Den demografischen Wandel als Chance sehen

Der demografische Wandel lässt sich bewältigen, wenn brachliegende Arbeitskraftpotenziale aktiviert, vorhandene Mittel zielgenauer eingesetzt und alte Denkmuster verabschiedet werden.  Aktuelle Artikel und Publikationen zur Sozialpolitik

Alte Männer spielen Schach
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Alt und jung Sonntags im Park

Während die Weltbevölkerung nach wie vor rasant wächst, erleben wir in Deutschland genau das Gegenteil. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schrumpft unsere heimische Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bis 2035 um bis zu 7,3 Millionen Menschen. Wir werden immer weniger und wir werden immer älter. Dass wir länger leben, ist erfreulich, hat aber auch Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Darauf müssen wir uns vorbereiten. Wir brauchen neue zukunftsfähige Konzepte, die unserem Anspruch auf Gerechtigkeit entsprechen und die neue Formen unseres Zusammenlebens zulassen. Dazu bedarf es einer sozialen und solidarischen Gesellschaft, in der alle Menschen umfassende Chancen für ein selbstbestimmtes Leben haben - unabhängig ihrer sozialen und kulturellen Herkunft, ihres Alters und ihres Wohnortes.

Fachkräftepotentiale gezielt entwickeln

In einigen Branchen macht sich der fehlende Nachwuchs bereits heute bemerkbar. Arbeits - und Ausbildungsplätze können nicht vergeben und Fachkräfte nicht gefunden werden. Besonders schlecht sieht es bei den Pflegerinnen und Pflegern und den Erzieherinnen und Erziehern aus, aber auch im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich. Die Bundesregierung hat dieses Problem bisher vernachlässigt und mit der gerade beschlossenen Rente mit 63 auch noch zusätzlich befeuert. Der 2012 gestarteten Fachkräfteoffensive fehlt eine ganzheitliche Strategie. Die bessere Förderung inländischer Arbeitskräfte und verstärkte Integration von Frauen und Älteren in den Arbeitsmarkt ist ein wichtiger Baustein. Aber das alleine wird nicht ausreichen, um den Bedarf an Fachkräften zu sichern.

Ein bislang weitgehend unausgeschöpftes Potential liegt bei gut ausgebildeten Migrantinnen und Migranten, die derzeit oft unter ihrem Qualifizierungsniveau und abseits ihres erlernten Berufes arbeiten müssen, da ihre ausländischen Abschlüsse nicht hinreichend anerkannt werden. Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen von 2012 und der schrittweisen Umsetzung der dazugehörigen Landesanerkennungsgesetze wurde die Tür zwar einen Spalt weit geöffnet, aber die Türschwelle ist nach wie vor viel zu hoch.

Deshalb brauchen wir flankierende Förder - und Beratungsmaßnahmen, einheitliche Anerkennungsrichtlinien, Nachqualifizierungsmöglichkeiten und vor allem eine echte Willkommenskultur für ausländische Fachkräfte und deren Angehörige. Denn nur, wenn diese für sich und ihre Angehörigen eine Perspektive und für ihre Kinder ausreichend Bildungschancen sehen, werden sie auch dauerhaft bleiben.

Seit einigen Wochen verschaffen Arbeitsagenturen in Augsburg, Bremen, Dresden, Freiburg, Hamburg und Köln Asylbewerbern einen Zugang zum Arbeitsmarkt, auch wenn ihre Anerkennung als Flüchtlinge noch aussteht. Dieses Modell sollte auf ganz Deutschland ausgeweitet werden. Es ist doch unsinnig, hochmotivierten Flüchtlingen aus Prinzip den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verweigern, wenn die Unternehmen auf der anderen Seite händeringend Fachkräfte suchen.

