Die NATO allein, kann nicht die ganze Bandbreite der anstehenden Aufgaben bewältigen. Sie muss eine unterstützende Funktion im Rahmen einer sehr viel breiter angelegten Strategie transatlantischer Widerstandsfähigkeit haben, die über die Sicherheit des eigenen Territoriums hinausgeht. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Außen- und Sicherheitspolitik.
Wir haben die sich jetzt bietende, aber vorübergehende Chance, eine effektivere atlantische Partnerschaft zu schmieden. Wir müssen sie nutzen. Europa und Nordamerika haben es zugelassen, dass sich Misstöne in ihre Beziehungen eingeschlichen haben, während die Zeiten doch Einigkeit und Elan verlangen. Mutige Entscheidungen werden gebraucht, um der atlantischen Partnerschaft neues Leben einzuhauchen und sie so umzugestalten, dass eine ganze Reihe ernsthafter Herausforderungen sowohl vor der eigenen Haustür wie auch anderswo gemeistert werden können.
Eine neue NATO
Sechs Jahrzehnten ständigen Wandels zum Trotz, bleibt die ursprüngliche dreifache Aufgabe der NATO bestehen: die gemeinsame Verteidigung ihrer Mitglieder zu sichern, die transatlantische Bindung zu institutionalisieren und einen Sicherheitsschirm zu spannen, unter dem die europäischen Länder ihre gemeinsamen Interessen besser bündeln können als bilateral. Jedoch ist jedes dieser Elemente heute in Frage gestellt.
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Allianz ihrer Aufgabe durch Anpassungen an die sich wandelnden Umstände gerecht geworden. Das derzeitige Strategiekonzept der NATO wurde jedoch 1999 beschlossen und ist in erschreckender Weise überholt. Es ist äußerst wichtig, einen Konsens über eine neue Langzeitstrategie zu erzielen. Wenn die NATO nicht nur größer, sondern auch besser werden soll, müssen wir ihren Rahmen und ihre strategische Grundlage so verändern, dass sie von den Parlamenten wie von der Öffentlichkeit verstanden wird. Ändern müssen wir das Wesen ihrer Möglichkeiten, die Art und Weise, wie sie Einsatzkräfte schafft und einsetzt, den Weg, wie sie Entscheidungen trifft, die Art, wie sie Geld ausgibt und mit anderen zusammenarbeitet.
Vor allem anderen braucht die NATO ein neues Gleichgewicht zwischen Einsätzen auf eigenem Territorium und draußen in der Welt. In den letzten 15 Jahren folgte die Allianz dem Leitspruch „out of area or out of business“. Heute operiert die NATO außerhalb des eigenen Gebiets und ist auch „im Geschäft“. Sie muß aber auch auf eigenem Territorium arbeiten, oder sie bekommt Schwierigkeiten.
Die Aufgaben zu Hause
Zu Hause muss die NATO die Abschreckungskraft und die Verteidigungsbereitschaft erhalten – und zwar zur Stärkung der gesellschaftlichen Widerstandskraft gegen Bedrohungen des transatlantischen Gebiets. Außerdem muss das Bündnis zu einem Europa beitragen, das in Einigkeit, Freiheit und Frieden leben kann.
Die Verpflichtung der NATO zu einer gemeinsamen Verteidigung ist das Herz der Allianz. Eine NATO, die sich ständig vergrößert, ohne in der Lage zu sein, das erweiterte Gebiet des Pakts zu verteidigen, läuft Gefahr, ein inhaltsleeres Bündnis zu werden. Ein Mangel an Vertrauen in die grundlegende Verteidigungsbereitschaft der NATO könnte zudem ein zentrales Element des Bündniszwecks untergraben: nämlich die Rückkehr zu jener Nationalisierung der europäischen Verteidigung und der Sicherheitsgarantien zu verhindern, die Europa in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt hat. In Straßburg und Kehl müssen die Führer der Allianz ihre gegenseitige Verteidigungsverpflichtung neu bekräftigen und zugleich sicherstellen, dass diese Verpflichtung durch eine glaubwürdige Solidarität und durch ausreichende Mittel gedeckt ist.
Zugleich sollten die Führer der Allianz die Bedeutung ihrer Verpflichtung, „die Sicherheit des Territoriums der NATO zu garantieren“, im Licht der neuen Herausforderungen überdenken, denen unsere Gesellschaften sich heute gegenübersehen. Was haben Hacker, Energiekartelle und Al Kaida miteinander gemein? Sie sind Netzwerke, die andere Netzwerke missbrauchen – die miteinander verbundenen, verletzlichen Lebensadern und Schnittstellen, die die freie Mobilität von Menschen und den Austausch von Ideen, Energie, Geld, Waren und Dienstleistungen bedingen, und das komplexe System gegenseitiger Abhängigkeit, auf das freie Gesellschaften sich stützen. Unsere totale Abhängigkeit von diesen Netzwerken, zusammen mit ihrer Anfälligkeit für Störmanöver von katastrophalem Ausmaß, machen sie zu so verlockenden Zielscheiben. Im 21. Jahrhundert müssen wir nicht nur unser Territorium verteidigen, sondern auch das System unserer Verbindungen. Die NATO muss eine unterstützende Funktion im Rahmen einer sehr viel breiter angelegten Strategie transatlantischer Widerstandsfähigkeit haben, die über die Sicherheit des eigenen Territoriums hinausgeht. Unser oberstes Ziel sollte ein abwehrfähiges transatlantisches Territorium der Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit sein, das das richtige Gleichgewicht zwischen Mobilität und bürgerlichen Freiheiten auf der einen und gesellschaftlicher Sicherheit auf der anderen Seite findet. Bilaterale Anstrengungen und die Zusammenarbeit von USA und EU stehen an erster Stelle. Aber die NATO muss ebenfalls eine Funktion übernehmen.
