Die unendliche Geschichte vom Aufbau Bosnien-Herzegowinas

Analyse

Das Hauptproblem in Bosnien ist nicht etwa ein leise schwelender ethno-nationaler Konflikt. Ursache der Krisen seit 1995 ist vielmehr die Schwäche des Staates, sowie eine politische Elite, die zu Korruption, Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch im Namen vager ethnischer Interessen neigt. Ist die russische Aggression gegen die Ukraine ein Weckruf für die USA und die EU und ihr Engagement in Bosnien?

Slobodan Milosevic, Alija Izetbegovic, and Franjo Tudjman sign the Balkan Peace Agreement - Flickr - The Central Intelligence Agency.jpg|Slobodan Milosevic, Alija Izetbegovic, and Franjo Tudjman sign the Balkan Peace Agreement - Flickr - The Central Intelligence Agency

Seit dem Krieg ist in Bosnien-Herzegowina (Bosnien) die Zeit stehen geblieben. Obwohl es bereits zwölf Jahre her ist, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Sejdić and Finci zugunsten einer Verfassungsreform entschieden hat, wird immer noch über eine dauerhafte Lösung diskutiert. Seit den letzten Parlamentswahlen 2018 sind die Institutionen der Föderation von Bosnien und Herzegowina – eine der beiden Selbstverwaltungseinheiten des Landes – weiterhin nur Provisorien. Die Bildung der bosnischen Volkskammer dauerte fünf Monate. Eine nationale Regierung kam erst nach über einem Jahr zustande. Im Jahr 2019 tagte das bosnische Parlament kein einziges Mal, weil es von der Allianz Unabhängiger Sozialdemokraten (SNSD) blockiert wurde, der stärksten serbischen Partei in Bosnien unter der Führung von Milorad Dodik. Darüber hinaus drohte die Kroatische Demokratische Union (HDZ BiH) – die stärkste bosnisch-kroatische Partei unter Führung von Dragan Čović – damit, die Parlamentswahlen 2022 zu blockieren. Im Jahr 2020 und dann wieder Mitte 2021 setzten die serbischen Delegierten ihre Mitwirkung an nationalen Institutionen aus. Im Dezember 2021 kündigten sie an, die Zuständigkeiten in den Bereichen Justiz, Sicherheit und Verteidigung an die serbisch dominierte Republika Srpska (RS), die andere Selbstverwaltungseinheit Bosniens, zu übertragen. Solche Blockaden lähmen Entscheidungsprozesse auf lokaler Ebene und zeigen, dass die Politik der Erpressung aus den 1990er Jahren nach wie vor gang und gäbe ist.

Ein Staat auf schwachem Fundament

Entgegen der landläufigen Meinung ist das Hauptproblem in Bosnien nicht etwa ein leise schwelender ethno-nationaler Konflikt. Ursache der Krisen seit 1995 ist vielmehr die Schwäche des Staates, sowie eine politische Elite, die zu Korruption, Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch im Namen vager ethnischer Interessen neigt. Dem Land wurde ein konkordanzdemokratisches Modell aufgezwungen, dessen konsensbasierte politische Institutionen nicht nur ein zu ethnischen Spaltungen neigendes politisches Umfeld, sondern auch ein für Blockaden, Missbrauch und Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit anfälliges System geschaffen haben. Ferner wird im bosnischen System vornehmlich „hinter verschlossenen Türen“ Politik gemacht, was Rechenschaft und Transparenz behindert. Dieses System hat die bosnische Zivilgesellschaft an den Rand gedrängt. Das Daytoner Friedensabkommen von 1995 brachte zwar Frieden und ein Ende der Feindseligkeiten, doch ermöglichten die darin festgelegten Staatsbildungsmechanismen einer kleinen Gruppe von Eliten, die Macht zu übernehmen und sich alle drei konstituierenden Nationen zu unterwerfen: Bosniak*innen, Kroat*innen wie auch Serb*innen Das Wahlverhalten aus der Vorkriegszeit hat sich weitgehend erhalten – nationalistische Hardliner gewinnen die Wahlen regelmäßig, weil sie die Ansichten der Wählerschaft vertreten oder aufgrund allgegenwärtiger Netzwerke von Vetternwirtschaft, Korruption und Klientelismus.

