Der deutsche Afghanistan-Einsatz: Bedeutung, Bilanz und Konsequenzen

Hintergrund

Deutsches Engagement in und für Afghanistan begann schon lange vor dem 11. September 2001. Eine Analyse der Ziele und Ergebnisse, der akuten Krise des Afghanistan-Einsatzes und einer möglichen Zukunft.

Deutsches Engagement in und für Afghanistan begann nicht erst nach dem 11. September 2001. In den 60er und 70er Jahren war Afghanistan ein Schwerpunkt bundesdeutscher Entwicklungshilfe. Sie ist bis heute in bester Erinnerung, zum Beispiel das Technikum in Paktia und Kandahar. Afghanische Polizeioffiziere absolvierten Lehrgänge in der Polizeiführungsakademie in Münster-Hiltrup wie in er DDR.

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1980 begann die Deutsche Welthungerhilfe ihre Arbeit in Afghanistan, 1989 kam die Dortmunder OP-Schwester Karla Schefter nach Afghanistan und baute in der Provinz Wardak bei Kabul einen Krankenhauskomplex auf. Mit anderen Worten: Deutsche humanitäre und Aufbauhilfe gab es vor dem Bundeswehreinsatz - und wird es auch nach dem Einsatz geben (müssen).

In das Gesichtsfeld einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland trat Afghanistan mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Nach der anfänglichen breiten und ehrlichen Solidarität mit den angegriffenen USA war die politische Entscheidung zu einem Bundeswehreinsatz in Afghanistan vor allem in der rot-grünen Koalition hoch umstritten.

Am 16. November 2001 beschloss der Bundestag die deutsche Beteiligung an der US-geführten Antiterror-Operation Enduring Freedom (OEF), darunter den Einsatz von bis zu 100 Spezialsoldaten in Afghanistan. Ausschlaggebend war das dabei das Motiv der Bündnissolidarität gegenüber den USA. Ohne den Druck der von Bundeskanzler Schröder gleichzeitig gestellten Vertrauensfrage hätte die rot-grüne Koalition wohl keine eigene Mehrheit für diesen Einsatz zustande gebracht.

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Viel weniger strittig in Parlament und Öffentlichkeit war die Entscheidung zur Bundeswehrbeteiligung an der International Security Assistance Force ISAF einen Monat später nach der Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn. Ausgehend vom Mandat des UN-Sicherheitsrats war der Startauftrag, die »vorläufigen Staatsorgane Afghanistans bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und seiner Umgebung so zu unterstützen, dass sowohl die vorläufige afghanische Regierung als auch das Personal der Vereinten Nationen in einem sicheren Umfeld arbeiten können.« (1)

Als sich in den ersten Monaten des Einsatzes verbreitete Befürchtungen nicht bestätigten, vermischte sich in Berlin Erleichterung mit hoffnungsvollen Erwartungen. Besucher sahen in Kabul die enormen Zerstörungen des Bürgerkrieges, erfuhren plastisch von dem Terrorregime der Taliban und erlebten die Freundlichkeit der Kabuler Bevölkerung gegenüber den internationalen Truppen. Auf der Hand lag der enorme Aufbaubedarf. Hoffnungsvoll war das Echo auf erste Maßnahmen wie zum Beispiel ein Winterschulprogramm, das u.a. von der deutschen Botschaft organisiert worden war. Wo der Geheimeinsatz des Kommando Spezialkräfte und OEF außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung stattfanden, entsprach der Augenschein des Afghanistan-Einsatzes seinem Auftrag: Stabilisierungs- und Aufbauunterstützung. Der ISAF-Militäreinsatz begann trotz robuster Mandatierung als vorsichtiges Peacekeeping in einem unübersichtlichen und riskanten Umfeld, Welten entfernt von einem Kriegseinsatz und heutiger Aufstandsbekämpfung.

Neun Jahre später ist die Erinnerung an die ersten Monate und Jahre wie ein großer Traum mit höchst unterschiedlichem Erwachen: Wo für einen Teil Träume in Erfüllung gingen, gab es insgesamt ein böses Erwachen. Ein Rückfall in die 90er Jahre, in Taliban-Herrschaft und Bürgerkrieg ist möglich.

