Raketen auf Nord-Israel - Beginn einer regionalen Eskalation?

Heiko Wimmen

9. Januar 2009
Von Heiko Wimmen
Von Heiko Wimmen

9. Januar 2009

Der Raketenangriff auf die nord-israelische Stadt Naharija am Morgen des 8. Januar war nicht der erste Versuch, eine Ausweitung des Konflikts in Gaza auf das israelisch-libanesische Grenzgebiet herbeizuführen: bereits kurz nach Weihnachten hatte die libanesische Armee eine Batterie abschussbereiter und mit Zeitzünder versehener Katjusha-Raketen nahe der Grenzstadt Nakoura entdeckt und entschärft.

Das Szenario ist ebenso simpel wie apokalyptisch: Ein „erfolgreicher” Raketenangriff auf Nordisrael mit einer Anzahl von Toten – die aktuellen Einschläge trafen unter anderem ein Altenheim wo Todesopfer nur deshalb ausblieben, weil die Bewohner gerade beim Frühstück saßen – löst einen israelischen Gegenschlag auf die als Urheber verdächtigte schiitische Organisation Hisbollah aus, dem wiederum eine Anzahl libanesischer Zivilisten zum Opfer fallen. Zur Vergeltung mobilisiert die Hisbollah ihr auf mittlerweile 30-40.000 Gefechtsköpfe geschätztes Raketenarsenal – 2006 reloaded.

2006 reloaded ?

Schnell waren in Beirut die Verschwörungstheoretiker am Werk: Israel selbst oder seine Handlanger hätten die nur knapp vereitelte Attacke eingefädelt, so die Spekulation, um zeitgleich mit der Kampagne gegen Hamas auch alte Rechnungen im Libanon zu begleichen. Selbst Staatspräsident Michel Suleiman ging in öffentlichen Stellungnahmen auf solche Hypothesen ein.

Die israelischen Reaktionen auf den dann tatsächlich erfolgten Raketenangriff sprechen jedoch eine deutlich andere Sprache: Kaum hatten die internationalen Nachrichtenagenturen die Einschläge gemeldet, da erklärten bereits israelische Militärsprecher, nicht Hisbollah sondern eine im Libanon operierende palästinensische Organisation stecke dahinter. Militärisch wurde der Angriff mit einer Runde Artilleriefeuer auf die vermutete Abschussgegend und lautstarken Überflügen von Kampfflugzeugen beantwortet – nicht gerade Reaktionen, die auf ein brennendes Bedürfnis zu schneller Eskalation hindeuten.

Tel Aviv von Raketen bedroht

Ohnehin leuchtet nicht ein, welchen Nutzen die israelische Führung darin sehen sollte, sich ohne Not in einen Krieg an zwei Fronten zu begeben. Im Gegensatz zu Hamas verfügt Hisbollah über Raketen die es ihr erlauben, den Konflikt ins Zentrum der israelischen Städte zu tragen. Treffen die Einschätzungen israelischer Militärexperten über Zahl und Reichweite der seit 2006 von der schiitischen Organisation mit iranischer Hilfe aufgebauten Arsenale zu, dann würde bei einer erneuten Auseinandersetzung dieses Mal auch der Großraum Tel Aviv von Raketen getroffen werden. Das kommerzielle, industrielle und administrative Herz und Hirn des jüdischen Staates wäre gelähmt. Anstatt in Gaza die Kader der Hamas zu jagen, könnte sich die israelische Armee rasch zu einer riskanten Bodenoperation im Südlibanon genötigt sehen, um dem Raketenhagel ein Ende zu setzten. Es kann angenommen werden, dass den Urhebern der Raketenangriffe genau dieses Szenario vorschwebt  - aber Israel scheint zurzeit wenig geneigt, auf solche Provokationen einzugehen.

Mit Hisbollah liegt die Sache komplizierter: Ein direkter, unprovozierter Angriff auf Israel würde die Partei auf der internationalen Bühne eindeutig ins Unrecht setzen. Israel hätte damit politisch freie Hand, das gesamte Spektrum seiner militärischen Macht gegen die Organisation einzusetzen. Wichtiger noch, das israelische Militär hatte zwei Jahre Zeit, die Erfahrungen und Fehler des Jahres 2006 zu verdauen und zu analysieren. Trotz ihrer erneuerten und vergrößerten militärischen Möglichkeiten müsste Hisbollah damit rechnen, einen hohen militärischen und materiellen Preis zu zahlen. Innenpolitisch müsste sich die Partei in einem wichtigen Wahljahr vorwerfen lassen, den Libanon erneut mutwillig in einen kostspieligen Konflikt verwickelt zu haben – und dieses Mal ohne dass es in irgendeiner Weise um libanesische Interessen gegangen wäre.