Ethnizität und Vetos als Waffe

Seit Kriegsende unterstützen die bosnischen Serb*innen und Kroat*innen die Bestimmungen des Daytoner Abkommens über Autonomie und die Teilung des Staates. Ansonsten jedoch haben sie bislang die Annahme gemeinsamer Institutionen und Gesetze sowie die Übertragung von Zuständigkeiten auf die nationale Regierung vereitelt. Dodik hatte bereits 2008 betont, dass es keine weiteren Kompetenzübertragungen von den Selbstverwaltungseinheiten auf die nationale Regierung geben werde und forderte eine Überprüfung der 50 bereits erfolgten Übertragungen. Unter Berufung auf die so genannten „Bonner Befugnisse“ erklärte der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina die von den Serb*innen erklärten Befugnisse für eine unrechtmäßige Anmaßung (seit 1997 ist der Hohe Repräsentant in Bosnien befugt, verbindliche Entscheidungen zu erlassen, wenn er eine Behinderung des Daytoner Abkommens feststellt). Außerdem rief Dodik zwischen 2003 und 2010 häufig zu Referenden auf, unter anderem über die Unabhängigkeit der RS. Im Jahr 2016 wurde ein Referendum über ein Urteil des bosnischen Verfassungsgerichts abgehalten, das den „Tag der Staatlichkeit der RS“ verboten hatte.

Neben der Rhetorik des Referendums neigen die bosnischen Serb*innen auch zu unverhältnismäßigen Blockade-Taktiken. Nach den Wahlen 2018 blockierte die SNSD die Arbeit des nationalen Parlaments für mehr als ein Jahr und machte die Aufhebung der Blockade von der Aufnahme der Partei in den Ministerrat abhängig. Nachdem das Verfassungsgericht im Jahr 2020 über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes über landwirtschaftliche Flächen in der RS geurteilt hatte, griff die Volksversammlung der RS diese als „Anti-Dayton“ bezeichneten Aktivitäten des Verfassungsgerichts auf und kündigte an, dass die RS-Vertreter*innen ihre Arbeit in den Bundesgremien aussetzen würden. Die serbische Politik gegen Zentralismus und für Autonomie wurde durch den berüchtigten Diskurs der kroatischen HDZ über eine „dritte Entität“ verstärkt, nach welchem das Kernland der Partei im Westen von Herzegowina zur dritten selbstverwalteten Entität Bosniens werden soll. In den ersten Nachkriegsjahren schufen die bosnischen Kroat*innen starke Parallelinstitutionen. Bereits 2001 intervenierte jedoch die internationale Gemeinschaft, um diese wieder aufzulösen. Im Jahr 2011 wurde die bosnisch-kroatische Selbstverwaltung in ein Beratungsgremium umstrukturiert. Mit der Zeit wurde diese Politik aufgegeben und stattdessen versucht, durch Wahlmanipulation der Kroatischen Demokratischen Union absolute Kontrolle über die kroatischen Sitze in den föderalen Institutionen zu verschaffen.

Die „jüngste“ Krise begann 2021. Auf ein vom Hohen Repräsentanten erlassenes Gesetz, das die Leugnung von Völkermord, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen sowie die Verherrlichung von Kriegsverbrechern mit bis zu fünf Jahren Haft ahndet, reagierte Dodik mit der Ankündigung, ihm bliebe nun keine andere Wahl, als die Abspaltung der RS voranzutreiben. Alle serbischen Parteien erklärten sich bereit, ihre Vertreter*innen aus den föderalen Institutionen abzuziehen. In der Folge stimmte die Volksversammlung der RS dafür, die Umsetzung des Gesetzes des Hohen Repräsentanten auf ihrem Gebiet zu verhindern und Völkermordsvorwürfe gegenüber der RS strafbar zu machen. Top of Form Im gleichen Sinne verabschiedete das Parlament der RS im Dezember 2021 ein Beschlusspaket, nach dem der Staat der nationalen Regierung ihr Mandat in den Bereichen Verteidigung, Justiz und Sicherheit entziehen kann. Die Pakete unterlaufen auch die auf zentraler Ebene erlassenen Rechtsvorschriften in diesen Bereichen sowie die vom Hohen Vertreter erlassenen Verordnungen. Innerhalb von sechs Monaten wollen die Behörden der RS unabhängige Institutionen wie eine Armee, einen Nachrichtendienst und ein Amt zur Korruptionsbekämpfung einrichten. Der erste Schritt dorthin erfolgte am 10. Februar, als das Parlament der RS einen Gesetzesentwurf zur Schaffung eines eigenen Justizsystems verabschiedete.

