Türkische Wahrnehmungsweisen: Zwischen Apologie und Wirklichkeitssinn

Wie in den letzten Jahren regelmäßig kommt es auch dieses Jahr im Vorfeld des 24. April, dem Gedenktag den Armenier an die „Katastrophe“, zur Auseinandersetzung um die Anerkennung der türkischen Verbrechen aus den Kriegsjahren als Genozid. Schon im Jahr 1919 waren viele Tatsachen bekannt und gerichtskundig - sie wurden danach allerdings wieder verdrängt. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Ost- & Südosteuropa.

Mit Urteil vom 5. Juli 1919 verfügte in Istanbul der Kriegsgerichtshof des geschlagenen osmanischen Reiches das Todesurteil gegen die vier führenden Vertreter des Komitees der jungtürkischen Partei, die als Großwesir, Kriegsminister, Marine- und Bildungsminister vor und während des Ersten Weltkrieges die Leitung des osmanischen Reiches in Händen hielten. Da die Angeklagten mit deutscher Hilfe bei Kriegsende die Flucht ergriffen hatten, konnten die Hinrichtungen nicht vollzogen werden. Mit dem Leben kamen die Verurteilten dennoch nicht davon. Sie wurden durch armenische Attentate liquidiert.

Demonstration in Baku am 17. November 2012

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Das Istanbuler Urteil stützte sich auf fünf Anklagepunkte, die im Kern alle darauf hinausliefen, die Verurteilten hätten als jungtürkische Verschwörer die Exekutive widerrechtlich ihren parteipolitischen Entscheidungen unterworfen. So sei auch die Entscheidung, sich am Krieg zu beteiligen, nicht in den zuständigen Regierungsgremien, sondern durch diese Nebenregierung getroffen worden.

Im ersten Punkt des Urteils wurde auf die Gräuel gegen die Armenier Bezug genommen:
„Die Massaker-Verbrechen in Trabzon, Yozgad und Bogazliyan, die in Verfahren vor dem Kriegsgericht nachgewiesen wurden, wurden von den führenden Mitgliedern der Ittihad ve Terakki organisiert und ausgeführt; selbst wenn man, wie es von der Verteidigung vorgebracht wurde, annähme, dass es unter ihnen Personen gab, die von den Verbrechen erst im Nachhinein erfuhren, so wurde nichts unternommen, um eine Wiederholung zu verhindern oder gegen die Täter der vorhergehenden (Verbrechen) vorzugehen.“

Das Argument der jungtürkischen Verschwörung und Usurpation hatte natürlich Entlastungsfunktion für den Staat, der sich in schwierigen Friedensverhandlungen befand, in denen nach dem militärischen Zusammenbruch die politische Katastrophe drohte: nicht nur das Ende des osmanischen Reiches, sondern zugleich der Verlust jeder Aussicht auf eine zukünftige souveräne türkische Staatlichkeit.

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Die Tatsachen waren bekannt

Jedenfalls wurden Kriegsverbrechen der osmanischen Seite offen eingestanden. Auch wurde die Verantwortung für die Verschärfung der Nationalitätenkonflikte nicht den Minderheiten in die Schuhe geschoben. Die „willkürliche Administration und die Tyrannei“ der Komiteemitglieder habe dazu geführt, „dass man die absolutistische Periode vermisste, und vor allem die nicht muslimischen Elemente eine noch größere Unzufriedenheit äußerten, und insbesondere die armenische Millet erkannte, dass ihre Überzeugung, unsere ehrbare konstitutionelle Herrschaft werde Ruhe und Gerechtigkeit gewährleisten, unzutreffend war, und sie gemäß ihrer vorherigen Überzeugung eine günstige Gelegenheit suchten, ihre nationalen Ziele zu verwirklichen. Die Angelegenheit der Nationalität zwischen den Elementen und sogar zwischen den Muslimen, hat Abkühlung und Absonderung bewirkt und der osmanischen Einheit Schaden zugefügt.“ (1)