Mehr in Bildung, Forschung und Innovationen investieren

Entscheidend ist letztlich, wie produktiv die Menschen arbeiten können. Das wiederum hängt davon ab, ob es eine gute Infrastruktur gibt und ob sie modernste und effiziente Maschinen nutzen können. Um unsere Gesellschaft demografiefest zu machen, muss deshalb die andauernde Schwäche bei den öffentlichen und den privaten Investitionen überwunden werden. Die Instrumente dafür gibt es schon: So würde z.B. ein funktionierender Emissionshandel sehr wirksame Anreize für Energieeffizienzinvestitionen auslösen.

Mit besseren Abschreibungsbedingungen könnten diese Investitionen auch steuerlich attraktiver gemacht werden. Außerdem sollte auch der Staat mehr in gute Bildung und Betreuung, in Breitbandausbau oder auch in den Erhalt der Straßen investieren. Hierfür sollten die bestehenden Schwächen von öffentlichen-privaten Partnerschaften überwunden werden, um privates Kapital für solche Aufgaben zu mobilisieren. Unser wichtigster Verbündeter für eine höhere Arbeitsproduktivität ist die Forschungs- und Technologiestärke des Standortes. Diese gilt es mit einer gezielten Innovationspolitik zu stärken, z.B. Forschung und Entwicklung in Unternehmen steuerlich zu fördern, attraktive Rahmenbedingungen für Wagniskapital zu schaffen und Wissenschaft sowie Wissenstransfer besonders in die kleinen und mittleren Unternehmen zu stärken.

Rentenpaket der Bundesregierung ignoriert den demografischen Wandel

In keinem anderen Bereich zeigen sich die Auswirkungen des demografischen Wandels so deutlich wie in den Sozialsystemen. Diese sind in Deutschland vom Prinzip her umlagefinanziert und werden hauptsächlich durch die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bis zu den jeweiligen Beitragsbemessungsgrenzen solidarisch finanziert.

Umlagesysteme funktionieren dann gut, wenn ein relativ ausgewogenes Verhältnis zwischen Beitragszahlern auf der einen und Rentnerinnen und Rentnern auf der anderen Seite besteht. In Deutschland ist dies durch die jahrzehntelang niedrigen Geburtenzahlen nicht mehr gegeben. Immer weniger Jüngere müssen die Leistungen für immer mehr Ältere aufbringen. Spätestens in zehn Jahren setzt die Verrentungswelle der Babyboomer ein. Deshalb benötigen wir heute schon Lösungen, um einerseits die jungen Generationen nicht über Gebühr zu belasten und andererseits den Älteren eine auskömmliche Alterssicherung, mindestens jedoch eine Grundsicherung zu garantieren.

Wir Grünen haben uns deshalb für die „Rente mit 67“ ausgesprochen und mit der Grünen „Garantierente“ ein zukunftsfähiges Modell gegen Altersarmut entwickelt. Dieses würde besonders auch armen Müttern helfen. Und was macht die Bundesregierung? Sie setzt mit ihren milliardenschweren Wahlgeschenken die langfristige Stabilität der Rentenversicherung aufs Spiel. Die Union bekommt ihre Mütterrente und die SPD die abschlagsfreie Rente mit 63. Finanziert durch die Beitragszahler und über geringere Rentenanpassungen auch durch die heutigen Rentnerinnen und Rentner. Die Sozialkassen werden geplündert und die Nachhaltigkeitsrücklage schon in wenigen Jahren vollständig aufgebraucht sein. In der Folge werden die Beiträge stärker steigen und das Rentenniveau schneller sinken.

Individuelle Lösungen für ein selbstbestimmtes Leben

Mit dem demografischen Wandel nimmt auch die Zahl der Pflegebedürftigen stetig zu - die Zahl der Pflegenden dagegen ab. Erwachsene Kinder leben häufig weit entfernt von ihren Eltern, mehr Frauen arbeiten außer Haus. Aus diesen und anderen Gründen können oder wollen Familienmitglieder die Pflege ihrer Angehörigen immer seltener übernehmen. Zudem mangelt es an professionellen Pflegekräften. Wir brauchen daher eine Reform der Pflegeversicherung, die auch in Zukunft eine gute, bezahlbare und selbstbestimmte Pflege ermöglicht sowie die unterschiedlichen Voraussetzungen in der Stadt und auf dem Land berücksichtigt. Wir stellen uns ein persönliches Pflegebudget vor, dass es den Betroffenen erlaubt, gewünschte Hilfen individuell auszuwählen.

