Humanitäre Lage in Gaza katastrophal

Kinder vor zerschossenem Gebäude in Gaza.
Foto: Thomas Hegenbart

5. Januar 2009
Von Joachim Paul

5. Januar 2009

Die humanitäre Situation im Gazastreifen ist katastrophal. Die Zahl der Opfer steigt ständig. 20 Prozent der Toten und 40 Prozent der Verletzten sollen Frauen und Kinder sein, berichtet das Büro für Humanitäre Koordination der UN (UNOCHA) (PDF) am 4. Januar 2009 auf seiner Website zur Krise in Gaza.  Die Kämpfe in den engen Wohngebieten erhöht die Gefahr für Zivilisten. Das Gesundheitssystem ist vollkommen überlastet, Krankenwagen haben extreme Schwierigkeiten, Verletzte zu bergen. Am 4.1. 2009 wurde eine Ambulanz des Al-Awda - Krankenhaus in der Nähe von Jabalya im Norden des Gazastreifens getroffen, wobei vier Sanitäter schwere Verletzung erlitten (UN OCHA, 4.1.2009). Stromversorgung und Telekommunikation sind in vier von fünf Bezirken des Gazastreifens zusammengebrochen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Internationale Komitee des Roten Kreuz (IKRK) berichten am 4.1.2009, dass die Stromversorgung der Krankenhäuser in Gaza-Stadt mittlerweile von Notaggregaten abhängt. Im Shifa-Krankenhaus würde ein Stopp der Generatoren tödliche Konsequenzen für 70 Patienten auf der Intensivstation haben, darunter 30 Mütter und neugeborene Kinder. Die gefährliche Sicherheitslage verhindert in vielen Fällen, dass medizinisches Personal die Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen erreicht.

Gesundheitszentren geschlossen

Das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), das im Gazastreifen ca. 30 Prozent der Bevölkerung mit sozialen Basisleistungen versorgt, musste am 4.1.2009 auf Grund der Gefahrenlage 18 Gesundheitszentren schließen (UNOCHA, 4.1.2009). Das IKRK wartet seit dem 2.1.2009 auf die Genehmigung, ein medizinisches Notfallteam in den Gazastreifen zu bringen (IKRK, 4.1.2009). Die medizinische Hilfsorganisation Medico International hatte bereits am 27.12.2008 von schweren Schäden an den Gebäuden der Palestinian Medical Relief Society und der Zerstörung eines Krankenwagens berichtet.

Die Verteilung von Nahrungsmitteln durch humanitäre Organisationen an die unterversorgte Bevölkerung musste in weiten Teilen Gazas vorübergehend eingestellt werden (UNOCHA, 4.1.2009 und Welternährungsprogramm (WFP), 2.1.2009, Word-Dokument). Die Wasserversorgung der Bevölkerung ist gefährdet. UNOCHA berichtet unter Berufung auf die Wasserbehörde in Gaza, dass ca. 70 Prozent der 1,5 Millionen Menschen in Gaza keinen ausreichenden Zugang zu Trinkwasser haben. Laut Schätzungen des palästinensischen Roten Halbmonds (PRCS) sind tausende von Häusern und Wohnungen beschädigt. Diese Zahl wird wahrscheinlich mit der andauernden Bodenoffensive ansteigen. Die meisten Familien werden von Freunden und Familien beherbergt, ca. 1.200 Menschen haben Notunterkünfte in Schulen der UNRWA gefunden.

Auf israelischer Seite sind Hunderttausende auf Luftschutzunterkünfte angewiesen. Vier Zivilisten wurden durch den andauernden Raketenbeschuss getötet.

Gaza - Territorium ohne Infrastruktur

Die Zerstörung der Infrastruktur in Gaza, einschließlich öffentlicher Gebäude, Straßen, Brücken, Wasser- und Stromversorgung im extrem eng bebauten Gebiet, ist enorm. Zwei der großen säkularen NGOs im Menschenrechts- und Gesundheitsbereich bestätigen dies. Die Organisationen Ad-Dameer und Gaza Community Mental Health Center berichteten in Telefongesprächen über Schäden an ihren Gebäuden. Viele ihrer Mitarbeiter mussten ihre halbzerstörten Wohnungen verlassen.

