Brüsseler Entscheidungen für Serbien

Der Europäische Rat hat beschlossen, dass die Europäische Kommission die Beitrittsverhandlungen mit Serbien unverzüglich vorbereiten soll. Die Beitrittskonferenz und das Öffnen der ersten Kapitel sollen jedoch nicht vor Januar 2014 liegen. Zuvor muss der Europäische Rat im Dezember darüber befinden, ob die im Implementierungsplan vom 22. Mai eingegangenen Verpflichtungen von Serbien und Kosovo wie vereinbart bis Dezember eingelöst worden sind.

Der Abschluss der Vereinbarung vom 19. April zwischen Serbien und Kosovo verdient Anerkennung. Serbien beginnt damit die Abkehr von einer Politik, die über Jahre in der Region Unruhe und Unfrieden gestiftet hat. Damit wird der Blick der serbischen Politik frei für die großen Missstände in Serbien – angefangen bei der Korruption bis hin zur Überschuldung des Staatshaushaltes, die auf die hohen Kosten eines zu großen öffentlichen Sektors und zahlreicher defizitärer Betriebe in staatlichem Besitz zurückgeht. De-Industrialisierung und Misswirtschaft – die Themen des letzten Wahlkampfs – gehören endlich ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit und müssen wirksam bekämpft werden. Die Beitrittsverhandlungen, von der EU klug genutzt, könnten helfen, die umfassende Transformation und Modernisierung Serbiens in Verbindung mit einer breiten Debatte über die Richtung dieser Modernisierung einzuleiten. Das Datum gibt hierzu das richtige Signal.

Aber eine Vereinbarung bedeutet noch nicht das Erreichen der vereinbarten Ziele. Die Wahrnehmung und öffentliche Thematisierung ökonomischer Probleme bedeutet noch nicht eine Politik zum Besseren. Hat Serbien wirklich „alles getan“, wie die serbische Regierung immer wieder betont, was die Europäische Union im Sinne einer politischen und rhetorischen Abrüstung in der Kosovo-Frage erwarten kann? Hat es alles getan, was für Serbien notwendig ist?

Normalisierung des Verhältnisses zum Kosovo

Es gibt sichtbare Fortschritte bei der Normalisierung des Verhältnisses zu Kosovo. Die völkerrechtliche Anerkennung Kosovos durch Serbien steht noch aus – möglicherweise noch für lange Zeit. Aber Verbindungsbüros wurden in beiden Staaten eingerichtet und Repräsentanten entsandt, Polizei und Zoll des Kosovo können sich im Norden des Landes ungehindert bewegen. Das integrierte Grenzmanagement funktioniert, auch wenn wichtige Grenzübergänge in Richtung Rumänien und Bulgarien blockiert bleiben.  Verabredet ist, dass Polizei und Justiz im Norden in den kosovarischen Rechtsrahmen und seine Institutionen eingegliedert werden und dass sich die Serben im Kosovo an den Wahlen im November 2013 beteiligen. 

Die ersten rein serbisch kontrollierten Polizeidienststellen wurden tatsächlich geschlossen. Aber: Um die Zustimmung der Serben im Norden des Kosovo zu erhalten, hat Kosovo weitgehende Kompromisse akzeptiert. Serbien darf weiterhin Strukturen und Personen im Nord-Kosovo finanzieren – jetzt allerdings öffentlich und transparent. Kosovo erlässt ein weitgehendes Amnestie-Gesetz, das Serben im Norden, die über Jahre keine Steuern gezahlt haben oder gegen die der Verdacht von zum Teil schwerwiegenden Straftaten besteht, von einer Strafverfolgung befreit und ihnen die Mitwirkung im öffentlichen Dienst des Kosovo ermöglicht. Unklar ist bisher, ob die Gesamtzahl der Serben in den völlig überfüllten öffentlichen Parallelstrukturen im Norden von Kosovo übernommen werden muss.

Die Gemeinden mit serbischer Mehrheit erhalten die Möglichkeit der Gründung eines serbischen Gemeindeverbands mit weitgehenden Autonomierechten in den Bereichen Gesundheit, Bildung und kommunaler Selbstverwaltung/Stadtplanung  – auch dies ist ein Entgegenkommen des Kosovo, weitgehend im Rahmen des Ahtisaari-Plans. In Fragen der Telekommunikation, der Energieversorgung, der Rückgabe illegal entwendeter Katasterunterlagen oder auch nur der Beseitigung der symbolisch wichtigen Straßenblockade auf der Brücke über den Ibar in der ethnisch geteilten Stadt Mitrovića wäre es auf das Entgegenkommen Serbiens angekommen, aber bisher ist keine Einigung zustande gekommen bzw. wird die Rückgabe verschleppt. Serbien und die Serben im Norden des Kosovo zeigen zu diesen Fragen bisher wenig Einigungswillen.

