
Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, berichtet von seiner jüngsten Reise nach Charkiv und Kiew. Er analysiert die spaltenden, aber auch einenden Kräfte des Landes und zitiert Stimmen von Gesprächspartner/innen aus Zivilgesellschaft und Politik.
In Charkiv: Gespräche mit dem Journalisten und Euromaiden-Aktivisten Wlodomir Chistillin, den Wissenschaftlerinnen Maria Majerchik, Olga Plachotnik und Julia Soroka, der deutschen Honorarkonsulin Tetiana Gawrysch, mit dem Direktor der Abteilung für Wirtschaft und internationale Beziehungen der Bezirksverwaltung, Victor Kovalenko, mit Leuten aus der Kulturszene sowie mit Natalka Zubar von der NGO "Maidan" (schon im Jahr 2000 unter diesem Namen gegründet).
In Kiew: Gespräch in der deutschen Botschaft, mit Projektpartnerinnen aus Belarus und dem Koordinator der Bewegung "Wir Europäer", Sergej Koschman, mit dem Politikwissenschaftler Andreas Umland, dem Chef der Nationalen Rundfunkgesellschaft, Zurab Alasania, dem Menschenrechtler Ewgenij Zacharow sowie mit der Journalistin Julia Smirnova.
I - Lage in Charkiv: Ruhe vor dem Sturm?
Die Bezeichnung "Südostukraine" ist viel zu pauschal – die Lage im Donbass, in Charkiv oder Odessa ist jeweils sehr unterschiedlich; kulturell, politisch und ökonomisch kann man nicht von einer einheitlichen Region sprechen.
Die Regierung in Kiew hat faktisch die Kontrolle über den Donbass verloren. Dagegen scheint die Situation in Charkiv noch stabil – aber nach dem Attentat auf Bürgermeister Kernes, bislang der unumschränkte Pate Charkivs, herrscht ein Gefühl der Unsicherheit. Abakow, der heutige Innenminister, kämpfte 2010 mit Kernes um den Bürgermeisterposten in Charkiv. Nach Insiderinformationen gewann er die Wahl mit 4% Vorsprung, offiziell wurde Kernes mit 0,1 Prozent Vorsprung zum Sieger erklärt.
Danach wurde Abakow wirtschaftlich und politisch erledigt. Er ging nach Italien, um einem Gerichtsverfahren zu entgehen und kam 2012 als Parlamentsabgeordneter auf der Liste der Vaterlandspartei wieder zurück. Nach dem Umsturz in Kiew wurde er Innenminister. Kernes, der vom Unterstützer der orangenen Revolution zum Parteigänger Janukowitschs mutierte, kam unter Druck und wurde wegen Amtsmissbrauchs per Gerichtsbeschluss zu Hausarrest verdonnert.
Kernes war König der Stadt mit Verbindungen zur Unterwelt, ein persönlicher Freund des tschetschenischen Diktators Kadyrow. Nach dem Sturz Janukowitschs suchte er vorübergehend Zuflucht in Tschetschenien. Zu seinen Freunden zählt auch der Gouverneur von Dnjepropetrowsk, über den er mit der neuen Regierung in Kiew einen Ausgleich suchte. In den letzten Wochen nahm Kernes eine pro-ukrainische Position ein und bezog mehrfach Stellung gegen eine "russische Lösung" für die Ostukraine.
Das Attentat auf ihn wurde von einem Sniper mit Präzisionsgewehr verübt. Die Kugel soll nur knapp das Herz verfehlt haben. Mittlerweile wird er in einer israelischen Spezialklinik behandelt. Die Hintergründe sind unklar. Eine Vermutung lautet: Kernes wurde von "prorussischen Kräften" aus dem Weg geräumt, um ein Machtvakuum zu schaffen und Chaos stiften zu können. So umstritten er ist, so hatte er die Lage doch fest im Griff. Es zeichnet sich niemand ab, der an seine Stelle treten und die Stadt führen könnte. Hochgefährlich in einer Situation, in der Charkiv das nächste Ziel einer russischen Krypto-Invasion werden kann.
Ein zentraler Unsicherheitsfaktor ist die Unzuverlässigkeit der lokalen Polizeiorgane (Miliz). Es gibt massive Bemühungen, die Miliz auf die Seite der prorussischen Kräfte zu ziehen. Die Sympathien im Polizeiapparat für eine Allianz mit Russland sind auch finanzieller Natur: Russische Milizen verdienen das Mehrfache von ukrainischen.
