Mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung, mehr Geld

 Jean Wyllys
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Der Abgeordnete im brasilianischen Kongress, Jean Wyllys, legte einen umstrittenen Gesetzentwurf zur Legalisierung der Prostitution vor

Unter dem historischen Motto der feministischen Bewegung "Wir sind Frauen, keine Ware" widersetzt sich ein Teil der Frauenbewegung[1] dem Gesetzentwurf zur Regelung des Sexgewerbes, den der Abgeordnete Jean Wyllys im brasilianischen Kongress eingebracht hat. In Brasilien ist zwar die Prostitution als solche nicht verboten, wohl aber, Prostitution zu betreiben und zu diesem Zweck Organisationen oder Einrichtungen zu gründen. Dies soll der Gesetzentwurf verändern. Bordelle sollen legal werden und den Prostituierten auch ein Mindesteinkommen garantieren. Unter anderem wegen der Geschäftsmöglichkeiten für Sexarbeiter/innen bei den nahenden Großereignissen mahnt der Abgeordnete zu Eile bei der Verabschiedung des Gesetzes. Außerdem betont Wyllys: "Es ist eine Tatsache, dass viele Menschen aus Not in die Prostitution geraten, andere tun dies aber auch aus eigener Entscheidung. In jedem Fall ist jedoch das wichtigste, dass man ihnen Rechte zuerkennt, und das wird allen Prostituierten zu Gute kommen." Im folgenden Interview beantwortet Jean Wyllys Fragen zum Gesetzentwurf und bekräftigt, dass es notwendig ist, zwischen Prostitution und sexueller Ausbeutung zu unterscheiden.

Wie lauten die Eckpunkte des Gesetzentwurfs? Und welche Vorteile bringt eine gesetzliche Regelung der Prostitution?

Jean Wyllys: Der Gesetzentwurf regelt die Prostitution, um die Rechte der Sexarbeiter/innen festzuschreiben, und er trifft auch eine klare Unterscheidung zwischen der freiwilligen Sexarbeit, die Erwachsene anbieten, und der sexuellen Ausbeutung von Erwachsenen, Jugendlichen oder Kindern. Es ist wichtig hervorzuheben, dass der Ausdruck "Kinderprostitution" falsch ist, wir sollten ihn nicht verwenden. Bei Kindern und Jugendlichen sprechen wir von sexueller Ausbeutung, und das ist ein Verbrechen! Der Gesetzentwurf definiert eine Sexarbeiterin bzw. einen Sexarbeiter als "vollständig geschäftsfähige, über 18 Jahre alte Person, die freiwillig gegen Bezahlung sexuelle Dienste leistet".

Laut dem Entwurf können Sexarbeiter/innen Dienste als Selbständige oder in Genossenschaften leisten, und Bordelle sind erlaubt, solange dort keine sexuelle Ausbeutung stattfindet. Unter anderem wird festgelegt, dass Provisionen der Bordellbetreiber/innen 50 Prozent des Honorars nicht übersteigen darf, andernfalls liegt ein Rechtsverstoß vor. Sexarbeiter/innen, die 25 Jahre lang Sozialbeiträge einbezahlt haben, sollen dadurch Rentenansprüche erwerben, so wie es auch bei anderen Berufen mit erhöhter Gefährdung und Gesundheitsbelastung der Fall ist.

Die Legalisierung von Bordellen, eine der Hauptforderungen des Gewerbes, ist dringend notwendig, damit diese nicht weiter im Untergrund betrieben werden müssen. Dann nämlich ist der Betrieb nicht mehr von der Willkür korrupter Kontrollbehörden abhängig, sondern objektiv geregelt und kontrolliert. In jeder brasilianischen Stadt weiß ein großer Teil der Bevölkerung, wo sich Bordelle befinden. Dies zu leugnen ist sehr heuchlerisch. Sie existieren und funktionieren im Untergrund, jenseits der staatlichen Kontrollen.

Nehmen wir Abtreibung und Drogenhandel. Sie sind verboten. Gibt es deswegen keine Abtreibungen oder keinen Drogenhandel mehr? Nein. Aber sie finden im Untergrund statt und nach den Regeln korrupter Politiker und Polizisten. Die Opfer sind hierbei mittellose Frauen, Drogenkonsumenten und diejenigen, die am untersten Ende der Drogenhandelskette arbeiten. Bei den Bordellen ist es genauso: Die Illegalität verhindert nicht, dass sie existieren, sie verhindert jedoch, dass Prostituierte ihre Rechte wahrnehmen können. Stattdessen ermöglicht sie den Missbrauch durch Zuhälter und Zuhälterinnen, Übergriffe von Polizisten, Schmiergeld, Unterdrückung und Gewalt. Und da es keine gesetzliche Regelung gibt, die Sexarbeit von sexueller Ausbeutung (einschließlich von Kindern und Jugendlichen) unterscheidet, wird auch dieses Problem vom selben perversen System geregelt.