Worum es geht

Das geflügelte Wort von der »Verteidigung Deutschlands am Hindukusch« ist eingängig, aber irreführend. Es atmet ein entgrenztes Verständnis von Verteidigung: Weg vom eigenen Territorium hin zur militärischen Verteidigung von nationalen Interessen, und damit weg vom Völkerrecht. In Afghanistan geht es keineswegs um die Existenz der Bundesrepublik Deutschland, sondern um zentrale internationale kollektive Sicherheitsinteressen: die nachhaltige Beseitigung der dortigen Terror-Infrastruktur und den Aufbau eines zutiefst kriegszerstörten Landes. Wenig bekannt ist, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Verhältnisse in Afghanistan schon seit 1999 als Bedrohung von internationalem Frieden und Sicherheit bewertet. Nur eine oberflächliche Bedrohungsanalyse kann behaupten, die heutigen Taliban seien eine direkte Bedrohung für deutsche nationale Sicherheit. Abgesehen von der Eurokrise ist Afghanistan die bisher größte Herausforderung für bundesdeutsche Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem in ihrem Verständnis als Friedenspolitik: Im Hinblick auf die Komplexität, die materiellen Kosten, politischen Risiken – und – erstmalig – die menschlichen Opfer. Eine Kluft wie nie bei einem Auslandseinsatz besteht zwischen der großen parlamentarischen Mehrheit für den Afghanistan-Einsatz und seiner mehrheitlichen Ablehnung in der Bevölkerung.

Erstmalig seit Bestehen der Bundeswehr befinden sich Bundeswehrsoldaten in Kampfeinsätzen gegen Aufständische. Erstmalig werden Bundeswehrsoldaten im Kampf getötet, körperlich und psychisch verwundet, erstmalig töten und verwunden sie. Ein Ende ist nicht absehbar. Ein Scheitern des ganzen internationalen Einsatzes ist möglich, nach Einschätzung mancher Landeskenner sogar wahrscheinlich. Ein Scheitern hätte aller Voraussicht nach desaströse Folgen:

  • für die Menschen in Afghanistan, vor allem die für mehr menschliche Sicherheit und Menschenrechte Engagierten,
  • für die regionale Sicherheit vor allem im Hinblick auf Pakistan, Zentralasien,
  • für internationale Sicherheit, für eine Politik kollektiver Friedenssicherung und Verantwortung im Rahmen der Vereinten Nationen und NATO.

Schon jetzt ist der Afghanistan-Einsatz eine enorme Belastungs- und Bewährungsprobe für die Innere Führung und das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform. Viele Soldaten zweifeln, ob ein Einsatzerfolg unter den gegebenen Bedingungen überhaupt erreichbar ist. Viele können nicht mehr aus Überzeugung gehorchen, sind zurückgeworfen auf ihre professionelle Berufseinstellung, ja auf Kameradschaft als letzte Motivation und allerletzten Halt.

Aspekte einer Bilanz

Das methodische Handicap ist notorisch und selbstverschuldet: Seitens der Bundesregierung gab es seit Jahren keine systematische Wirksamkeitsbewertung des deutschen Afghanistan-Engagements. Die Bundesregierung lieferte überwiegend Input-Berichte, höchstens Teilevaluierungen, keinerlei integrierte Bilanzen. Wie viele der ausgebildeten Polizisten »blieben«? Was erbrachte die Antiterror-Operation Enduring Freedom zur Eindämmung von Terrorismus? Wie nachhaltig sind die vielen Entwicklungsprojekte? Lauter elementare Fragen ohne Antworten. Die politischen Bilanzen der Regierung blieben pauschal und beschönigend, sie waren von einem Interesse an Selbstrechtfertigung geprägt. Der im Dezember 2010 erstmalig erschienene „Fortschrittsbericht Afghanistan“ der Bundesregierung brachte wohl die bisher detaillierteste und informativste Bestandsaufnahme der Bundesregierung zum internationalen und deutschen Afghanistaneinsatz. Den überfälligen Durchbruch zu einer ungeschminkten und selbstkritischen Evaluierung des eigenen Engagements brachte dieser Bericht aber nicht.