Noch sind die separatistischen Kräfte in Charkiv eine zahlenmäßig unbedeutende Randerscheinung. Die 1. Mai-Kundgebung der Sowjetnostalgischen (Rote Fahnen, Rufe nach einer "sozialistischen ukrainischen Sowjetrepublik") unter dem Lenin-Denkmal im Zentrum der Stadt verzeichnete maximal eintausend Teilnehmenden, keine beeindruckende Zahl für eine Millionenstadt. Dennoch haben separatistische Gruppen angekündigt, dass am 11. Mai auch hier ein "Referendum" über die Gründung einer "unabhängigen Volksrepublik" stattfinden soll. Gesprächspartner berichteten, die Stadt sei Tummelplatz russischer Agenten und Provokateure. Koordinationszentrum der separatistischen Aktivitäten sei das russische Generalkonsulat in Charkiv.
Nach Umfragen unabhängiger Institute sind lediglich 12-15 Prozent der Bevölkerung im Südosten der Ukraine für den Anschluss an Russland, 30 Prozent bezeichnen sich als Pro-Maidan. Der große Rest bewegt sich irgendwo dazwischen, darunter eine beträchtliche Gruppe, die zwischen Sowjetnostalgie und Loyalität zur Ukraine schwankt. Sowjetnostalgie bezeichnet eine mentale Grundeinstellung, insbesondere die Sehnsucht nach dem starken, fürsorglichen Staat und verklärte Vorstellungen über soziale Sicherheit und öffentliche Ordnung in der Sowjetunion. Vielfach steckt hinter den "Rossija, Rossija"-Rufen separatistischer Kundgebungen der Wunsch nach Wiederkehr der Sowjetunion. Unter den militanten prorussischen Kräften sind viele Deklassierte, Leute aus dem kleinkriminellen Milieu, aber auch Rentnerinnen und Rentner, die auf Verbesserung ihrer sozialen Situation hoffen.
Eine besondere Rolle in der verdeckten Kriegführung des Kremls spielen ehemalige Offiziere der sowjetischen/russischen Armee und Veteranen des Afghanistan-Krieges. Sie werden gezielt angesprochen, um sie als kampferprobte Spezialisten für die separatistischen Milizen zu gewinnen. Dafür werden ihnen außer einer lukrativen Bezahlung auch künftige Karrieremöglichkeiten in Aussicht gestellt.
Dem Krieg der Waffen geht der Propagandakrieg voraus: In Donezk wurde der regionale Fernsehsender durch separatistische Kräfte besetzt. Ukrainisches Fernsehen ist abgeschaltet, stattdessen laufen nur noch russische TV-Programme: ein ständiges Trommelfeuer gegen angebliche "Bandera-Faschisten" in Kiew und die vermeintliche Bedrohung der „russischstämmigen Bevölkerung“ in der Ukraine. Journalistinnen und Journalisten berichteten, dass Menschen in Lugansk ernsthaft glaubten, eine Invasion des "Rechten Sektors" stehe bevor. In Teilen des Ostens braut sich eine brisante Mischung aus bewaffneten Freischärlern, großrussischem Nationalismus und Einschüchterung Andersdenkender zusammen, die an die Anfänge der Übernahme der Krim durch Russland erinnert.
II - Selbstverteidigung der Zivilgesellschaft
Charkiv spielt eine Schlüsselrolle für die Einheit oder Spaltung der Ukraine. Ohne Charkiv wird die dauerhafte Etablierung einer "Volksrepublik des Ostens" nicht gelingen. Die Regierung in Kiew hat gegenwärtig keine Mittel, den Donbass (die Gebiete Donezk und Lugansk) rasch wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Polizeiapparat ist ihr entglitten, die Mehrheit der Bevölkerung verhält sich abwartend. Allerdings ist auch jeder öffentliche Protest gegen die bewaffneten Separatisten mit hohem Risiko verbunden. Charkiv hat eine andere politisch-kulturelle Tradition als Donezk, die Stadt ist "europäischer", liberaler, mit einer selbstbewussten Zivilgesellschaft und einer lebendigen Kulturszene – freie Theater, Galerien, Clubs etc. Während der orangenen Revolution war Charkiv das wichtigste Zentrum der Massenproteste nach Kiew; auch der Euromaidan wurde von zahlreichen Mahnwachen, Kundgebungen und Demonstrationen in der Stadt unterstützt.