Die letzten Monate erinnern an die Spannungen der Vorkriegszeit und gelten als Rückkehr zur Politik der 1990er Jahre. Die Feierlichkeiten zum Tag der Republika Srpska im Januar, die das Verfassungsgericht von Bosnien-Herzegowina für illegal erklärt hatte, wurden von zahlreichen nationalistischen Zwischenfällen in den Städten Prijedor, Brcko, Janja, Foca und Gacko begleitet. Doch die Serb*innen sind nicht die einzigen, die Probleme verursachen. Auch im Diskurs Čovićs taucht das Thema der ethnischen Autonomie unter dem Banner der „Gleichheit“ wieder auf. Čović strebt im Vorfeld der Parlamentswahlen 2022 eine Änderung des bosnischen Wahlgesetzes an, um, wie er behauptet, eine „legitime Vertretung“ aller konstituierenden Nationen Bosniens zu gewährleisten. Seine Hauptabsicht ist jedoch, im Rennen um das Amt des kroatischen Präsidentschaftsmitglieds von Bosnien-Herzegowina sowie seiner anderen Institutionen den Kandidat*innen der Kroatischen Demokratischen Union und der ihr angeschlossenen Parteien zum Sieg zu verhelfen. Dies führte zu einer erheblichen, jedoch nicht weiter verwunderlichen Verzögerung bei der Regierungsbildung der Föderation. Mehr als zwei Jahrzehnte lang haben die bosnischen Serb*innen und Kroat*innen künstliche Blockaden aufgebaut und das System missbraucht, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Oft nutzen sie ethnische Politik, um die öffentliche Aufmerksamkeit von den eigentlich wichtigen Themen abzulenken und die Wählerschaft hinter den radikalsten Parteien zu vereinen. Die aktuelle Eskalation der Spannungen ist an sich nichts Neues, vor allem vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Wirtschaftslage und der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung in der RS, was sich in schwindender Unterstützung für die Sozialdemokraten und die Kroatische Demokratische Union äußert.

Sanktionen und oberflächliche Reformen

Der Wiederaufbau Bosniens nach dem Konflikt und die Bemühungen um den Aufbau eines Staates wurden durch eine starke Präsenz der internationalen Gemeinschaft unterstützt. Infolgedessen entwickelten sich die internen Herausforderungen und Krisen des Landes in einem stark internationalisierten Kontext. Doch das Engagement der USA und der EU in Bosnien scheint nun zum Scheitern verurteilt. Bisher beherrschte ein „Zuckerbrot und Peitsche“-Ansatz die Beziehungen zwischen lokalen Politiker*innen und internationalen Akteur*innen. Diese Strategie hat ihre Wirkkraft verloren. In Krisenmomenten machen die lokalen Akteur*innen gerade ausreichende Versprechungen, um den internationalen Druck zu entschärfen, bevor sie wieder zur üblichen Rhetorik zurückkehren.