Ad-Dameer hält die von der UN angegebene Zahl der zivilen Opfer für zu niedrig und stellt die Frage nach der Definition von Zivilisten. Human Rights Watch (HRW) hat am 30.12.2008 sowohl Israel als auch Hamas aufgefordert, internationales Recht zu respektieren und die zivile Bevölkerung zu verschonen. Die Raketen der Hamas würden nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterscheiden, und die israelischen Bombardierungen scheinen unrechtmäßige Angriffe zu sein, die zivile Opfer hervorrufen, so HRW. Weiterhin solle Israel keine Individuen oder Institutionen angreifen, nur weil sie Teil der von Hamas kontrollierten Verwaltung seien.

Ein asymmetrischer Krieg

In diesem Zusammenhang hat die Journalistin Amira Hass am 3.1.2009 in der israelischen Tageszeitung Haaretz die Frage aufgeworfen, ob die israelische Luftwaffe einen harmlosen Transporter mit Metallgegenständen aus einer Schweißerwerkstatt oder eine sogenannte Grad-Rakete der Hamas zerstört hat. Die BBC hat den Fall aufgegriffen, um zu fragen, ob der Militärschlag gegen Hamas und die von Hamas kontrollierten Institutionen tatsächlich die Zivilbevölkerung verschonen kann. Die Medien sprechen von einem modernen asymmetrischen Krieg, in dem eine hoch technisierte Militärmaschinerie gegen eine aus zivilen Bevölkerungszentren operierende Guerillaorganisation kämpft und daher nur schwer zwischen zivilen und militärischen Zielen unterscheiden kann.

Nicht nur in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den Zielen und der Strategie der jetzigen Offensive. Kann der Raketenbeschuss aus Gaza tatsächlich mit militärischen Mitteln verhindert werden? Was wird in Gaza nach Ende der Militäraktion geschehen? Kann die von Hamas entmachtete Fatah wieder die Regierungsgeschäfte übernehmen und mit einem erneuten Aufbau beginnen? Was geschieht mit der Grenze zu Ägypten, für deren Kontrolle seit dem einseitigen israelischen Rückzug aus Gaza keine befriedigende Lösung gefunden wurde?

Gaza-Offensive = Libanonkrieg?

Vergleiche werden gezogen zum Libanonkrieg vom Sommer 2006. Die in dem unabhängigen Netzwerk PNGO organisierten palästinensischen NGOs in der Westbank und Gaza weisen jedoch auf einen entscheidenden Unterschied hin. Die israelische Besatzung des Gazastreifens gilt nicht als wirklich beendet. Israel hat zwar im Sommer 2005 die israelischen Siedler aus dem Gebiet evakuiert, die Militärpositionen aufgegeben und die unmittelbar kontrollierten 35 Prozent der Gesamtfläche freigegeben. Allerdings kontrolliert Israel weiterhin sämtliche Zugänge in das Gebiet. Somit war und ist Israel auch aus Sicht palästinensischer NGOs weiterhin verantwortlich für die Versorgung der Zivilbevölkerung. Sie sehen in der Abschottung des Gazastreifens und der Aufrechterhaltung der Besatzung die Hauptursache des Problems.

Sara Roy beschreibt in einem Artikel in der London Review of  Books am 1.1.2009 detailliert die konkreten Auswirkungen der Blockade des Gazastreifens und ihre Bedeutung in der Auseinandersetzung zwischen Hamas und Israel. Mit dem Waffenstillstand vom Juni 2008 war der Raketenbeschuss auf israelische Städte und Gemeinden, die nahe Gaza liegen, zwar zurückgegangen, blieb aber für Israel eine unerträgliche Provokation und eine fortgesetzte Kriegserklärung. Für die Hamas stellte die fast vollständige Abriegelung Gazas, und die Schließung der Übergänge für humanitäre Güter Anfang November 2008 eine gleichwertige Aggression dar.

80 Prozent Hilfsempfänger in Gaza

Seit Juni 2007, als Hamas die Macht in Gaza übernahm, hat die Bevölkerung einen massiven Verfall ihrer Existenzgrundlagen und eine erheblichen Verschlechterung der Infrastruktur sowie der öffentlichen Leistungen erlebt. Im Dezember 2008 erhielten bereits 80 Prozent der Bevölkerung direkte Nahrungsmittelhilfe – Zahlen, die an große Flüchtlingslager oder Nahrungskrisen erinnern, aber ungewöhnlich sind für eine Bevölkerung mit einem relativ hohen Bildungs- und  Entwicklungsstand. Sie zeigen die fast vollständige Abhängigkeit Gazas von der Außenwelt.