Wie an anderen Orten der Ostukraine werden auch in Charkiv friedliche Kundgebungen und Demonstrationen von militanten Schlägertrupps angegriffen. Das zielt auf systematische Einschüchterung der Zivilgesellschaft. Nicht ohne Erfolg: unter Maidan-Sympathisierenden grassiert inzwischen Angst, auf die Straße zu gehen. Nach Aussage von NGO-Aktivistinnen wurden seit dem 1. März, als zum ersten Mal die Bezirksverwaltung in Charkiv von großrussischen Militanten gestürmt wurde (angeführt von Ultranationalisten aus Russland), zahlreiche Teilnehmende an pro-ukrainischen Kundgebungen von Schlägerbanden angegriffen und verletzt (die Rede war von insgesamt 2.000). Das führte zu wachsender Erbitterung gegenüber der Miliz, die ihrer Schutzfunktion nicht nachkommt – und zum Ruf nach bewaffneter Selbstverteidigung. So erklärt sich auch die Zustimmung, mit der zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure von einer gemeinsamen Demonstration von Fußballfans aus Charkiv und Dnjepropetrowsk berichten, bei der separatistische Angreifende in die Flucht geschlagen wurden. Je stärker das staatliche Gewaltmonopol zerbröselt, sei es aufgrund tatsächlicher Schwäche oder aufgrund der Illoyalität von Teilen der Miliz gegenüber der Regierung, desto größer wird die Gefahr einer sich aufschaukelnden irregulären Gewalt zwischen "prorussischen" und "proukrainischen" Kampfgruppen.
Die Strategen der Abspaltung sind gute Bolschewiken: Sie wissen, dass man mit kleinen, gut organisierten bewaffneten Gruppen die Macht an sich reißen kann, wenn die Zentralregierung schwach ist und die Mehrheit der Bevölkerung passiv bleibt. Die Mobilisierung der pro-ukrainischen Mehrheit ist deshalb eine Schlüsselfrage: Wenn die Bürgerinnen und Bürger des Ostens die Ukraine nicht verteidigen, wird es niemand tun.
Die aktuelle Bedrohung durch bewaffnete separatistische Milizen führt zu einem Umdenken in Kreisen der Zivilgesellschaft (Akademikerinnen und Akademiker, Mittelstand), die bisher jeder Form von Gewalt fern standen. Zitat einer feministischen Professorin: "Wir wissen, dass wir uns gegen die militanten Separatisten verteidigen müssen, auch wenn das meiner ganzen persönlichen Einstellung widerspricht." Andere formulieren es direkter: "Wir müssen uns darauf vorbereiten, uns auch mit der Waffe zu verteidigen." Das sind nicht bloß Worte: die Anhänger der Maidan-Bewegung im Osten sehen sich durch die verdeckte russische Intervention existentiell bedroht. Für sie sind Freiheit und Unabhängigkeit keine leeren Phrasen – es geht um die Gesellschaft, in der sie leben wollen.
Das Bewusstsein, sich gegen eine gewaltsame Aggression verteidigen zu müssen, verändert auch die Einstellung gegenüber Miliz und Militär. In Charkiw sammelt die Bevölkerung Geld- und Sachspenden für die auswärtigen Polizisten und Soldaten, die von der Zentralregierung im Stich gelassen werden: Lebensmittel, Isomatten, Schlafsäcke etc. Sogar die Reparatur von drei Schützenpanzern, deren Funkanlage ausgefallen war, wurde mit Spenden finanziert. Das wirft ein Licht auf die desolate Lage des Militärs. Sollte es zu einer regelrechten Invasion der russischen Armee in die Ostukraine kommen, wird sie die ukrainischen Truppen vermutlich im ersten Anlauf überrollen. Das wird aber nicht das Ende des militärischen Widerstands sein – es spricht viel dafür, dass es dann zu einem hartnäckigen Partisanenkrieg kommen wird.
III - It's the economy, stupid!