Dodiks Versuche, den Westen zu Zugeständnissen zu zwingen und die Autonomie der RS schrittweise auszuweiten, verstoßen eindeutig gegen die von der internationalen Gemeinschaft garantierte institutionelle Ordnung. Eine entschiedene Reaktion seitens der EU oder der USA bleibt jedoch bislang aus. Dies verdeutlicht, dass keine der beiden Mächte beabsichtigt, ihren Einfluss auf dem Balkan auszuweiten, sondern sich stattdessen in (noch) zwei weiteren Verhandlungsprozessen auf oberflächliche Reformen konzentrieren, die wenig Einfluss auf die Situation vor Ort haben: der US-EU-Dialog zur Verfassungsreform und die Gespräche unter der Schirmherrschaft des Amtes des Hohen Repräsentanten. Im November 2021 verkündete der EU-Kommissar für Erweiterung Olivér Várhelyi Fortschritte hin zu einer Einigung mit den bosnischen „Interessengruppen“. Die gleiche Haltung vertraten auch der Vertreter des US-Außenministeriums Matthew Palmer und seine EU-Kollegin Angelina Eichhorst bei Verhandlungen mit nationalistischen Führungspersonen im Januar 2022. Diese Verhandlungen laufen Gefahr, den Forderungen der Radikalen nachzugeben. Dodik hofft, im Gegenzug für die Aufgabe seiner Sezessionspläne einen großen Teil des Staats- und Verteidigungsapparats zu erhalten, während Čović hofft, im Gegenzug für eine Aufgabe seiner Blockade der Bundesinstitutionen eine Reform des Wahlrechts durchzusetzen. In Wirklichkeit würde ein solcher Deal die ethno-territoriale Spaltung Bosniens nur noch vertiefen.

Die EU hat die jüngste Eskalation der Spannungen verurteilt. Die neue deutsche Außenministerin Annalena Baerbock drohte auf dem EU-Außenministertreffen im Dezember 2021 mit Sanktionen. Die USA verhängten im Januar dieses Jahres Sanktionen gegen Dodik. Die EU hat es jedoch bislang versäumt, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen. Die Einstimmigkeitsregel der EU erschwert diese Bemühungen, zumal Ungarn, das Bosnien jahrelang ignorierte, seit 2019 die Beziehungen zu Dodik intensiviert hat. Im Dezember 2021 kündigte Viktor Orbán ein Hilfspaket von 100 Millionen Euro für die RS an und versprach, sich gegen jegliche EU-Sanktionen zu stellen. Gleichzeitig nutzen Russland und China Bosnien, um die Schwächen der EU-Erweiterung bloßzustellen und eine Region zu destabilisieren, die als Einflussgebiet der EU und der USA gilt. Beide Länder haben im UN-Sicherheitsrat einen Resolutionsentwurf zur Abschaffung des Amts des Hohen Vertreters eingebracht, der jedoch abgelehnt wurde. Nun wollen Russland und China das Mandat der EU-Stabilisierungsmission EUFOR Althea nur dann verlängern, wenn der Verweis auf den Hohen Repräsentanten aus dem Resolutionstext gestrichen wird. Dies führt unweigerlich zu einer politischen Schwächung des Hohen Vertreters und des Westens.

Der Krieg gegen die Ukraine und seine Auswirkungen auf Bosnien und Herzegowina

Angesichts der Tatsache, dass Bosnien sowohl für den Westen als auch für Russland von besonderem Interesse ist, bringt der Krieg in der Ukraine das Land in eine schwierige Lage. Die russische Aggression gegen die Ukraine verschärft die eigene politische Krise des Landes und könnte der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt und Bosnien in die Auflösung treibt. Es verwundert kaum, dass Bosnien wieder außerstande ist, eine geschlossene landesweite Reaktion zu zeigen. Željko Komšić (Mitglied des bosnischen Ratsvorsitzes) verurteilte die Invasion und forderte den sofortigen EU-Kandidatenstatus für Bosnien. Im Gegensatz dazu billigte Milorad Dodik Putins Vorgehen. Dragan Čović zögerte, es direkt zu verurteilen. Bosnien hat sich erst relativ spät den Sanktionen gegen Russland angeschlossen, während sein Luftraum für Flugzeuge in russischem Besitz oder unter russischem Betrieb offen bleibt. Hinzu kommt die Befürchtung, dass die russische Invasion auf Bosnien übergreifen könnte. Dies weckt schmerzliche Erinnerungen und schürt ohnehin bereits verschärfte Ängste vor einem neuen Krieg. Vor einem Jahr warnte die russische Botschaft in Bosnien, dass Russland im Falle eines NATO-Beitritts „auf diesen feindseligen Akt reagieren muss“. Jegliche dahingehenden Versuche würden jedoch wahrscheinlich ohnehin von der RS blockiert, die in verschiedener Hinsicht von Russland unterstützt wird. Als der Westen die Gefahr einer möglichen Verschlimmerung der Lage erkannte, reagierte er mit der Verstärkung der EUFOR-Präsenz in Bosnien durch die Entsendung von 500 weiteren Streitkräften.

