen der wissenschaftsfeindlichen, negationistischen bzw. verschwörungstheoretischen Positionen, die diese vertreten. Die populistischen Leitfiguren fördern die irrige Vorstellung, dass praktisch jeder das Heft in die Hand nehmen kann. Daraus entsteht auch ihr beständiger Drang, sich als einflussreiche Individuen zu präsentieren (Bolsonaro und Trump sind dafür gute Beispiele) und den Anspruch kollektiver Politikanliegen zu umgehen.

Der argentinische Soziologe Saúl Feldman hat in seiner Analyse des Aufstiegs des Macrismus in Argentinien (2015-2019) den sorgfältig konstruierten kulturellen Wandel gründlich erforscht, durch den Macri an die Macht kam. Um die erfolgreiche Kommunikation der rechtspopulistischen Strömungen zu verstehen, untersucht Feldman den Begriff des common sense und dessen Merkmale. Nach seiner Analyse stützen sich solche Gruppen bei der Entwicklung ihrer Kommunikationsstrategien auf gesellschaftlich weit verbreitete Vorstellungen. Diese müssen schlicht sein, eine transparente Kausalität vermitteln und klare Verantwortlichkeiten zuschreiben. Ein Beispiel hierfür ist die Behauptung „arme Menschen sind arbeitsscheu“. Ein solches Gedankengut soll völlig unreflektiert übernommen werden können. Debatten mit dem Argument, es handele sich dabei um Allgemeinplätze wie „Jungs tragen hellblau und Mädchen rosa“, sollen gar nicht erst aufkommen. Ebenso geht es dabei um Konzepte, mit denen mehrere Generationen angesprochen und einleuchtende Erklärungen für durchgreifende Maßnahmen geliefert werden sollen: „Die Wirtschaft eines Landes ist wie ein Familienhaushalt: Man kann nicht mehr ausgeben als man erwirtschaftet.“

Ist das Grundgerüst der durch common sense entwickelten allgemeinen Überzeugungen erst einmal etabliert, beginnt darauf aufbauend die politische Arbeit. Dabei bildet der hierzu notwendige kulturelle Wandel den Untergrund für einen politischen Wandel: der common sense ist in der Regel konservativ geprägt; das Einwirken auf sein Gerüst aus Überzeugungen ist deshalb ein effektives Instrument, um dem fortschrittlichen Denken entgegenzutreten, das für die Integration von Minderheiten und die Erweiterung ihrer Rechte wirbt. In Lateinamerika fokussierte sich dieses konservative Gedankengut insbesondere auf den Kampf gegen die Amtsführung derjenigen, die erfolgreiche Politikkonzepte umsetzten, um Tausende von Menschen aus der Armut zu holen, wie Lula da Silva in Brasilien und Evo Morales in Bolivien.

Wie Feldman formuliert, ließe sich die Politik des Postfaktischen auch treffend als „Politik des Zynismus“ bezeichnen, für die so manche Spitzenvertreter/innen der Rechten große Sympathie hegen. Setzt sich diese Politik durch, so wird damit zunächst die Ehrlichkeitsvereinbarung zwischen den Politikbereichen und der Bürgerschaft gebrochen. So zeichnete sich der von Mauricio Macri geführte Wahlkampf 2015 beispielsweise dadurch aus, dass Macri eine ganze Reihe von Versprechungen machte, die keineswegs seinen Planungen entsprachen und die er auch niemals einhielt. Mit der Politik des Zynismus wird ein Raum der Sinnpervertierung geschaffen und all das ausgebeutet, was zum eigenen Vorteil gereichen kann, ohne dabei irgendeine Verantwortung zu übernehmen oder die Folgen zu bedenken.

Ein weiteres Merkmal des zynischen Diskurses ist die Straflosigkeit, gestützt auf die vermeintliche Überlegenheit der Person, die diesen Diskurs vertritt (erfolgreiche Unternehmer wie Macri, Trump oder Piñera sind Beispiele dafür). Der Vertreter des zynischen Diskurses weiß, dass er auf die Zustimmung derer zählen kann, die ihn legitimieren, ob es sich nun um wirtschaftliche, rechtliche, religiöse, mediale oder politische Machtgruppen oder auch um eine solide Basis an Gefolgsleuten handelt. Die politische Leitfigur kann sich über Evidenzen hinwegsetzen, jede Tatsache verdrehen und die barbarischsten Erklärungen abgeben.

Jede einzelne dieser Aktionen und das ihnen zugrundeliegende Gedankengut werden flankierend in sozialen Netzwerken, WhatsApp-Gruppen und Medien multipliziert, um so die kollektive Vorstellung zu schaffen, dass “es genau dies ist, was die Leute denken“. Damit werden immer extremere Ideen und Äußerungen legitimiert.

Postfaktizität und Zukunft

Der kulturelle Wandel, den die auf das Postfaktische gestützte Machtkonstruktion bewirkt, ist Teil einer dynamischen, paradoxen Situation: In dem Maße, in dem sich die sozialen Medien entwickeln und uns einander annähern, konfrontieren sie uns zunehmend mit der Entstehung geschlossener Kommunikationsräume und Bubbles, die zu spezifischen Sinngebungen beitragen. Die Politik baut demnach auf dieser Möglichkeit auf, Fakten zu verschleiern und Parallelwirklichkeiten zu schaffen, die sich auf konservativ geprägte ideologische und kulturelle Systeme stützen.

Der Macrismus in Argentinien ist dafür ein Paradebeispiel. Er fokussierte seine Kommunikationsstrategie auf die Stärkung der konservativsten Elemente des common sense, um damit nicht nur ein im Hinblick auf die Verteilung des Reichtums rückschrittliches Wirtschaftsmodell als naturgegeben zu etablieren, sondern die Gesellschaft gezielt dazu zu bringen, dieses Modell als alternativlos zu akzeptieren. Parallel dazu wurde ein kulturelles Bezugssystem verankert, mit dem die Grundprinzipien des Vertrauens in die Institutionen zerschlagen und soziale Projekte zunichtegemacht wurden. Gleichzeitig wurde so ein Paradigma geschaffen, das Elend und Armut einzig und allein der individuellen Verantwortung zuschreibt.

Wie Feldman ausführt, haben die Rechtsparteien nach dieser Logik ein neues, auf exzessiven Individualismus gestütztes Weltbild geschaffen, in dem Vorurteile, Ängste und Hass ihren Nährboden finden und als Input dienen, um auf Stimmenfang zu gehen und weite Teile des gesellschaftlichen Gefüges zu disziplinieren.

Der Aufbau einer Zukunft, die derartige Tendenzen überwindet, ist ohne Zweifel die größte Herausforderung, vor der die fortschrittlichen Bewegungen in Lateinamerika heute stehen.
 


Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt 


Der Artikel erschien ihn ähnlicher Fassung in Perspectivas Nr. 6 „Lügen, Hass und Desinformation – Lateinamerika in postfaktischen Zeiten“.