Korruptionsbekämpfung: mehr angekündigt als erreicht

Auch zu diesem von der EU in allen Fortschrittsberichten hoch bewerteten Problemfeld wurde bisher mehr angekündigt als tatsächlich erreicht. Zwar wurden zahlreiche polizeiliche Ermittlungen eingeleitet und erste Strafverfahren eröffnet. Der Verhaftung von Miroslav Mišković, des Mitläufers von Milošević und heute reichsten Tycoons Serbiens, kommt hier große symbolische Bedeutung zu. Aber hat die gegen ihn erhobene Anklage auch gute rechtliche Fundamente? Vieles spricht dafür, dass er wegen Straftaten angeklagt wird, die zum Zeitpunkt der Handlung noch nicht existierten. Die Frage stellt sich, ob hier Korruption – die aggressive und illegale Aneignung öffentlichen Eigentums und die entsprechende Unterstützung von staatlicher Seite – durch Zerstörung des Rechtsstaats bekämpft werden soll. Denn das Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen gehört zu den Grundlagen freiheitlicher Gesellschaften. Nullum crimen sine lege. Neben der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit gehören zur Bekämpfung der Korrupten u.a. die Entflechtung von Parteien und Staat, die breite und konsequente steuerliche Erfassung, das Aufbrechen von Männer-Netzwerken durch Geschlechter-Gleichheit, eine konsequente Bekämpfung von Monopolen und starke unabhängige Agenturen für die Kontrolle des Verwaltungshandelns. Außer einem Aktionsplan ist in dieser Richtung bisher wenig bis nichts geschehen.

Zweifel an der demokratischen und europäischen Einstellung

Zweifel bleiben also genug, ob Serbiens Weg in die friedliche Nachbarschaft in der Region und in die Europäische Union unumkehrbar ist. Zweifel wecken auch Drohungen, der Prozess der Normalisierung werde gestoppt, sollte der nahe Beginn der Beitrittsverhandlungen nicht zugesagt werden. Erhebliche Zweifel an der demokratischen und europäischen Einstellung der größten Regierungspartei erwachsen aus der Koalition, die die SNS mit der rechtsextremistischen Partei Dveri in Serbiens zweitgrößter Stadt Novi Sad für die Mehrheitsbeschaffung eingegangen ist. Zweifel wecken auch Drohungen, im Falle eines verweigerten oder zu fernen Beginns der Beitrittsverhandlungen Neuwahlen anzustreben.

Was soll dadurch besser werden? Die Umsetzung des Implementierungsplans mit Kosovo würde dadurch sicher in Frage gestellt. War es Serbien damit nicht ernst? Soll es in gewohnter Weise weitergehen mit der Methode der regierenden serbischen Parteien, die ihr Personal in den ohnehin aufgeblähten öffentlichen Sektor bringen? Auch dies ist eine Form der Korruption, der Privilegierung der Parteigänger und der Diskriminierung der vielen qualifizierten jungen Menschen, die im öffentlichen Sektor oder in den Unternehmen einen Job suchen, einfach weil sie für diese Arbeit ausgebildet und gut sind.

Die Europäische Union ist gut beraten, zunächst noch mehr sichtbare Erfolge abzuwarten und sich nicht mit Absichtserklärungen, Aktionsplänen oder auch neuen Gesetzen zufrieden zu geben. Hier geht es nicht um neue Bedingungen, sondern um das Einlösen der gegebenen Verpflichtungen. Deshalb tut die EU gut daran, diese Einlösung abzuwarten und dann im kommenden Jahr ihr Versprechen an die serbische Bevölkerung einzulösen, dass Serbien in der europäischen Wertegemeinschaft  willkommen ist, in der es Verpflichtungen übernehmen und solidarische Hilfe erwarten kann.

Skepsis gegenüber der Kommission angebracht

Die Entscheidung des Europäischen Rats zeugt von weitgehender Übereinstimmung bei der Bewertung der Fortschritte, die bei der Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo erreicht wurden. Sie reflektiert aber auch die besondere Rolle Deutschlands, genauer des Deutschen Bundestags, beim Zustandekommen genau dieser Entscheidung. Die Mehrheit der Mitgliedsländer hätte auch einem früheren Datum für den Verhandlungsbeginn ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen zugestimmt. Die Kommission, namentlich die Hohe Repräsentantin für Außen- und Sicherheitspolitik Catherine Ashton und Erweiterungskommissar Stefan Füle, bewerteten das bisher Erreichte durchgehend positiv und empfahlen den kurzfristigen Beginn der Verhandlungen.