Kurzfristig steht die Sicherheitsfrage im Zentrum. Mittelfristig wird sich die Stabilisierung der Ukraine an der ökonomischen Frage entscheiden. Auch wenn die ökonomische Abhängigkeit von Russland nicht ganz so groß ist wie oft behauptet (aufgrund des Niedergangs der "sowjetischen Industrie" und des wirtschaftlichen Strukturwandels in den letzten 20 Jahren), produzieren die verbliebenen industriellen Kerne hauptsächlich für Russland. Das gilt insbesondere für Rüstungsbetriebe, die Traktorproduktion und den Maschinenbau. Insgesamt gingen 2012 beträchtliche 40 Prozent der Exporte aus der Region Charkiv nach Russland, doppelt so viel wie im Landesdurchschnitt. Das zeigt die ökonomische Verwundbarkeit der Region durch den aktuellen politischen Konflikt.
Der regionale Export nach Russland ist bereits um 20 Prozent eingebrochen, es gibt Schikanen von russischen Grenzbeamtinnen und -beamten sowie Zollbehörden. Die Abschaffung der Zölle für den Export in die EU ist hilfreich, allerdings erreichen die ukrainischen Produkte in der Regel nicht die Qualitätsstandards, die für den europäischen Markt erforderlich sind. Ein vorübergehender Ausweg könnte der verstärkte Export in "Drittländer" sein, dort konkurriert die Ukraine allerdings mit China und anderen Schwellenländern. Die Regionalregierung in Charkiv hofft, dass nach Beilegung des politischen Konflikts mit Russland eine Normalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen möglich wird – "sonst wird es sehr schwierig für uns." Gespräche zwischen EU, Ukraine und Russland über trilaterale wirtschaftliche Zusammenarbeit wären hilfreich – nicht zu verwechseln mit einer aufgezwungenen "Neutralisierung" des Landes.
Viele Betriebe arbeiten nur mit einem Bruchteil ihrer Kapazität und zahlen nur unregelmäßig Löhne. In den Panzerwerken von Charkiv arbeiteten zu sowjetischen Zeiten 50.000 Beschäftigte – heute sind es noch 5.000. Bergwerke und Fabriken werden auf Verschleiß gefahren, die Folgen sind hohes Unfallrisiko und geringe Produktivität. Der Investitionsbedarf, um diese Betriebe fit für den internationalen Markt zu machen, ist gewaltig. Dazu gehört auch die Verbesserung ihrer Rohstoff- und Energieeffizienz: hier gibt es großes Potential, die Abhängigkeit von russischen Öl- und Gasimporten zu reduzieren und die Kosten nachhaltig zu senken. Voraussetzung ist, dass die Anschubfinanzierung gesichert und das nötige Know How bereitgestellt wird. Das wäre ein lohnendes Feld für Beratungs- und Investitionsförderung der EU und für Joint Ventures zwischen ukrainischen und deutschen/europäischen Unternehmen. Weitere Kooperationsfelder: Korruptionsbekämpfung, Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, Existenzgründerprogramme, berufliche Bildung und Ausbildung (Aufbau eines dualen Systems, Praktika in deutschen Betrieben etc.).
IV - Gesellschaftlicher Wandel
Es gibt inzwischen eine junge, gut ausgebildete ukrainische Elite. Viele haben im Westen studiert, sind mehrsprachig und beruflich ambitioniert. Eine wachsende Zahl ist bereit, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren, auch wenn die Kluft zwischen Zivilgesellschaft und politischer Klasse noch groß ist. Sich parteipolitisch zu engagieren, für politische Ämter zu kandidieren war und ist den meisten noch ein fremder Gedanke – bisher gilt "Politik" als 'schmutziges Geschäft', von dem man sich tunlichst fernhielt. Diese Haltung muss sich ändern, wenn eine politische Erneuerung gelingen soll: eine neue politische Kultur braucht auch neue Köpfe.
Tatsächlich ist seit dem Sturz Janukowitschs einiges in Gang gekommen. Im Kabinett findet sich eine Reihe von anerkannten Fachleuten, die nicht über die klassischen Seilschaften aufgestiegen sind, dazu einige Maidan-Aktivistinnen und -Aktivisten ohne große politische Erfahrung und Gewicht. Unkonventionelle Quereinsteigende haben jetzt wichtige Funktionen inne. Dazu zählt der neu ernannte Leiter der Nationalen Rundfunkgesellschaft der Ukraine, Zurab Alasania: ein drahtiger Mittvierziger mit kahlgeschorenem Kopf, T-Shirt und tätowierten Armen – nicht gerade der Typ, den man sich als Chef des staatlichen Rundfunks mit rund 7.000 Angestellten (die regionalen Rundfunksender eingerechnet) vorstellt. Alasania ist ein bekannter unabhängiger Journalist aus Charkiv. Sein Auftrag lautet, binnen eines Jahres einen regierungsunabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk aufzubauen – ein Novum in einer Region, wo Fernsehsender in der Regel entweder von der Regierung oder von Oligarchen beherrscht werden.
