Aus dem Abseits zurück ins Spiel

Seifenblase vor grünem Luftballon

Der 22. September wird als Tag der verpassten Möglichkeiten in die Geschichte der Grünen eingehen. Selten zuvor war es so einfach, grüne Ziele in eine  Koalition einzubringen und die Politik in der Bundesrepublik mitzugestalten. Das es dazu nicht gekommen ist, liegt an den programmatischen und koalitionspolitischen Weichenstellungen, die das strategische Zentrum der Grünen – und das war nicht nur Jürgen Trittin – im Wahlkampf getroffen hat. Die Grünen sind hinter die Lernfortschritte, die sie nach der Bundestagswahl 2005 gemacht haben, zurückgefallen. Damals hatte sich Ernüchterung in der Partei breit gemacht, die sich in einer kritischen Distanz zum rot-grünen Projekt und einer Rückbesinnung auf den grünen Markenkern niederschlug. Ein koalitionspolitischer Kurs in Richtung mehr grüne Eigenständigkeit und Flexibilität sowie der New Green Deal, der die ökologische Modernisierung der Gesellschaft ins Zentrum grüner Programmatik rückte, waren die Grundlage für ein zweistelliges Ergebnis bei der Bundestagswahl 2009. Wenngleich dieses Ergebnis sich angesichts des Abschneidens der beiden Mitbewerber unter den kleineren Parteien enttäuschend anfühlte, war es dennoch die Basis für den anschließenden Aufstieg der Grünen zur dritten politischen Kraft im Parteiensystem.



Falsche Weichenstellungen



Was ist in der vergangenen Legislaturperiode falsch gelaufen, dass dieser Kredit verspielt wurde? Zwei Zahlen sind es, die den Grünen besonders zu denken geben müssen und die viel über die versäumten Chancen des Wahlkampfes aussagen: 420.000 Wähler, die zur Union und 550.000, die zur SPD abgewandert sind und die Grünen zusammen etwa 2,5 Prozent am Gesamtstimmenanteil gekostet haben. Die entscheidende Frage ist, warum das strategische Zentrum der Parteien es versäumt hat, die Signale der Mitglieder und Wähler für eine Kurskorrektur, die selbst im Wahlkampf noch möglich gewesen wäre, ernst zu nehmen. Am Ende des Superwahljahres 2011, in dem die Grünen angesichts der Atomkatastrophe in Fukushima einen hohen Glaubwürdigkeitsbonus ausspielen konnten und mit der ihnen zugeschriebenen energiepolitischen Kompetenz ihre größten Erfolge feierten, verabschiedete der Parteitag in Kiel ein steuerpolitisches Konzept, das schon damals von der Süddeutschen Zeitung als „grüne Orgie der Steuererhöhungen“ bezeichnet wurde, mit der man die gerade erst gewonnenen bürgerlichen Wähler verschrecken würde.



Die mahnenden Worte nicht nur von Winfried Kretschmann, der davor gewarnt hatte, die Grünen als reine Steuererhöhungspartei zu positionieren, wurden damals in den Wind geschlagen. Natürlich gab es auch Gründe für eine Erhöhung der Steuerbelastungen der oberen Einkommensschichten, und Steuererhöhungen stießen auch in der Bevölkerung durchaus auf Zustimmung. Sie wirkten sich nicht negativ auf die Wahlergebnisse der Landtagswahlen aus, weil dabei die Steuerpläne keine entscheidende Rolle spielten. Doch je näher der Termin der Bundestagswahl kam, desto stärker rückten die Steuerpläne in den Fokus, zumal es die Regierungsparteien verstanden, damit das Feuer auf die Grünen zu eröffnen. Bereits im Mai 2013 meinte eine Mehrheit der Wähler im ARD-Deutschlandtrend, dass die umfassenden Steuererhöhungspläne den Grünen schaden würden. Im Juni wurde den Grünen in der Haushalts- und Finanzpolitik ein Kompetenzwert von 4 Prozent, in der Frage nach einer sicheren und bezahlbaren Energie aber der höchste Kompetenzwert unter allen Parteien zugewiesen. Statt die warnenden Stimmen aufzugreifen, wurde in dem im April 2013 auf einem Parteitag verabschiedeten Wahlprogramm das Steuerkonzept noch einmal an prominenter Stelle bekräftigt.



Dass diese Schwerpunktsetzung nicht einmal in der grünen Mitgliedschaft Unterstützung fand, wurde jedoch bei dem im Juni 2013 durchgeführten Mitgliederentscheid deutlich, der das Projekt Energiewende ganz oben auf die Agenda setzte, während es die Steuerpläne nicht einmal unter die ersten neun wichtigsten Projekte schafften. Aber statt spätestens jetzt diesen Impuls aufzunehmen und die Energien auf die ökologische Kernkompetenz der Grünen zu konzentrieren, blieb ausgerechnet in der heißen Phase des Wahlkampfes das Steuerkonzept ein zentraler Baustein der Wahlkampagne. Hätte die Parteiführung rechtzeitig ein Sensorium für die Stimmung der Wähler und Mitglieder in dieser Frage entwickelt, wäre ein Umsteuern noch möglich gewesen. Dabei hätte man nicht einmal darauf verzichten müssen, die Grünen auch als sozialpolitische Partei zu positionieren. Aus vielen Umfragen ist bekannt, dass die sozialpolitischen Kompetenzen der Grünen am besten über die Bildungspolitik sowie eine auf kinderfreundliche Strukturen zielende Familien- und Frauenpolitik vermittelt werden können.