Trotz dieser grundlegenden Versäumnisse sind Einzelergebnisse erkennbar:

Der militärische Kernauftrag, zu einem sicheren Umfeld beizutragen, wurde landesweit höchst unterschiedlich realisiert. Weite Gebiete des Südens und Ostens sind seit 2006 offensichtlich (Guerilla) Kriegsgebiete. Zwischen dem Distrikt Sangin oder Nad Ali in Helmand im Süden und der Provinz Balkh im Norden liegen Welten.

Im Norden gelang eine Gewalteindämmung zumindest bis 2007. Die methodisch seriöse Untersuchung von Forschern der FU Berlin in Takhar und Kunduz ermittelte Anfang 2007 höchste Zustimmungswerte in der Bevölkerung zum internationalen Entwicklungs- und Militärengagement. (2) Wirksame Gewalteindämmung bedeutet, dass viele Menschen vor Tod, Verwundung, Verlust von Hab und Gut, vor Flucht bewahrt wurden. Allerdings sind diese Wirkungen weder quantifizierbar noch sichtbar. Seit 2007 ist die Entwicklung gespalten: In der Mehrzahl der neun Nordprovinzen ist die Lage noch relativ ruhig, ist Entwicklung möglich.

Dagegen hat die frühere Hoffnungsprovinz Kunduz mit der südlich anschließenden Provinz Baghlan einen regelrechten Absturz erlebt. Von den 123 Distrikten des Nordens galten im Jahr 2010 ca. acht als Guerillakriegsgebiete. Im ersten Quartal 2011 gingen im Kunduz-Baghlan-Korridor die Sicherheitsvorfälle im Vergleich zum Vorjahrszeitraum erstmalig seit Jahren zurück. Erreicht wurde das mit einer veränderten Operationsführung und einem vervielfachten Kräfteansatz von ISAF und afghanischen Sicherheitskräften.

Landesweit soll es 20.000 bis 30.000 bewaffnete Kämpfer als Kern geben, dazu ein weiter, dem militanten Widerstand nahe stehender Personenkreis von mehreren 100.000, darunter ein signifikanter Anteil der paschtunischen Gesellschaft. Wo die Zahl der Sicherheitsvorfälle weiter rapide steigt, wo die Zonen relativer Sicherheit und Zugänglichkeit schrumpfen, da kann insgesamt von Erfüllung des militärischen Auftrags durch ISAF immer weniger die Rede sein. (3)

Ein zentraler Indikator für Aufbau und Entwicklung ist die Kindersterblichkeit. 2003 lag sie bei 257 auf 1.000 Kinder bis fünf Jahre, 2006 bei 191, 2009 bei 156. Das bedeutet im Klartext, dass jährlich Zehntausende Kinder am Leben blieben! Das ist eine große Leistung! Der Vergleich mit der Kindersterblichkeit weltweit (ca. 60), gar Deutschland (ca. 4) zeigt, wie weit zurück Afghanistan als eines der ärmsten Länder der Welt immer noch liegt.

Bekannt ist, dass heutzutage etwa acht Millionen Kinder Schulen besuchen, davon ein Drittel Mädchen. 2001 waren es eine Million, nur Jungen. Ein wichtiger Indikator sind Teacher Training Centers, von denen die Bundesrepublik im Norden fünf errichtete. Hier werden jeweils zwischen 1.000 bis 3.000 Studierende und Lehrerinnen und Lehrer aus- und fortgebildet. Bei mehreren Besuchen erlebte ich hier eine bewundernswerte Motivation und ein Engagement für die junge Generation, für das eigene Land.