Die dritte Aufgabe der NATO auf eigenem Territorium besteht darin, einen Beitrag zu den übergreifenden transatlantischen Bemühungen um die Konsolidierung des demokratischen Wandels in einem Europa zu leisten, das noch nicht ganz einig, frei und befriedet ist. Heute stellt sich die Lage anders dar als unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges oder zu der Zeit, als neue Mitglieder in die NATO aufgenommen wurden. Dennoch sollten die Bündnispartner darauf bedacht sein, die Tür nicht vor den Völkern eines größeren Europas zuzuschlagen, und zugleich daran arbeiten, Bedingungen zu schaffen, unter denen die heute strittigen und schwierigen Fragen der Integration zukünftig vielversprechender angegangen werden können.
Die Aufgaben in der Welt
Die Bedrohungen der Bündnissicherheit haben ihren Ursprung nicht unbedingt auf dem Territorium, das durch den Nordatlantikpakt abgedeckt ist. Viele sind nichtmilitärischer und asymmetrischer Natur. Dennoch können sie eine direkte Gefahr für unsere Bürgerinnen und Bürger und unsere Gesellschaften darstellen. Diese Bedrohungslage bedeutet, dass die NATO drei Hauptaufgaben in der Welt hat: Krisenprävention und Krisenintervention, wobei humanitäre und Katastrophenhilfe eingeschlossen ist; Durchführung von Stabilisierungs- und Wiederaufbauoperationen; Verbesserung der eigenen Fähigkeiten, effektiv mit Partnern zusammenzuarbeiten, seien dies Staaten, internationale Regierungsorganisationen oder Nichtregierungsorganisationen.
Diese Aufgaben zeigen, wie wichtig es ist, einen „umfassenden Ansatz“ zu entwickeln – nämlich den koordinierten Einsatz militärischer und ziviler Kräfte auf der ganzen Bandbreite der vorhandenen Institutionen. Die Unterstützung der NATO für die Afrikanische Union in Darfur oder die Zusammenarbeit von EU und NATO auf dem Balkan könnten als Beispiele für das globale Engagement dienen, auf das sich die Allianz besser einstellen muss.
Von der kollektiven Verteidigung zur kollektiven Sicherheit
Das heutige strategische Umfeld ist komplex und unberechenbar. Nordamerika und Europa sehen sich noch immer der Gefahr des Terrorismus ausgesetzt und müssen sich mit möglichen Konflikten zwischen wichtigen Staaten auseinandersetzen. Unsere unmittelbare Aufmerksamkeit wird jedoch durch ungewöhnliche Herausforderungen beansprucht – die Wirtschaftskrise, Bedrohung durch Netzwerke, regionale Konflikte mit globaler Bedeutung, Umweltzerstörung, Klimawandel und Ressourcenknappheit, schließlich ein Europa, das bisher weder einig und frei ist noch im Frieden mit sich selbst lebt.
Diese Herausforderungen zwingen uns, unsere gegenseitige Verpflichtung von der kollektiven Verteidigung auf die kollektive Sicherheit auszudehnen, unsere Schlüsselinstitutionen und –mechanismen neu zu organisieren und mit unseren Partnern besser zusammenzuarbeiten. Auf dieser Agenda ist die NATO unabdingbar, jedoch nicht ausreichend. Wir brauchen daher eine Wiederbelebung der Zusammenarbeit von USA und EU, einen neuen Abschnitt gegenseitiger Unterstützung. Die UN, die OSZE, internationale Finanzinstitutionen und andere Mechanismen müssen neue Partnerschaften schaffen.
Institutionen können jedoch Entschlossenheit und politischen Willen nicht ersetzen. Die Visionen einer effektiveren Partnerschaft werden rein theoretisch bleiben, wenn die Bündnispartner es nicht schaffen, den Terrorismus und die Unruhen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet zu bekämpfen. Die Bedrohungen aus dieser Region stellen derzeit die akuteste Bedrohung der europäischen und nordamerikanischen Sicherheit dar. Afghanistan ist für das Bündnis zur Feuerprobe geworden. Die Glaubwürdigkeit der NATO steht auf dem Spiel.
Ein abwehrbereites Bündnis
Um in dieser neuen Weltlage zu bestehen, müssen Europäer und Amerikaner ihre Partnerschaft eher in Begriffen gemeinsamer Sicherheit als in solchen gemeinsamer Verteidigung definieren, sowohl auf eigenem Gebiet wie auswärts. Das wird das Bündnis zur Flexibilität zwingen. Je nach der jeweiligen Situation könnte die NATO dazu aufgefordert sein, eine Führungsrolle zu übernehmen, unterstützend zu wirken oder sich einfach nur in einen größeren Zusammenhang einzugliedern. Doch die NATO allein, so kampfstark sie auch sein mag, kann nicht die ganze Bandbreite der anstehenden Aufgaben angehen. Sie muss sich in die Lage versetzen, besser mit anderen zusammenzuarbeiten. Und wenn die NATO sich sowohl erweitert wie auch mit anderen verbindet, müssen ihre Mitgliedsstaaten die traditionelle, statische Territorialverteidigung um dynamische gesellschaftliche Widerstandskraft ergänzen und – eine besondere Herausforderung für Deutschland – Entsendekapazitäten entwickeln, die für die effiziente Arbeit unseres Bündnisses notwendig sind.
Daniel Hamilton ist Richard von Weizsäcker Professor und Direktor des Center for Transatlantic Relations (CTR) an der Paul H. Nitze School of Advanced International Studies der John Hopkins University.