Einzig der Deutsche Bundestag brachte mit der Mehrheit der Regierungsparteien (gegen die Stimmen von SPD, Grünen und Linkspartei) seine Skepsis hinsichtlich der Unumkehrbarkeit des bisher Erreichten und der Gewähr der Umsetzung des bisher lediglich Versprochenen zum Ausdruck. Auch Zweifel an der Wächterfunktion der Kommission spielen hier eine Rolle. Eine Folge dieser Skepsis ist die Aufforderung an die Kommission, im Dezember dem Europäischen Rat einen Bericht über die Umsetzung des Implementierungsplans abzuliefern und die Entscheidung über den Beginn der Verhandlungen auf Tatsachen statt auf Versprechen zu gründen.

Mir scheint die Skepsis gegenüber der Kommission angebracht. Über viele Jahre hat sich die Kommission von den Regierungen Serbiens vorführen lassen – am meisten vom Sozialdemokraten Boris Tadić, der auf Forderungen in der Regel erst in letzter Minute einging und sie in den meisten Fällen dann nicht einlöste, weil die Kommission bereits auf das Versprechen hin weitergehende positive Beschlüsse gefasst bzw. im Europäischen Rat herbeigeführt hatte. Mit der Formel „EU und Kosovo“ verstand sich Tadić darauf, die Uneinigkeit der Mitgliedsländer in Bezug auf Kosovo und ihre Furcht vor dem Störpotenzial Serbiens und besonders der Serben im Kosovo und der nationalistischen Opposition in Serbien auszunutzen. Verändert wurde auf diesem Wege in der Region fast nichts. Aber die Demokratische Partei von Tadic gewann Zeit für die Fortsetzung der Plünderung öffentlicher Ressourcen jedweder Art.

Den Durchbruch zu einer Veränderung auf Seiten Serbiens und der Kommission brachte die Reise von Bundeskanzlerin Merkels im Herbst 2011. Von Belgrad verlangte sie grundlegende und überprüfbare Schritte zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo. Fortan waren und sind ihre drei Forderungen der Maßstab:  volle Bewegungs- und Handlungsfreiheit für EULEX in ganz Kosovo, der Abbau der illegalen serbischen Parallelinstitutionen und die Umsetzung der bereits getroffenen Vereinbarungen.

Die Bundesregierung übernahm – hierbei von den USA unterstützt – im Balkan eine Führungsrolle. Zunächst war die Kommission entsetzt. Sie wollte Serbien auch ohne diese Gegenleistungen bereits den Kandidatenstatus verleihen, schwenkte aber schließlich nolens volens auf den von der Bundesregierung vorgegebenen Kurs ein – mit Erfolg, wie das von Ashton moderierte Normalisierungsabkommen vom April diesen Jahres zeigt. In der Zwischenzeit hatten die serbischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gezeigt, dass die serbischen Wähler sich nicht länger durch die Kosovo-Frage von den drängenden Problemen von Korruption und ökonomischer Not ablenken lassen wollen. Diesem Wählerauftrag ist die neue serbische Regierungskoalition aus nationalistischen Parteien bisher zur allgemeinen positiven Überraschung gefolgt.

Das hat sie aber nicht daran gehindert, in der Tradition von Tadić so gut es geht, die Uneinigkeit in der EU in der Kosovo-Frage zu fördern und zuletzt den Eindruck entstehen zu lassen, dass die Bundesrepublik mit ihrer konsequent an nachprüfbaren Erfolgen orientierten Haltung in der EU allein dasteht. Diesen Eindruck hat auch das Schreiben von Ashton/Füle vom Juni an die Außenminister der EU-Mitgliedsländer gefördert, weil es die Fortschritte beschönigt und große Fragezeichen (wie die rechtsstaatlich höchst problematischen Methoden der Korruptionsbekämpfung) einfach übergeht. Wer so operiert, will den eigenen Erfolg. Er signalisiert jedoch nicht, dass er für die pünktliche Umsetzung der eingegangen Verpflichtungen konsequent eintreten wird. Ob es der Bundesrepublik nun gefällt oder nicht: Sie hat im Balkan eine Führungsrolle übernommen und muss sie nun konsequent wahrnehmen. Bleibt zu hoffen, dass dies in der kommenden Legislaturperiode nicht allein Sache des Kanzleramts bleibt, sondern auch durch den/die künftige Chef/in des Auswärtigen Amts im Rahmen eines neuen Balkan-Schwerpunkts fortgesetzt wird.