Seriöse Umfrageergebnisse sind in einem so fragmentierten Land wie Afghanistan besonders schwer zu bekommen. Auffälliges Ergebnis aller Umfragen ist aber, dass die Sicht der Afghaninnen und Afghanen auf ihre Sicherheit, Zukunft und Politik erheblich positiver ist als die tiefschwarze Wahrnehmung aus der Ferne zum Beispiel in Deutschland. Das gilt auch für die jüngste Umfrage von ARD, ABC, BBC und Washington Post vom Dezember 2010, in der allerdings das Engagement des Westens so kritisch bewertet wird wie nie zuvor.

Von den Kosten und Einsatzfolgen seinen exemplarisch genannt: Im Jahr 2010 verloren im Zusammenhang mit dem »innerstaatlichen bewaffneten Konflikt« in Afghanistan lt. UNAMA allein 2.777 Zivilpersonen ihr Leben.1.292 Polizisten wurden im Jahr 2010 getötet. Für die Bundeswehr war das Jahr 2010 das bisher verlustreichste mit neun getöteten Soldaten und über 60 physisch Verwundeten. Eine deutlich höhere Zahl an Soldaten wurde seelisch verwundet.

Nachdem der Afghanistaneinsatz in den ersten Jahren von einer Bevölkerungsmehrheit in Deutschland befürwortet wurde, hat er in den letzten Jahren immer mehr an Akzeptanz verloren. Parallel zur Verschärfung der Sicherheitslage seit 2007/2008 erlebte die politische Führung auch unter Bundeswehrangehörigen einen Vertrauenseinbruch sondergleichen. Dem ehemaligen Verteidigungsminister zu Guttenberg gelang es in seiner Zeit, bei den Soldaten Vertrauen zurückzugewinnen. Nach allem, was man von deutschen Offizieren aus NATO-Zusammenhängen hört, hat die Bundesrepublik unter Verbündeten massiv an Ansehen und Gewicht verloren. Relativ am besten scheint Deutschland noch bei der afghanischen Bevölkerung angesehen zu sein.

Bis heute gibt es – zum Teil bemerkenswerte – Teilerfolge: In Teilen des Nordens, des Westen, in Kabul, sogar in der südlichen Unruheprovinz Uruzgan, wo die Niederländer vergleichsweise erfolgreich waren. Die Teilerfolge werden seit einigen Jahren zunehmend überschattet, eingeschränkt und infrage gestellt durch eine Ausweitung der Aufstandsbewegung, eine ungebremste Eskalation der politische Gewalt und andauernd schlechte und korrupte Regierungsführung.

Vertane Chancen

Wie konnte es zu diesem Wegrutschen des Afghanistan-Einsatzes kommen? Bei fünfzehn Besuchen in Afghanistan erlebte ich Hunderte Soldaten, Entwicklungsexperten, Diplomaten, Polizisten, die im Einsatz enorme Belastungen und Risiken auf sich nahmen. Ihre Leistungen verdienen hohe Anerkennung. An ihnen liegt dieses Wegrutschen am aller wenigsten.

Zur akuten Krise des Afghanistan-Einsatzes trugen vor allem politische Fehleinschätzungen und strategische Fehler bei:

