Die Folgen des Gaza-Krieges für die Arabische Welt

Rami G. Khouri. Foto: Dina Fakoussa

10. Januar 2009
Von Rami G. Khouri
Von Rami G. Khouri

9. Januar 2009

In Gaza haben wir es erstmals mit einem Haufen selbstbewusster Palästinenser zu tun, die von eigenem Boden aus operieren. Israel hat darauf mit dem Versuch reagiert, sie auszulöschen, während sie in der arabischen Welt breite öffentliche Unterstützung genießen.

Die unmittelbaren Folgen des israelischen Angriffs auf Gaza bekommen in erster Linie die dort lebenden Palästinenser zu spüren. Die politischen Schockwellen jedoch werden die gesamte arabische Welt erfassen – und die Konsequenzen sind schwer abzusehen. Israels Versuch, in Gaza eine Nation auszulöschen, verstärkt eine Reihe von Umwälzungen, die sich seit etwa einem Vierteljahrhundert überall in der arabischen Welt bemerkbar gemacht haben.

Am stärksten betrifft dies Machtverhältnisse, Legitimität und politisches Engagement. Ihre Rolle erfährt in den modernen arabischen Staaten einen grundlegenden Wandel. Politische Erstarrung führt dazu, dass die Regierungen der arabischen Staaten die Ereignisse in Gaza weitgehend ignorieren. Viele der Regime werden dadurch weiter an Einfluss, Macht und Legitimität verlieren. Gleichzeitig werden nicht-staatliche Akteure an Bedeutung gewinnen und so stark und glaubwürdig werden, dass man sie als Parallelstaaten bezeichnen muss.

Arabische Parallelstaaten

Straßenproteste wütender Araber haben ihre politische Bedeutung eingebüßt. Die Angst, die Wut und das Bedürfnis vieler einfacher Männer und Frauen im Nahen Osten, selbst zu handeln, haben einen neuen Ort gefunden. Eine Verbindung aus islamistischen und stammesbasierten Bewegungen ist zum Zentrum einer arabischen politischen Identität geworden – in den sich weitenden politischen Räumen, die nicht mehr ganz und gar von den modernen arabischen Polizeistaaten beherrscht werden.

Hisbollah, Hamas, die Muslimbrüder, die Bewegung von Muqtada as-Sadr im Irak sind, neben anderen, die bedeutendsten Beispiele für diesen Trend. Hamas im Gaza-Streifen ist wahrscheinlich am wichtigsten, da diese Organisation im Zentrum des israelisch-palästinensischen Konflikts steht, der sich zu einem arabisch-israelischen Konflikt ausgeweitet hat. Dieser Konflikt spielt sich zudem auf heiligem Land ab – heilig für alle Muslime und Araber, auch für die Christen unter ihnen. In den vergangenen zwei Jahren hatten hier, erstmals in der Geschichte des Konflikts, Palästinenser für einen kurzen Moment die Möglichkeit, eine Art von Kleinstaat zu errichten – mit eigenen Institutionen, eigenem Sicherheitsapparat und weitgehend ohne An- und Zugriff der Israelis und ohne den hindernden Einfluss anderer arabischer Staaten.

Hisbollah, Hamas und Muslimbrüder

Die nächsten Wochen werden zeigen, wie die Kämpfe in Gaza verlaufen – und welche politischen Folgen aus ihnen erwachsen werden. Schon jetzt ist jedoch klar, dass in Gaza erstmals Palästinenser, als Herren ihrer eigenen Gesellschaft, sich dafür entschiedenen haben, Israel die Stirn zu bieten, sich gegen die wiederholten Versuche zu wehren, sie umzubringen, zu besetzen, auszuhungern, zu verhaften und sie als Gesellschaft zu vernichten.