In Kiew trafen wir noch einen anderen guten Bekannten aus Charkiv: Jewgenij Sacharow, den wohl bekanntesten Menschenrechtler der Ukraine, der Zugleich Vorstandsmitglied der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial ist. Ein wunderbarer Mensch mit einer klassischen Dissidenten-Biographie, bedächtig, ernsthaft und gradlinig. Inzwischen gehört er zum Beraterstab von Innenminister Awakow und ist mit der personellen und strukturellen Reform der Miliz befasst – vor einigen Monaten noch eine undenkbare Konstellation. Parallel betreibt er seine NGO-Arbeit weiter. Auch andere Akteure und Akteurinnen der Zivilgesellschaft sind inzwischen in exekutiven Funktionen. Die Zeit ist zu kurz, um ein Urteil darüber zu fällen, was sie dort ausrichten können. Gut nachvollziehbar, dass sie jede Möglichkeit nutzen wollen, in der gegenwärtigen Übergangsperiode die Dinge zu gestalten statt die Regierung nur von außen zu kritisieren.
Andere Maidan-Aktivistinnen und -Aktivisten sind an der Schwelle zum Einstieg in die Parteipolitik – sie treten entweder einer der bestehenden Parteien bei oder bereiten neue politische Formationen vor. Ein erster Test werden die Kommunalwahlen sein, bei denen voraussichtlich in einigen Städten neue Listen antreten werden.
Gleichzeitig hat der "Euromaidan" jede Menge zivilgesellschaftlicher Energie freigesetzt und zu einem neuen Selbstbewusstsein von Nichtregierungsorganisationen, Kulturinitiativen, Web-Aktivisten etc. beigetragen. In Charkiv trifft man auf Schritt und Tritt kreative und tatkräftige Leute, die sich in der einen oder anderen Form öffentlich engagieren. Die Stadt ist traditionell ein Zentrum für Wissenschaft und Kunst mit zahlreichen Hochschulen und einer lebendigen Kulturszene. Im Alltag wird selbstverständlich russisch gesprochen – die Sprache definiert keineswegs die politische Orientierung und nationale Zugehörigkeit. In Städten wie Charkiv kann man fast mit Händen greifen, wie sich gegenwärtig eine neue Phase post-ethnischer Nationenbildung in der Ukraine vollzieht: während Putin-Russland in völkischen Nationalismus verfällt, haben die Annexion der Krim und die Intervention in der Ost-Ukraine die Herausbildung einer politischen Nation in der Ukraine beschleunigt.
Die unterschiedlichen Präferenzen der Bevölkerung zwischen Anlehnung an Russland oder an die Europäische Union reflektieren auch unterschiedliche soziale und kulturelle Lebenslagen. Während sich die modernen Mittelschichten und die jüngere Generation eher von den "europäischen Werten" (Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat) angezogen fühlen, erhoffen sich andere Schichten der Bevölkerung materielle Sicherheit von Russland. Große Teile der traditionellen Industriearbeiterschaft, ältere und wenig qualifizierte Menschen erlebten den Zerfall der Sowjetunion als soziale Deklassierung, zumal die neuen wirtschaftlichen und politischen Eliten wenig mehr als ihre eigene Bereicherung betrieben.
V - Wie weiter?
Das angekündigte "Unabhängigkeits-Referendum" am 11. Mai zielt natürlich gegen landesweite Präsidentschaftswahlen zwei Wochen später – umso befremdlicher, dass die prominenten Kandidierenden(Poroshenko und Julia Timoschenko) im Osten kaum präsent sind. Zitat eines NGO-Aktivisten: "Das verstärkt das Gefühl, dass wir nicht wichtig sind und 'Kiew' uns schon abgeschrieben hat." Auch die Minister, die zur Zeit häufig in der Ostukraine sind, treten dort kaum öffentlich auf, sei es aus Sicherheitsgründen oder weil sie immer noch auf "Elitenpolitik" fixiert sind und die Bedeutung öffentlicher Kommunikation unterschätzen.