  • Zuerst die naive Unterschätzung der gigantischen und komplexen Herausforderung von Stabilisierung und Statebuilding in einem Afghanistan nach 23 Jahren Krieg. Dies zeigte sich in der regelrechten Verachtung von Statebuilding und dem Schwenk auf den Irak-Krieg seitens der Bush-Administration in den ersten Jahren. Das zeigte sich an der mageren Ausstattung der deutschen Polizeimission, die nicht weniger als die Lead-Rolle beim Polizeiaufbau wahrnehmen sollte.
  • Die jahrelangen strategischen Dissense unter den Verbündeten: Primat der Gegnerbekämpfung vs. Primat der Bevölkerungsorientierung. Dieser Dissens wurde in Brüssel auf der politischen Bündnisebene nie ausgetragen. Ausbaden mussten ihn die Diplomaten, Soldaten, Entwicklungshelfer vor Ort, wo respektloses und rücksichtsloses Auftreten der einen die Glaubwürdigkeit und Legitimität des gesamten internationalen Engagements beschädigte. 
  • Die jahrelange Fixierung auf Kabul und auf die Förderung von Zentralstaatlichkeit in einem Land, das nie einen starken Zentralstaat gekannt hatte und wo das Lokale eine eminente Bedeutung hat. 
  • Die frühen Kumpaneien von Verbündeten mit alten Warlords öffneten diesen die Türen zu Einfluss, Macht und Pfründen – auf Kosten innerafghanischer Reformkräfte und der Legitimität der neuen afghanischen »Demokratie« insgesamt.
  • Die Zersplitterung und Diskontinuität eines internati-nalen Stabilisierungs- und Aufbau-Engagements, das es in dieser Dimension und Komplexität in der Geschichte wohl noch nicht gegeben hat: Ein inkohärenter Multilateralismus der Nationen und ihrer Ressorts, von NATO, UNAMA und schwer koordinierbaren UN-Sonderorganisationen, von Internationalen Organisationen und NGO`s mit ihren jeweiligen Interessen, Vorbehalten, Politiken, verschiedenen PRT-Ansätzen etc. 
  • Das Missverhältnis zwischen militärischen Anstrengungen und ihren viel größeren Ressourcen einerseits und den schwächeren diplomatischen und zivilen Anstrengungen und Kapazitäten andererseits. 
  • Das zu lange Ausblenden der regionalen Dimension, insbesondere Pakistans und des Iran.

Die deutsche Afghanistan-Politik vermied wohl die Groß-Fehler der USA und setzte von vorne herein mehr auf Bevölkerungsorientierung. Zugleich war sie lange durch Unehrlichkeit, Halbherzigkeit und Strategiemangel gekennzeichnet. Bezeichnend war, dass die Bundeskanzlerin ihre erste Regierungserklärung zu Afghanistan erst im September 2009 nach dem Luftangriff von Kunduz kurz vor der Bundestagswahl hielt. In den Jahren zuvor waren die kritischer werdenden Realitäten des Afghanistan-Einsatzes zunehmend aus den Augen geraten.

Befördert wurde das durch Neigungen zum Schönreden in der Militärhierarchie, durch einen Primat innenpolitischer Interessen an der politischen Spitze, durch die notorische Verweigerung einer ungeschönten, unabhängigen Wirksamkeitsbewertung. Heraus kam eine Struktur von Selbsttäuschung, Realitätsverlust und Täuschung. Dass ISAF mit den vorhandenen Bundeswehrkräften spätestens ab 2008 in Kunduz nicht mehr ihren Auftrag erfüllen konnte, wurde von den Kommandeuren gemeldet, wollte man in Berlin aber nicht wahrhaben.

Die Verantwortung hierfür trägt die Bundesregierung, unter den Bedingungen einer Parlamentsarmee aber nicht nur. Mitverantwortung trägt der Bundestag in Gestalt seiner Fachausschüsse. Koalitionsmehrheiten verletzten unter dem Primat der Koalitionsdisziplin ihre Kontrollpflichten. Zwei Untersuchungsausschüsse des Verteidigungsausschusses (2007/2008 zu Murnat Kurnaz, 2010 zum Luftangriff vom 4. September) banden so viel an Kräften, dass darüber die sorgfältige Einsatzbegleitung zu kurz kam.

Neuer Anlauf - zu spät?

So wurden die besseren Chancen der ersten Jahre vertan. Unter Präsident Obama initiierten die USA einen Strategiewechsel bei ISAF und unternahmen einen neuen Anlauf: Umorientierung auf militärisch-politische Counterinsurgency, wo Schutz und Zustimmung der Bevölkerung der Dreh- und Angelpunkt sein sollte, Aufwuchs an militärischen und zivilen Kräften, Mobilisierung enormer Finanzmittel. Noch nie waren die Ziele und Vorstellungen der »Internationalen Gemeinschaft« so nahe beieinander wie heute. Die Bundesregierung verdoppelte für 2009 die Mittel für den zivilen Aufbau. Die ISAF-Truppensteller, die afghanische Regierung und die UN nahmen Abschied von der früheren Endlos-Perspektive des internationalen Einsatzes und einigten sich auf eine militärische Abzugsperspektive.