Mit dem Urteil des Kriegsgerichts erkannte das Überbleibsel des osmanischen Reiches Willkür, Tyrannei und Kriegsverbrechen zwar als Tatsachen an, unterstellte aber zugleich, Administration und Regierung seien selbst Opfer einer illegalen Okkupation gewesen.
Auch Kemal Mustafa, der 1919 am Beginn des Kampfes um die anatolischen Kerngebiete eines neuen türkischen Staates stand, machte zunächst kein Hehl aus den Kriegsverbrechen gegen die Armenier. Gegenüber General Harbord, dem Leiter der amerikanischen Delegation, sprach er im Oktober 1919 von 800 000 getöteten Armeniern und verurteilte diese Tat. Die Verantwortung sah er bei den Ittihadisten. In einem anderen Gespräch meinte er: „Sollen wir auf die Alliierten warten, um all die Schurken zu ergreifen?“ In der Eröffnungsrede des Parlaments am 24. April 1920 in Ankara sprach er von einer „Schandtat der Vergangenheit“ und wies zugleich den britischen Vorwurf zurück, „solche Katastrophen“ würden immer noch stattfinden. (2)

Auf der Seite des entstehenden neuen türkischen Staates wie von Seiten des alten osmanischen wurde die Tatsache der Kriegsverbrechen an den Armeniern also nicht geleugnet, die Verantwortung jedoch abgeschoben. Die Massaker und Kriegsverbrechen, so die damalige Begrifflichkeit, wurden Kräften zugeschrieben, die irgendwo zwischen dem osmanischen Reich und der Türkei, in einem Zwischenreich politischer Verantwortungslosigkeit agiert hatten.



Der Streit um die Bewertung

Wie in den letzten Jahren regelmäßig kommt es auch dieses Jahr im Vorfeld des 24. April, dem Gedenktag den Armenier an die „Katastrophe“, zur Auseinandersetzung um die Anerkennung der Verbrechen aus den Kriegsjahren als türkischem Genozid. Parlamentarier und Regierungen müssen sich entscheiden, ob sie mehr Angst vor den innenpolitischen Folgen einer Ablehnung der Forderungen der armenischen community oder vor den außenpolitischen Folgen einer Verärgerung der türkischen Regierung haben sollen.

Parlamentsgremien verhalten sich nicht selten anders als Regierungen. Regierungschefs verhalten sich oft anders als sie als Wahlkämpfer geredet haben. Barack Obama hat sich so erneut den Vorwurf des Opportunismus eingehandelt. Menschenrechtliche Prinzipien scheinen realpolitischen Interessen geopfert zu werden, wenn von der Forderung einer „Anerkennung“ des Genozids an den Armeniern durch die Türkei abgeraten wird. Es macht einen Unterschied, ob ein Parlament seiner Meinung und Wertung Ausdruck verleiht, oder ob es verlangt, diese Meinung müsse von der Türkei als Urteil anerkannt werden.

Deshalb hatten die Grünen im Europäischen Parlament recht, als sie aus der einschlägigen Resolution auf die Streichung einer Passage drangen, die diese Anerkennung zur Vorbedingung eines EU-Beitritts erklärte (3). Die türkische Gesellschaft und die Regierung der Türkei müssen keine Wertung durch Organe anderer Staaten wie das Urteil eines internationalen Strafgerichtshofes akzeptieren, dürfen aber die Tatsachen nicht verleugnen. Doch schlägt die Ablehnung einer Wertung der Tatsachen durch andere auf Seiten der offiziellen Türkei immer wieder in die verbissene Verleugnung der Tatsachen selbst um.