In den Jahren der sogenannten Al-Aqsa-Intifada, des palästinensischen Aufstands von 2002 bis 2005, hatte die Wirtschaft in Gaza bereits schwere Einbußen hinnehmen müssen. Die letzten 18 Monate der Isolierung und Absperrung des winzigen Gebiets haben jedoch ein Ausmaß erreicht, das die UNO bereits als eine ‚Krise der menschlichen Würde’ bezeichnet hat. Die Kontrollstelle für den kommerziellen Güterverkehr zwischen Gaza und Israel wurden geschlossen. Seitdem können in Gaza hergestellte Produkte weder exportiert, noch kommerzielle Güter aus Israel importiert werden. Die Versorgung der Bevölkerung wurde von einer ökonomischen zu einer humanitären Aufgabe.

Überlebenskampf als Alltag

Hinzu kommt die komplette Schließung der beiden Übergänge für Personen, Erez nach Israel und Rafah nach Ägypten (OCHA, 15.12.2008). Humanitäre Organisationen berichten, dass seit November durchschnittlich sechs Transportfahrzeuge pro Tag durch zwei Kontrollstellen nach Gaza gelangt sind. Im Oktober 2008 passierten  noch 123 LKWs die Kontrollen, verglichen mit  475 LKWs im Mai 2007. Das Leben einer immer größeren Anzahl von Palästinensern in Gaza war damit davon bestimmt, tagtäglich das Lebensnotwendigste zu organisieren.

Die internationale Gemeinschaft hat diesen Kurs weitgehend mitgetragen und einen Dialog mit Hamas, das als Terrororganisation eingestuft wird, ausgeschlossen. Seitdem konnte kein politischer Akteur mit überzeugenden Lösungsvorschlägen aufwarten. Für Präsident Abbas und die palästinensische Autonomieregierung (PA) standen Verhandlungen mit Israel und die Verbesserung der wirtschaftlichen und politischen Situation in der Westbank im Vordergrund.

Beide Organisationen, Fatah und Hamas, haben sich darauf konzentriert, ihre Vormachtstellung in dem jeweils von ihnen kontrollierten Gebieten zu konsolidieren. Dabei gingen sie mit großer Härte und willkürlichen Verhaftungen gegen die jeweilige Opposition vor. Mit Hilfe verstärkter internationaler Unterstützung gelang es der PA durchaus, die Lebensbedingungen und die Sicherheitslage in einigen Städten der Westbank zu verbessern. Dies hat die Kluft zwischen Westbank und Gaza noch vergrößert.

Kluft zwischen Westbank und Gaza wächst

In den letzten Monaten wiesen internationale Beobachter darauf hin, dass eine Lösung des Konflikts zwischen Israel uns Palästinensern auf der Grundlage von zwei Staaten durch die sich verfestigende Spaltung auf palästinensischer Seite noch unrealistischer als bisher geworden sei. So hat die International Crisis Group (ICG) am 17.12.2008 die politische Situation in den palästinensischen Gebieten und die Politik der beiden Akteure Fatah und Hamas in einem detaillierten Bericht analysiert, allerdings ohne das massive militärische Eingreifen Israels vorauszusehen. Obwohl die neuen Fakten die Analyse hinfällig erscheinen lassen, ist es doch wichtig, sich die interne politische Situation in den palästinensischen Gebieten zu verdeutlichen. Die ICG kam zu dem Schluss, dass weder Fatah noch Hamas kurzfristig an einer nationalen Einheit interessiert seien. Dadurch hätten auch politische Verhandlungen mit Israel keine Chance auf Erfolg gehabt.

Die jetzige militärische Eskalation könnte neue Fakten schaffen, die eine, für die politische Zweistaatenlösung notwendige Anbindung des Gazastreifens an die Westbank in noch weitere Ferne rücken lassen. Damit wäre die Frage nach der politischen Zukunft Gazas als Teil eines, wie auch immer gearteten, palästinensischen politischen Gebildes völlig offen.

Angesichts der momentanen Zerstörung und humanitären Krise erscheinen die Konflikte zwischen  Hamas und Fatah jedoch zweitrangig. Zuallererst muss es um einen sofortigen Stopp der gegenseitigen Gewalt und um die humanitäre Versorgung der Bevölkerung gehen. Dabei werden auch die Bedingungen für einen Waffenstillstand von großer Bedeutung sein.


Joachim Paul leitet das Büro Arabischer Naher Osten der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah.

Dossier

Krise in Gaza

Am 27. Dezember 2008 begann mit Luftangriffen auf den Gaza-Streifen Israels Offensive „Gegossenes Blei”. Zwar herrscht seit dem 18. Januar 2009 eine Waffenruhe, aber eine wirkliche Lösung ist nicht in Sicht. Hintergründe und Stimmen zu dem Konflikt finden Sie in unserem Dossier.