Pragmatismus und Ideologie

Ob die Hisbollah eher auf eine pragmatische Politik im Libanon setzt oder aber ihren ideologischen Fernzielen - der „Befreiung“ Jerusalems/Palästinas, dem „Widerstand gegen Imperialismus und Zionismus“ - den Vorzug gibt, das bleibt trotz der stetig wachsenden Zahl westlicher und arabischer Hisbollah-Exegeten unklar. Bis in die jüngste Vergangenheit hat sich die Partei stets um eine nüchterne Kosten-Nutzen Analyse bemüht – und eine Atempause für Hamas kann wohl kaum die enormen Kosten einer direkten Konfrontation mit Israel rechtfertigen.

Das zweite Rätsel, das die schiitische Organisation ihren Beobachtern aufgibt, ist die Frage, ob die Politik der Hisbollah im engen Kreis der Führer in Beirut entschieden oder von Teheran bestimmt wird. Entsprechend ist auch unklar, ob Hisbollah in erster Linie libanesische und arabische Interessen vertritt oder ein Werkzeug iranischer Ambitionen ist.

Hisbollah - ein Werkzeug Teherans ?

Die politischen Gegner von Hisbollah und Hamas sind felsenfest von letzterem überzeugt. Es sind dies nicht zufällig vornehmlich die Parteigänger pro-westlicher, „gemäßigter“ Regime wie in Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien. Diese (zutiefst undemokratischen) Regime verfolgen ihre „gemäßigte“ Politik und ihr Bündnis mit dem Westen zumeist gegen den Willen der Mehrheit der eigenen Bevölkerung. Kommt es zu israelischen Angriffen auf arabische Staaten, dann geraten sie unter Druck, denn eine solche Politik lässt sie „unpatriotisch“ erscheinen. Attacken von radikalen Politikern, wie etwa Hassan Nasrallahs jüngste Aufforderung an das ägyptische Volk und Militär, die eigene Regierung zur Öffnung der Grenzübergänge nach Gaza zu zwingen (um so Waffenlieferungen an Hamas zu ermöglichen), treffen einen ausgesprochen wunden Punkt.

Entsprechend giftig fallen die Gegenreaktionen aus: Wo bitteschön, so höhnen die Kommentatoren in einflussreichen saudisch kontrollierten Zeitungen und Fernsehsendern, bleibe die zugesagte Hilfe Irans, Syriens und Hisbollahs für die Kampfgenossen in Gaza? Mit welchem Recht kritisiere Nasrallah Ägypten und distanziere sich zugleich eilfertig von den Zwischenfällen im Süd-Libanon?

Irans Kosten-Nutzen-Rechnung

Kurzfristig werden solche Nadelstiche wohl weder Hisbollah noch das iranische Regime von ihrer pragmatischen Strategie abhalten. Beide versuchen, aus der Krise zu minimalen Kosten den größten möglichen politischen Nutzen zu ziehen. Dieser könnte etwa darin bestehen, zur Umsetzung des aktuellen europäisch-ägyptischen Friedensplans einen Vermittler zu bekommen, der, wie beispielsweise Katar, der iranisch-syrischen Achse nahe steht. Noch besser wäre es, könnte mit der Türkei ein regionales islamisches Schwergewicht als Garantiemacht in den Ring gezogen werden.

Gefährlich könnte es jedoch werden, sollte die Fortsetzung des Konflikts und steigende Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung die mehr ideologisch ausgerichteten Strömungen innerhalb des iranischen Regimes und / oder der Hisbollah stärken. Diese Fraktionen sehen die eigene patriotische und religiöse Glaubwürdigkeit durch die bisher gezeigte pragmatische Distanz gefährdet und wollen den Worten endlich Taten folgen lassen. Dafür wäre es nicht einmal erforderlich direkt in den Konflikt einzutreten. Hisbollah könnte stattdessen eine der im Libanon operierenden, mit ihr verbündeten Palästinenserorganisationen „ermutigen“, auf eigene Faust (und mit diskreter logistischer Unterstützung) aktiv zu werden. Eine Handvoll Katjushas kann die israelische Führung sicher problemlos als Provokation ohne militärische oder strategische Bedeutung abtun. Raketen aus iranischer Produktion mit hoher Reichweite in den Händen radikaler Palästinenser im Südlibanon würden dagegen Tür und Tor öffnen für einen regionalen Konflikt, der ungeahnte Konsequenzen haben könnte.


Heiko Wimmen ist Programmdirektor und stellvertretender Leiter des Beiruter Büros der Heinrich-Böll-Stiftung

Dossier

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