Die zweite problematische Weichenstellung betrifft die Koalitionsstrategie. Die grüne Parteiführung hat sich schon sehr früh auf ein rot-grünes Bündnis festgelegt und daran selbst zu einem Zeitpunkt festgehalten, als allen klar war, dass es niemals für eine rot-grüne Mehrheit reichen würde. Während es nach den Wahlerfolgen im Superwahljahr 2011 und den Siegen von Rot-Grün bei den folgenden Landtagswahlen zunächst durchaus gute Gründe gab, sich öffentlich zu einer Präferenz für eine rot-grüne Koalition zu bekennen, ist kaum nachvollziehbar, warum man nach den Patzern des SPD-Kanzlerkandidaten und dem Auf-der-Stelle-Treten der Sozialdemokraten in den Umfragen nicht in den Monaten vor der Wahl auf eine flexiblere Koalitionsstrategie umgestellt hat, um das Element der Eigenständigkeit stärker zu betonen. Dabei gab es aus der Wählerschaft durchaus Signale, sich in dieser Frage nicht zu einseitig festzulegen. Im April 2013 äußerten 54 Prozent der grünen Wähler, dass sie sich auch eine Koalition mit der CDU vorstellen könnten. Im ARD-Deutschlandtrend im Mai 2013 unterstützte zwar eine Mehrheit der grünen Wähler die rot-grüne Koalitionsaussage, gab aber zugleich zu erkennen, dass die Grünen sich eine Koalition mit der CDU offenhalten sollen. Stattdessen wurde gebetsmühlenartig bis zum bitteren Ende an einer unrealistisch gewordenen Koalitionsperspektive festgehalten. Die Quittung folgte am Wahltag. Da eine Regierungsbeteiligung der Grünen vollkommen aussichtslos war, wählten rot-grüne Wähler lieber die SPD, um diese in einer möglichen Großen Koalition zu stärken.



Das Vertrauen der bürgerlichen Wähler neu erwerben



Die Grünen müssen jetzt beweisen, dass sie in der Lage sind, die Erfahrungen dieser Bundeswahl aufzuarbeiten und daraus zu lernen. Dabei muss das neue strategische Zentrum, welches sich erst herauskristallisieren muss, in Bezug auf die zukünftige programmatische Positionierung und Strategie eine Reihe veränderter Voraussetzungen mit in den Blick nehmen. Das Parteiensystem hat sich nach dieser Wahl verändert. Die Asymmetrie zwischen Unionsparteien und SPD ist in einem Vierparteiensystem weiter gewachsen; die Linkspartei hat sich gefangen und im rechtskonservativen Spektrum bahnen sich durch den Erfolg der AfD möglicherweise Veränderungen an, wenn es, wie zu erwarten, zu einer Großen Koalition kommt. Aber auch für die FDP besteht beim Zustandekommen einer Großen Koalition durchaus die realistische Chance, nach vier Jahren wieder in den Bundestag einzuziehen. Das rot-grüne Lager hat zusammen nicht ein Prozentpünktchen mehr erzielt als bei der Bundestagswahl 2009. Die SPD wird angesichts dieser Ausgangssituation ihre Koalitionsstrategie auf jeden Fall überdenken und ein Linksbündnis für die Zukunft nicht mehr ausschließen. Das ist für Teile der Grünen eine verlockende Perspektive, die sie aber elektoral und programmatisch in einem Segment zwischen SPD und Linkspartei einschnüren würde.



Die Grünen haben die Chance, aus dem Wahlergebnis und den Veränderungen des Parteiensystems die richtigen Lehren zu ziehen. Wäre es aufgrund eines anderen Wahlkampfkonzepts zu einer schwarz-grünen Regierung gekommen, hätten die Grünen jetzt die Position einer Median-Partei einnehmen können, also einer Partei, die programmatisch in der Mitte des Parteiensystems steht. Noch ist es nicht zu spät, um diesen Platz zu kämpfen, zumal durch das Ausscheiden der FDP ein Platz frei geworden ist, denn die Grünen besetzen könnten, wenn sie ihre Tradition als freiheitliche Bürgerrechtspartei, die nicht nur etatistische Forderungen im Angebot hat, in verantwortlicher Weise wahrnehmen. 170.000 von der FDP gewonnene Wähler sollte man ernst nehmen. Allerdings müssen die Grünen erst das Vertrauen bei den bürgerlichen Wählern, die sie seit 2009 gewinnen konnten, neu erwerben. Programmatisch geht das nur als Partei der ökologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Modernisierung, die gleichwohl das Unbehagen vieler Menschen an dem Stress einer durchökonomisierten Gesellschaft mitthematisieren sollte.