Der größte Unsicherheitsfaktor für die Durchführung der Präsidentschaftswahl am 25. Mai ist die Beteiligung der Regionen, die teilweise von separatistischen Kräften kontrolliert werden: wie hoch wird die Wahlbeteiligung im Donbass sein? Informationen aus dem Sicherheitsdienst der Regierung weisen darauf hin, dass Schlägertrupps darauf vorbereitet werden, Wahllokale zu stürmen und Chaos am Wahltag zu verbreiten. Man kann davon ausgehen, dass sich die Politingenieure in Russland noch einiges einfallen lassen werden, um landesweite Wahlen zu verhindern, aus denen ein demokratisch legitimierter Präsident hervorgeht.
Ein Unsicherheitsfaktor zweiten Grades ist Julia Timoschenko, die in den Umfragen hoffnungslos hinter dem "Maidan-Oligarchen" Poroschenko zurückliegt, sich aber hartnäckig weigert, die Segel zu streichen: wird sie es darauf anlegen, die Wahlen zu verschieben, um ihre Chancen zu verbessern? Ob sie dafür die nötigen Mehrheiten im Parlament zusammen bekäme, erscheint allerdings zweifelhaft. Zumindest Teile der eigenen Partei um den amtierenden Ministerpräsidenten Jazenjuk und Übergangspräsident Turtschinow sind dabei, sich von Julia Timoschenko zu emanzipieren.
Eine Schlüsselfrage für die Stabilisierung der Situation (und die erfolgreiche Durchführung der Wahlen) ist die Reorganisation der Polizei. Die Erfahrungen der letzten Wochen zeigen, dass auf einen Gutteil der Miliz im Südosten des Landes kein Verlass ist. Sie setzt den Angriffen militanter Separatisten kaum Widerstand entgegen, Teile der Miliz fraternisieren sogar mit ihnen – teils, weil sie buchstäblich gekauft wurden, teils weil sie demoralisiert sind. Das Innenministerium baut gerade eine neue Sondereinheit auf, deren erste Aufgabe es sein wird, die Wahlen abzusichern. Das Militär wird ganz bewusst nicht im Inneren eingesetzt. Auch die Rückeroberung von Slawjansk, die am 2. Mai eingeleitet wurde, ist Sache von Sondertruppen des Innenministeriums. Dabei steht die Regierung in Kiew vor dem Dilemma, diese schwer bewaffneten Kommandotrupps zurückzudrängen, ohne ein Blutbad anzurichten und in Mitleidenschaft zu ziehen. Dass sie bisher nur zögerlich gegen die Freischärler vorging, ist Ausdruck dieser Vorsicht.
So oder so wird der Mai ein entscheidender Monat für die Zukunft der Ukraine. Die dringendste Frage lautet: wie kann eine Spaltung des Landes verhindert werden? Nur durch aktive Gegenwehr von innen und Druck von außen - sprich durch ernsthafte Sanktionen, die der russischen Führung signalisieren, dass sie einen hohen Preis für die Demontage der Ukraine zahlen muss. Sanktionen sind ein Mittel der nicht-militärischen Abschreckung. Sie müssen rechtzeitig eingesetzt werden, bevor Russland immer neue Fakten in der Ukraine schafft. Seit der Annexion der Krim hat der Westen schon viel Zeit verloren, die Putin kühl genutzt hat. Das sollte sich nicht fortsetzen.
Fragt man nach positiven Maßnahmen, um die demokratischen, pro-europäischen Kräfte in der Ukraine zu stützen, gibt es vor allem ein Mittel, das kurzfristig große Wirkung entfalten kann: die Visafreiheit für Reisen in die EU. Das wäre ein starkes Signal, dass Europa der Ukraine nicht den Rücken kehrt, sondern sie mit offenen Armen empfängt.
Ralf Fücks gab bereits im Deutschlandfunk zum Thema ein Interview: "Angebliche Spaltung der Ukraine ist ein Mythos", veröffentlich am 3. Mai 2014.
Dieser Artikel erscheint in Kürze auch in der Zeitschrift Internationale Politik.