Deswegen war die erste Forderung der Prostituierten, den Bordellbetrieb gesetzlich zu regeln, um damit einige Mindeststandards zu etablieren. Wenn sie legal betrieben werden, müssen die Bordelle sich an nationale, bundesstaatliche und städtische Gesetze halten. Die schreiben unter anderem Hygiene, Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz vor. Darum geht es im Wesentlichen: Die Situation von Ausgrenzung und Illegalität beenden, damit grundlegende Rechte gewährleistet und eingefordert werden können.

Der Gesetzentwurf ist nur ein Schritt im Regelungsprozess. Wie wird die Regelung der Sexarbeit in der Praxis aussehen? Viele Prostituierte wünschen sich zum Beispiel, auf Lohnsteuerkarte arbeiten zu können – wird das so sein?

In dieser Frage waren wir uns alle einig. Bei den Diskussionen mit Vertreterinnen der organisierten Prostituierten wurde deutlich, dass es um selbstständige Tätigkeit gehen muss. Die speziellen Umstände dieses Gewerbes machen es unmöglich, Angestelltenverhältnisse einzurichten. Wie soll man zum Beispiel von einer Prostituierten eine regelmäßige Vierzigstundenwoche verlangen, und wie will man das kontrollieren? Und wie steht es dabei mit der Frage der Produktivität? Dies alles würde das Projekt insgesamt in Frage stellen, daher haben wir bei erfolgreichen Beispielen im Ausland nach Antworten gesucht. Die Prostituierten, die in Bordellen arbeiten, sollen ihr Arbeitsverhältnis verhandeln können, seien sie selbstständig oder genossenschaftlich organisiert. Damit erhalten sie die wichtige Entscheidungsfreiheit darüber, wann und wie viel sie arbeiten wollen, welche Kunden sie annehmen und welche nicht, was sie zu tun bereit sind und was nicht und wie viel sie für ihre Dienste verlangen. Damit sind sie freier und selbstbestimmter als jetzt.

Nach geltender Rechtslage ist Prostitution zwar nicht verboten, wohl aber jede Vereinigung zum Betreiben von Prostitution – damit sind bislang auch selbstverwaltete Genossenschaften illegal. Die Möglichkeit, Bordelle selbst verwalten zu können, war daher auch eines der wichtigen Ziele der organisierten Prostituierten, die an der Ausarbeitung des Gesetzentwurfes mitgewirkt haben. Aber da dies nicht immer einfach oder möglich ist, muss auch der Fall vorgesehen werden, dass Dritte diese Verwaltung übernehmen – mit oder auch ohne Provision.

Der Gesetzentwurf sieht eine Begrenzung der Provision auf maximal 50 Prozent vor. Denn viele Bordelle erwirtschaften ihre Gewinne indirekt, etwa durch Eintrittsgelder, Barbetrieb oder Zimmervermietung. In einigen Fällen könnten Prostituierte ihren gesamten Lohn behalten, in anderen Fällen erfolgen anteilige Zahlungen an den Bordellbetreiber, der dafür die Rechnungen des Hauses übernimmt und für Reinigung, Handtücher, Präservative und weiteres sorgt. So kann also die Prostituierte je nach Situation und Verhandlung bis zu 100 Prozent ihres Verdienstes behalten. Vermittelnde Dritte bekommen 50, 40, 30 Prozent oder auch gar nichts. Wegen der Vielzahl möglicher Szenarien ist es gut möglich, dass diese Regelungen mit zunehmender Erfahrung optimiert werden.

Ein Kritikpunkt am Gesetzentwurf lautet, dass er nur die Sexarbeiter/innen mit besserer Schulbildung und einer stabileren finanziellen Situation begünstige. Die in Armut lebenden Prostituierten, die sich diese Arbeit nicht ausgesucht haben, sondern sich durch soziale und kulturelle Umstände zur Prostitution gezwungen sehen, würden nicht berücksichtigt. In wieweit bedeutet der Gesetzentwurf eine Verbesserung der Lebensumstände auch dieser Frauen?