Gleich wie man es betrachtet, schön ist das Bild nicht:

  • innerpalästinensische Kämpfe zwischen Fatah und Hamas, 2007 und 2008
  • wechselseitige Angriffe von Hamas, anderen Palästinensern und Israel
  • Stillstand der Verhandlungen zwischen Israel und der Regierung von Mahmud Abbas
  • die verblüffende Unbeweglichkeit arabischer Regierungen und Führer
  • und die stillschweigende Ignoranz der Weltgemeinschaft angesichts Israels fortgesetzter Versuche, Gaza zwei Jahre lang – seit dem Wahlsieg von Hamas 2006 – zu strangulieren und auszuhungern.

Das meiste davon ist nicht neu. Ganz und gar neu ist allein die Tatsache, dass heute mehrere tausend bewaffnete und militärisch ausgebildete Hamas-Kämpfer (plus einige kleinere Widerstandsgruppen) ihr Territorium verteidigen. Sie zeigen damit, dass sie bereit sind gegen Israels Macht und die ausdrückliche Unterstützung der USA für Israel bis zum Tode zu kämpfen.

Letzte Schmerzgrenzen überschritten ?

Der seit 60 Jahren währende, sich weiter verschärfende Angriff Israels auf Land und Leute in Palästina hat schon viele Schmerzgrenzen überschritten. Endlich aber, so scheint es, reagieren viele Teile der arabischen Welt und wehren sich gegen die fortgesetzte Erniedrigung und Kolonisation, wehren sich dagegen, ständig an den Rand gedrückt  oder, im schlimmsten Fall – wie heute in Gaza –, ausgelöscht zu werden.

Die meisten Araber, die meisten Menschen in aller Welt, unterstützen Hamas und die Sache der Palästinenser. Es bliebt ihnen aber wenig anderes übrig, als in Protestkundgebungen Solidarität zu zeigen. Die meisten arabischen, die meisten Regierungen überhaupt fürchten Bewegungen wie Hamas, da sie Massen von Menschen mobilisieren und sie dazu bringen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, offen Widerstand zu leisten, und die von den USA gestützten Machtstrukturen anzugreifen.

Der Ausgang dieses kleinen Krieges wird erhebliche Auswirkungen auf die weitere Entwicklung in der Region haben. Sollte Hamas den Konflikt überstehen, sollte es einen international überwachten Waffenstillstand geben, eine Öffnung der Grenzen für den Handel, wird das als Sieg der Hamas gelten. Gleichzeitig würde das Modell Hamas-Hisbollah – bewaffneter Widerstand mit dem Willen und der Fähigkeit, einen stärkeren Feind zu bekämpfen – noch beliebter werden.

Israel und der palästinensische Nationalismus

Nie in seiner Geschichte hat sich Israel mit dem palästinensischen Nationalismus arrangieren können. Israel hat in Palästinensern nie Menschen gesehen, denen ein Recht auf die selbe Lebensqualität, denen die selben nationalen Rechte wie Juden, Zionisten und Israelis zustehen.

In Gaza haben wir es erstmals mit einem Haufen selbstbewusster Palästinenser zu tun, die von eigenem Boden aus operieren. Israel hat darauf mit dem Versuch reagiert, sie auszulöschen, während sie in der arabischen Welt breite öffentliche Unterstützung genießen. Beide Reaktionen werden islamististisch-nationalistische Bewegungen stärken und staatliche Strukturen in einer Reihe von arabischen Staaten weiter unterminieren.

Rami G. Khouri ist Korrespondent der libanesischen Tageszeitung The Daily Star, and Direktor des Issam Fares Institute for Public Policy and International Affairs an der American University in Beirut.

Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache auf Middle East Online. Die Übersetzung und Veröffentlichung erfolgen mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Die Übersetzung aus dem Englischen erledigte Bernd Herrmann.

Dossier

Krise in Gaza

Am 27. Dezember 2008 begann mit Luftangriffen auf den Gaza-Streifen Israels Offensive „Gegossenes Blei”. Zwar herrscht seit dem 18. Januar 2009 eine Waffenruhe, aber eine wirkliche Lösung ist nicht in Sicht. Hintergründe und Stimmen zu dem Konflikt finden Sie in unserem Dossier.