Tatsachen gelten nichts mehr

Nach Meinung von Ministerpräsident Erdogan ist die Türkei bereit, sich ihrer „Geschichte zu stellen“, wenn „nach der historischen Aufarbeitung etwas Ernsthaftes ans Licht kommt“ (4). Das klingt als lägen die Ereignisse von 1915 und danach noch völlig im Dunkeln und sei „Ernsthaftes“ nicht schon längst ans Licht gekommen. Wie die Urteile des Istanbuler Kriegsgerichtshofes und die Äußerungen von Mustafa Kemal zeigen, waren die Verbrechen kurz nach dem Krieg und zur Zeit der Entstehung der türkischen Republik im zeitgenössischen Bewusstsein völlig präsent. Zu viele hatten zu viel gesehen.

Im Unabhängigkeitskrieg der neuen Türkei und in den politischen und kulturellen Umwälzungen nach Gründung der türkischen Republik, beim schwierigen Manövrieren zwischen den Mächten vor und im Zweiten Weltkrieg geriet dieses Wissen in den Hintergrund und wurde verdrängt. Im Unterschied zu den deutschen und russischen Verlierern des Ersten Weltkrieges, die sich in neuer Form, nationalsozialistisch oder sowjetimperial um die Wiederherstellung und Ausweitung ihrer alten Herrschaftsbereiche schlugen, versuchte die Türkei sich in den geltenden Grenzen zu konsolidieren und sich aus dem Krieg herauszuhalten. Sie erlag nicht der imperialen Versuchung, die der neue Krieg für sie durchaus bedeutete.

Man kann die türkische Umsicht als Konsequenz aus dem gescheiterten jungtürkischen Versuch interpretieren, im Ersten Weltkrieg die Niederlagen aus den russisch-türkischen Kriegen und den Balkankriegen zu revidieren. Lessons learned, heißt das heutzutage. Außenpolitisch ist die türkische Republik ein Musterschüler. In Sachen der eigenen Geschichte ist sie vielleicht gerade deshalb auf die Hinterbank geraten.


Ein neuer Begriff im Deutungskampf

Wenn die Türkei sich heute dem Vorwurf des Genozids an den Armeniern im ersten Weltkrieg stellen muss, sehen sich ihre Regierung aber auch große Teile der Bevölkerung einer doppelten, wie sie meinen, ungerechtfertigten „Singularisierung“ ihrer Geschichte unterzogen: Wird mit diesem Vorwurf nicht der gesamte Kontext der russisch-türkischen Kriege und der Balkankriege ausgeblendet? Werden die Türken nicht prinzipiell in eine Täterrolle gedrängt, während sie längst auch zu Opfern geworden waren, vertrieben im Nordosten, wie im Südwesten des Reiches? In dieser Sicht ist der Genozidvorwurf eine Abstraktion vom Kontext der Auseinandersetzungen vor und im ersten Weltkrieg. Die zweite Form einer diffamierenden Singularisierung kann darin gesehen werden, dass allein die türkischen Kriegsverbrechen während des Ersten Weltkrieges in der internationalen Diskussion in den Rang des Genozids erhoben werden und damit in den Kategorien der Judenvernichtung durch die Deutschen beurteilt werden.

Erdogan sagt: „Es handelte sich nicht um massenhaften Mord der einen an der anderen Seite, sondern um eine Schlacht. Dabei sind Türken gestorben ebenso wie Armenier, die treue Bürger des Osmanischen Reiches waren“ (5). Doch gerade in diesem Fall handelte es sich um massenhaften Mord der einen an der anderen Seite. Aber es war gleichzeitig eine Schlacht in dem jahrzehntelangen brutalen Krieg um die Umwandlung des osmanischen Reiches in eine Reihe von neuen (National-)Staaten. Ethnische Säuberungen, einseitig brutal oder nicht weniger brutal aber wechselseitig vereinbart als „Bevölkerungsaustausch“ waren Teil der staatlichen Neuordnung. Bei der Bewertung der Vertreibungs- und Vernichtungsaktionen gegen die Armenier im Ersten Weltkrieg darf weder von diesem Kontext abstrahiert werden, noch dürfen diese Verbrechen zu einer Episode unter anderen in der gewaltigen und höchst gewalttätigen Auseinandersetzung erklärt werden. Hier bleibt für Historiker, auch wenn an den Verbrechen an den Armeniern kein Zweifel besteht, noch viel Arbeit zu tun. In den meisten Geschichten des Ersten Weltkrieges wird die zeitgenössisch so zentrale „orientalische Frage“ sträflich vernachlässigt.