Trotzdem ist ungewiss ist, ob der Strategiewandel und die große Kraftanstrengung nicht zu spät kommen. Wie können nach Jahren der enttäuschten Hoffnungen und des Vertrauensverlustes Köpfe und Herzen zurück gewonnen werden,

  • wenn die afghanische Regierung durch überwiegend schlechte Regierungsführung und exzessive Korruption weiterhin Köpfe und Herzen abstößt, wenn die Ausbreitung der Aufstandsbewegung so fortgeschritten und teilweise tief verwurzelt ist;
  • wenn ISAF ihr Schutzversprechen für die Bevölkerung immer weniger erfüllen kann und wenn offensive Gegnerbekämpfung, wenn »kill and capture« der mittleren Führer der Aufständischen dazu führt, dass sie von jüngeren, radikaleren und brutaleren Führern aus Pakistan ersetzt werden; 
  • wenn der ISAF-Abzug absehbar erscheint und sich Afghanen zunehmend auf die »Zeit danach« einstellen?

Letzte Chancen nutzen

Die »Alternative« eines militärischen Sofortabzugs, also im Laufe 2011, hätte mit Sicherheit desaströse Folgen. Beendet würde der Krieg nur für die abziehenden internationalen Truppen. Für die zurückbleibenden Afghaninnen und Afghanen würde er aller Voraussicht nach ungehemmt eskalieren. Neben einer schnellen Taliban-Machtergreifung im Osten und Süden wird für andere, bisher nur relativ ruhige Landesteile mit Bürgerkrieg gerechnet. Im Unterschied zum Bürgerkriegshorror des Afghanistan der frühen 90er Jahre fürchten heute die Staaten der Region die regionalen Auswirkungen eines afghanischen Zusammenbruchs.

Angesichts solcher »Alternativen« kommt es darauf an, noch mögliche Chancen bestmöglich zu nutzen und eine militärische Abzugsperspektive zu verfolgen, die friedens- und sicherheitspolitisch verantwortlich ist und sich nicht zynisch-kurzsichtig in der Gesichtswahrung der NATO erschöpft.

Deutsche Afghanistan-Politik muss sich zu allererst ehrlich machen. Das ist mit der realitätsnäheren Sprache der jetzigen Regierung noch längst nicht erreicht.

Wer noch ernsthaft an einem glimpflichen und verantwortlichen Ausgang des Afghanistan-Einsatzes und einer friedlichen Entwicklung in Afghanistan interessiert ist, braucht genaues Hinsehen statt Pauschalwahrnehmungen, eine ungeschminkte Lageanalyse, der Sicherheits- wie der Aufbaulage, braucht überprüfbare Zwischenziele und laufende unabhängige Wirksamkeitsbewertungen. Vorbilder hierfür sind der kanadische Quartalsbericht und die Vierjahresbilanz zum niederländischen Engagement in Uruzgan.

Ohne eine Evaluierung gibt es keine realistische und aussichtsreiche deutsche Afghanistan-Politik. Ohne eine ungeschönte Bilanzierung gibt es keine Chance, den Akzeptanz- und Vertrauensverlust zu stoppen, gar umzukehren. Begleitet und angetrieben werden muss das durch eine öffentliche Debatte, die nach gemeinsamen Zielen, Lösungswegen und notwendigen Kräften fragt und nicht wie üblich in Fragen von militärischer Ausrüstung und Einsatzregeln stecken bleibt.

Ohne in Machbarkeitsillusionen zu verfallen oder sich im Multilateralismus zu verstecken: Was will die Bundesrepublik - in Abstimmung mit der afghanischen Seite und den Verbündeten - bis wann erreichen? Was ist die Road Map?

Überfällig ist ein klares, ehrliches und erfüllbares Bundestagsmandat, in dem die Hauptaufgaben realitätsnäher benannt werden.