Ein Staat im Belagerungszustand?

„Die Krise in Bosnien war noch nie so ernst“. So wird die bosnische Politik oft beschreiben. Doch diesmal sind nicht nur Verfassung, Politik und Wahlsystem dysfunktional, sondern es können auch das Bildungs- und Gesundheitssystem die grundlegenden Bedürfnisse der Bürger*innen nicht erfüllen. Nicht nur die politischen Institutionen sind in Gefahr, sondern die Struktur des Landes selbst. Die Umsetzung der Beschlüsse des Parlaments der RS vom Dezember 2021 würde für die Entität de facto eine Sezession bedeuten. Dies wiederum würde das institutionelle System Bosniens zersetzen, während die RS finanzielle Unabhängigkeit und die Fähigkeit zur Selbstverteidigung erlangen würde. Obwohl Dodiks Handlungen an die der damaligen bosnisch-serbischen Führung kurz vor Kriegsausbruch erinnern, sind sie auch Symptome eines in Geiselhaft genommenen bosnischen Staates. Dodik will das umfangreiche Klientelsystem schützen, das ihm monetären Nutzen bringt und ihn an der Macht hält. Er kämpft um die Kontrolle über den Haushalt. Davon erhofft er sich, im Vorfeld der Wahlen im Oktober 2022 seine Wählerschaft wieder mobilisieren zu können.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind die bosnischen Regierungen, Parlamente und Justiz von politisiertem und ethnisiertem Klientelismus und Patronage geplagt. Die Bürger*innen haben entsprechend wenig Vertrauen in die Regierung. Die Führungsriegen der politischen Parteien wuchsen in einem autoritär geprägten und von ethnischen Ängsten gelähmten System auf. Heute schüren sie ethnische Intoleranz zu ihren eigenen politischen Zwecken. In diesem Klima zeigen die konkordanzdemokratischen Institutionen Bosniens die brutale Wahrheit über eine von außen gesteuerten Staatenbildung und die Nachteile des Konzepts einer „Demokratisierung vor Institutionalisierung“. Das Problem liegt teilweise sicherlich auch in der Reaktion der internationalen Gemeinschaft, die sich auf ein Verfassungsreformpaket beschränkt, das allein nationalistische Politiker*innen zufriedenstellen würde. Diese Politik führt zur Auflösung des Landes – ein Ergebnis, das in erster Linie der EU und den USA angelastet würde. Seit Jahren gilt die EU-Erweiterung in der Region als Schlüssel zur Stabilität und langfristigen Entwicklung Bosniens. Doch der Beitrittsprozess und der von der EU unterstützte Berliner Prozess sind ins Stocken geraten. Die Passivität und Unentschlossenheit der EU und der USA zeigt sich darin, dass sie nach jeder buchstäblich ergebnislosen Verhandlungsrunde Fortschritte verkünden. Keiner weiß, was die Zukunft bringt. Die russische Aggression gegen die Ukraine war zweifellos ein Weckruf. Nicht nur müssen die USA und die EU – wie vor 20 Jahren – eindeutig gegen verfassungswidrige Politik Stellung beziehen, sondern es muss auch die EU ihre eigene Erweiterungsvision neu definieren. Das könnte Bosniens europäische Zukunft sogar bekräftigen.

Der Text ist eine aktualisierte Zweiveröffentlichung, zuerst erschienen im Green European Journal.