Eine neue Wahrnehmungsweise suchen

Der Vorschlag einer armenisch-türkischen Historikerkommission mag ein bloßes Ablenkungsmanöver der türkischen Regierung sein, um unleugbare Tatsachen auf unbestimmte Zeit unter der Decke zu halten, er könnte aber auch einen neuen Abschnitt in der Aufklärung eines entscheidenden Abschnitts in der europäischen Geschichte eröffnen. Der Erste Weltkrieg entzündete sich schließlich an einem Folgekonflikt der Auflösung des osmanischen Reiches und hatte dessen definitive Aufteilung als ein Hauptergebnis.

Der Vernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen unter Hitler diente der Zweite Weltkrieg nur als Anlass, Gelegenheit und Deckung. Bei den Verbrechen an den Armeniern sind die jahrzehntelangen Kriege gegen das osmanische Reich und der Erste Weltkrieg nicht wegzudenkender Kontext. Ohne seine Aufklärung wird es nicht gelingen, die Einsicht in die türkische Verantwortung an den Verbrechen gegen die Armenier unter den Türken zu fördern.

Der ermordete „Türkei-Armenier“ Hrant Dink fürchtete, dass die armenische Welt sich bis zur Erschöpfung an den Türken als Feindbild aufhalte und ihre gesamte gemeinsame Kraft darauf verwende, „auf die Türkei Druck auszuüben bzw. darauf, dass andere Länder auf die Türkei einwirken, den Völkermord anzuerkennen. Das ist nichts anderes als ein großer Zeitverlust und verschiebt das Erwachen der armenischen Identität.“(6) Umgekehrt halten die Abwehrschlachten der offiziellen Türkei in diplomatischen Noten, Filmen und Schulbüchern davon ab, ein aufgeklärtes Verständnis der eigenen Geschichte im Übergang des untergehenden osmanischen Reiches zu der sich neu konstituierenden Türkei zu entwickeln. Sie verleiten immer wieder dazu, die vielfältig geprägte und komplex zusammengesetzte moderne Türkei über den Leisten des einen großen Türken zu schlagen. Das panzert das Land gegen offene Debatten, verschärft die inneren Konflikte und macht es allen allzu leicht, die der Türkei den Weg in die EU verbauen wollen.


Fußnoten:

  • (1) Die Zitate stammen aus Taner Akcam, Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung, Hamburg 2004, wo das Urteil auf den Seiten 353 – 364 dokumentiert ist.
  • (2) Die Hinweise finden sich bei Taner Akcam, a.a.O auf S.124
  • (3) S. dagegen Perry Anderson, Nach Atatürk. Die Türken, ihr Staat und Europa, Berlin 2009, S. 109, wo der Verfasser durch das Verhalten der grünen Fraktion die „allgemeine Regel“ bestätigt sieht: „Je mehr eine politische Gruppe von Menschenrechten redet, desto weniger wird sie sie achten."
  • (4) Spiegel 13/2010, S. 101
  • (5) Ebd.
  • (6) In der Broschüre Wenn man die Armenierfrage diskutiert… , die die Türkeivertretung der Heinrich Böll-Stiftung 2006 herausgab, findet sich ein längerer, sehr lesenswerter Artikel von Hrant Dink. Hier wird aus S. 64 f. zitiert. Vgl. auch Sibylle Thelen, Die Armenierfrage in der Türkei, soeben bei Wagenbach erschienen.

Artikel von Gastautoren spiegeln nicht zwangsläufig die Haltung der Heinrich-Böll-Stiftung wider.

 
 
 

Joscha Schmierer

Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.
 

 

 
 
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