Der Primat der Politik und die Schlüsselaufgabe Förderung von Governance brauchen angemessene Personalkapazitäten, brauchen Muskeln. Das gilt vor allem für die Diplomatie, die bisher schon mangels Masse vor Ort den Primat der Politik nicht ausfüllen konnte. Dem deutschen ISAF-Regionalkommandeur Nord war bis zum Frühsommer 2010 ein (!) Diplomat des höheren Dienstes zugeordnet, zuständig für neun Provinzen, während des Heimaturlaubs ohne Vertretung. Die USA stellen ihrerseits den ISAF-Regionalkommandeuren Senior Civilian Representatives mit Teams von zehn bis dreißig Personen zur Seite und setzen das auf der Provinz- und Distriktebene (District Support Team) fort. Wer nach Zurückdrängen von Aufständischen Distrikte halten und wirklich stabilisiere will, braucht zivile Kapazitäten für die taktische Ebene.

Die Zahl deutscher Polizeiberater und -ausbilder wurde etwas aufgestockt, liegt aber noch weit hinter dem drängenden Bedarf. Die deutsche Polizeihilfe braucht endlich eine verlässliche Rekrutierungsstruktur und einen Pool an neuen Stellen in Deutschland. Um den Rückstand an zivilen Fähigkeiten aufzuholen und die politisch-zivile Seite des Afghanistan-Einsatzes endlich mehr in den Blick zu bekommen, sollte die Bundesregierung dem Bundestag ein »umfassendes Mandat« vorlegen. Über die Vorgabe des Parlamentsbeteiligungsgesetzes hinaus würden in einem umfassenden Mandat auch die wesentlichen zivilen und polizeilichen Aufgaben benannt und die notwendigen Kräfte und Ressourcen zur Verfügung gestellt.

Gemeinsame Ziele vorausgesetzt müssten Kohärenz und Zusammenwirken der staatlichen Akteure eine Selbstverständlichkeit sein. Deshalb darf bei einer Aufgabendimension wie Afghanistan das Ressortprinzip nicht das letzte Wort sein. Unter Insidern ist Konsens, dass der viel beschworene Ansatz der vernetzten Sicherheit in erster Linie Lippenbekenntnis und kaum Realität ist. Lageerfassung, Planung und Auswertung brauchen eine ressortgemeinsame Struktur – wie zum Beispiel in Kanada. Nachholbedarf in ressortübergreifender Zusammenarbeit gibt es aber nicht nur auf Seiten der Exekutive, sondern auch auf Seiten des Parlaments. In diesem Zusammenhang bedürfen die seit Jahren hin und her diskutierten zivilmilitärischen Beziehungen zügig einer Klärung.

Schwerpunkte des deutschen Afghanistan-Engagements müssen sein:

  • Die forcierte, am Bedarf orientierte Aufbauunterstüt-zung für die afghanischen Sicherheitskräfte, für Polizei und Armee, aber auch Justiz.

  • Zusammen mit den afghanischen Sicherheitskräften (Wieder)Herstellung von minimaler physischer Sicherheit, von Bewegungsfreiheit in Distrikten, die bisher von Aufständischen und bewaffneten Gruppen domi-niert werden. 

  • Die Förderung von Governance vor allem auf der subnationalen Ebene, Ausbildung von Verwaltungsangestellten von Verwaltungskompetenz auf Provinzebene.
  • Die breite Förderung des Bildungswesens, insbesondere der Lehrerausbildung, verstärkt der beruflichen und der universitären Ausbildung. Gerade hier gibt es noch erhebliche, viel zu wenig genutzte Chancen!
  • Breite Beschäftigungsinitiativen für junge Leute, wo 49 Prozent der Bevölkerung jünger als fünfzezehn Jahre sind und die Zahl der 15-19-jährigen jungen Männer in den nächsten fünf Jahren um eine Million auf fast vier Millionen steigen wird. 
  • Verlässliche Unterstützung innerafghanischer Reformkräfte im umfassenderen Sinne, also auch von reform-orientierten traditionellen Autoritäten und Geistlichen.
  • Im multilateralen Kontext Förderung der regionalen Konflikteindämmung und -lösung.