Der Gesetzentwurf wird für bessere Lebensumstände aller Menschen sorgen, die in der Prostitution arbeiten – Frauen, Männer, Transvestiten und Transsexuelle. Wenn ihre Arbeit nicht mehr unsichtbar ist, sie nicht mehr ausgegrenzt oder in Illegalität leben müssen, stattdessen Rechtssicherheit erhalten, dann können sie sich politisch organisieren und Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen einfordern. Es ist eine Tatsache, dass viele Menschen aus Not in die Prostitution geraten, andere tun dies aber auch aus eigener Entscheidung. In jedem Fall ist jedoch das wichtigste, dass man ihnen Rechte zuerkennt, und das wird allen Prostituierten zu Gute kommen. Und zwar besonders den Schwächsten, die am meisten unter Gewalt und Ausbeutung leiden. Darin liegen auch die Überschneidungen in der öffentlichen Debatte über Abtreibung und Drogen.

Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Frage, ob die gesetzliche Regelung der Prostitution nicht den bestehenden patriarchalen, pornographischen und hegemonialen Kapitalismus zusätzlich stützt, der die Ausbeutung des weiblichen Körpers legitimiert. Wie antworten Sie auf diese Kritik?

Diese Kritik hört man häufig von einer bestimmten Gruppierung innerhalb der feministischen Bewegung. Ich formuliere das so, weil es auch feministische Gruppierungen gibt, die der gesetzlichen Regelung positiv gegenüber stehen. Genauso gibt es Befürworter und Gegner innerhalb der Linken, der LGBT-Bewegung und innerhalb verschiedener Menschenrechtsgruppen. Letztlich ist Sex immer noch ein tabuisiertes Thema. Daher ist die Regelung der Prostitution innerhalb all dieser Gruppen umstritten. Wir haben versucht, so viele Stimmen wie möglich einzubinden, haben uns aber schließlich für das Projekt entschieden, das von organisierten Prostituierten diskutiert und ausgearbeitet wurde. Denn sie sind die am stärksten Betroffenen. Sie sind es, die täglich unter den negativen Auswirkungen von Diskriminierung und Ausgrenzung einer nicht ausreichend anerkannten beruflichen Tätigkeit leiden.

Wie schon eingangs gesagt: Eine Regelung dieser Aktivitäten, die jenseits aller Wertediskussionen nun einmal tatsächlich stattfinden, ist immer besser als die informelle und willkürliche "Regelung" durch Polizei und die unteren Etagen der Politik. Dasselbe gilt für die Debatten um Abtreibung und Drogen, so wie die Linke sie schon seit jeher führt. Ein weiteres Prinzip der Linken, das wir hierbei verfolgen ist, auf der Seite der Arbeiter zu stehen. Und Prostituierte sind Arbeiter und Arbeiterinnen, ob das den Feministinnen, die die Prostitution als Nebenprodukt des Kapitalismus begreifen und gänzlich abschaffen wollen, nun passt oder nicht. Der Irrtum dieses Diskurses liegt darin, dass die Prostitution schon bestand, als es den Kapitalismus noch gar nicht gab. Ganz davon zu schweigen, dass ja alle Arbeiter/innen auch als Ware funktionieren und ihre Arbeitskraft verkaufen, wozu sie ihren Körper benutzen müssen. Der Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung wird immer auch unser Kampf sein, aber wir können deswegen nicht einer ganzen Berufsgruppe die Rechte als Arbeiter/innen verweigern.

Dieser Teil des Feminismus verstrickt sich in einen weiteren Widerspruch: Sie fordern das Selbstbestimmungsrecht der Frauen über ihren Körper, sprechen ihnen aber gleichzeitig das Recht ab, sich aus freien Stücken zu prostituieren. Tatsächlich gibt es einen beträchtlichen Anteil von Prostituierten, die sich nicht als Opfer begreifen und laut und deutlich kundtun, dass sie freiwillig und gern Prostituierte sind. Andererseits gibt es Lehrerinnen, Bauarbeiterinnen, Hausangestellte und viele andere, die sich diese Berufe nicht ausgesucht haben, was aber nicht heißt, dass sie keine Anerkennung ihrer Rechte als Arbeiterinnen und ein Leben in Legalität und Würde verdienen.

Ich frage mich, warum manche linke und feministische Gruppierungen bestimmte Positionen in der Abtreibungs- und Drogendebatte problemlos akzeptieren, in der Prostitutionsdebatte aber so polemisch ablehnen. Ich glaube, dass dies an moralischen Vorurteilen über Sex und den Gebrauch des Körpers – vor allem des weiblichen Körpers – liegt, die im Machismo wurzeln. Dieser Machismo wiegt noch stark in der Diskussion, auch auf Seiten vieler militanter Feministinnen, die sich dessen nicht einmal bewusst sind.

[1] Siehe den Artikel von Nalu Faria in diesem Dossier.