Die Stabilisierung und der Aufbau Afghanistans erfordern Geduld und langen Atem, aber auch zügiges Handeln und konstruktive Ungeduld. Nach Jahren der vielen vertanen Chancen drängt jetzt die Zeit. Im  Sommer 2011 kommt die Stunde der Wahrheit. Dann wird sich zeigen, ob die enorme Kraftanstrengung von 2010 Früchte trägt, ob die Zahl der Sicherheitsvorfälle stagniert und zurückgeht – oder im Gegenteil so weiter wächst wie bisher.

Rückkehrer

In Afghanistan waren allein aus Deutschland inzwischen Abertausende Frauen und Männer im Einsatz, in Uniform und in Zivil. Sie kehren zurück mit vielfältigen Erfahrungen, faszinierenden oder verstörenden Erinnerungen, körperlichen und/oder seelischen Verwundungen. Die meisten lässt das Land mit seinen Menschen nicht mehr los, im Positiven wie im Negativen. Massiv mitbetroffen sind die Angehörigen, für die das Warten aus der Ferne besonders strapaziös sein kann. Zurück in der Friedens-Heimat erfahren Rückkehrer überwiegend Desinteresse.

Sogar entsendende Institutionen ignorieren oft die Erfahrungen von Rückkehrern. Eine wachsende vierstellige Zahl vor allem junger Männer hat als Einsatzsoldaten extreme Gewalterfahrungen gemacht, passiv und aktiv. Damit bleiben sie in der Regel allein. Das ist unerträglich, unzumutbar und gefährlich.

Unabhängig von der politischen Bewertung des Afghanistan-Einsatzes: Aufmerksamkeit und verlässliche Fürsorge für diese Frauen und Männer und ihre Angehörigen ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Politik und Gesellschaft. Diese wird inzwischen zunehmend, aber immer noch viel zu wenig wahrgenommen. Sie darf sich nicht in symbolischen Handlungen erschöpfen.

Ausschlaggebend bleibt, wie Regierung und Parlament ihrer Grun-pflicht zum klaren und erfüllbaren Auftrag und zur Ehrlichkeit nachkommen. Wer in höchste Belastungen und Lebensrisiken entsandt wird, muss sich darauf verlassen können, dass die Auftraggeber ihre Grundpflicht erfüllen. Alles andere wäre Missbrauch von Soldaten, Polizisten und zivilen Entsandten durch Unterlassung.


(1) Deutscher Bundestag 21.12.2001.

(2) Böhnke / Koehler / Zürcher 2010.

(3) Im 3. Quartal 2010 nahmen die Sicherheitsvorfälle (Kinetic Events in der ISAF-Sprache) gegenüber dem Vorjahrsquartal um 65% auf 4.723 zu. Über 90% der Vorfälle geschahen in den ISAF-Regionen Südwest, Süd und Ost. The Department of Defense 2010.


Literaturverzeichnis

  • Böhnke, Jan / Koehler, Jan / Zürcher, Christoph (2010), Evaluation Reports 049. Assessing the Impact of Development Cooperation in North East Afghanistan 2005 – 2009. Final Report. Hg. v. Bundesmi-nisterium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Bonn.
  • Deutscher Bundestag (21.12.2001): Antrag der Bundesregierung, Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan. Drucksache 14/7930.
  • Government of Canada (2010), Canada’s engagement in Afghanistan - quarterly report to Parliament for the period of January 1 to March 31, 2010.
  • The Department of Defense (Hg.) (2010): Report on Progress Toward Security and Stability in Afghanistan. Report to Congress in Accordance with Section 1231 of the National Defence Authorization Act for Fiscal Year 2008. Public Law 110-181, 28.04.2010 [07.02.2011].
  • The Liaison Office (2010), The Dutch Engagement in Uruzgan 2006 – 2010, A socio-political assessment, Kabul.

Der Beitrag ist erschienen bei Nomos in dem Buch "Das internationale Engagement in Afghanistan in der Sackgasse? Eine politisch-ethische Auseinandersetzung", hrsg. von Prof. Dr. Heinz-Gerhard Justenhoven und Dr. Ebrahim Afsah, Institut für Theologie und Frieden Hamburg, 2011. Der Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors zur Verfügung gestellt.