Auf dem Land werden vor allem mehr ambulante Pflege und Familienhilfen benötigt, in den Städten hingegen kleine Wohn- und Pflegeeinrichtungen für ein selbstbestimmtes Leben. Früher war es üblich, dass mindestens drei Generationen unter einem Dach wohnten. Im Laufe der Zeit, bedingt durch immer höhere Anforderungen an Mobilität und Flexibilität geriet dieses Modell immer mehr in Vergessenheit. Trotzdem sehnen sich die Menschen nach wie vor nach Gemeinschaft, nach stabilen Beziehungen und nach familiärem Zusammenhalt. Deshalb bekommen Mehrgenerationenhäuser, genauso wie andere alternative Lebensformen eine immer größere Bedeutung in unserer Gesellschaft. Wir müssen nur den Mut finden, Neues auszuprobieren.

Leitbild nachhaltiger Stadtentwicklung

Der demografische Wandel hat in Deutschland unterschiedliche Auswirkungen. Die Situation ist in Ost und West unterschiedlich, genauso in ländlichen und städtischen Räumen. In den vergangenen 20 Jahren haben viele ostdeutsche Kommunen erhebliche Bevölkerungsverluste hinnehmen müssen und auch für die nächsten Jahre und Jahrzehnte wird ein deutlicher Bevölkerungsrückgang erwartet. Das schlägt sich in erheblichem Umfang auf die öffentlichen Finanzen nieder. Regionen, die besonders stark von Abwanderung und Alterung betroffen sind, kämpfen ungleich mehr mit schwindenden Einnahmen bei gleichzeitig steigenden Ausgaben für Alterssicherung, Gesundheit und Pflege. Um das auszugleichen gibt es den Länderfinanzausgleich. Und es entspricht unserem Anspruch auf Solidarität, dass auch schwächere Regionen ihren Bürgerinnen und Bürgern einen angemessenen Service und eine leistungsfähige Infrastruktur bieten können.

Wir müssen aber weg vom Leitgedanken des reinen Wachstums, der sich an mehr Einwohnerinnen und Einwohner, größerer Infrastruktur und einem größeren Flächenverbrauch orientiert - hin zu einem Leitbild qualitativer und nachhaltiger Stadtentwicklung. Sich von einer Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern zu einer noch kleineren Stadt mit 20.000 Einwohnern zu entwickeln, muss keine Negativentwicklung sein. Entscheidend ist vielmehr die Lebensqualität, die eine Stadt und Region seinen Einwohnern und Touristen bietet. Die Einwohnerzahl allein ist kein Indikator für wirtschaftlichen Erfolg und gute Lebensbedingungen.

Und auch beim Thema Mobilität werden wir umdenken müssen. Eine flächendeckende Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr wie wir es noch gewohnt sind, wird immer unrealistischer. Vor diesem Hintergrund spielen Car-Sharing-Modelle neben weiterer Alternativen wie Sammeltaxis, Bürger- oder Postbusse eine immer größere und wichtigere Rolle. Auch mobile Lebensmittelläden, Sparkassen oder Postfilialen, die von Ort zu Ort fahren, sind bereits erfolgreich erprobt worden. Überhaupt wird die Share-Ökonomie in den kommenden Jahren ein wichtiger Faktor werden, was nicht heißt, dass sich der Staat aus seiner Verantwortung ziehen darf.

Zivilgesellschaft unterstützen

Das Gleiche gilt im Übrigen auch für bürgerschaftliches Engagement. Um Zusammenhalt und Solidarität in der Gesellschaft auch zwischen den Generationen und Kulturen zu stärken, brauchen wir eine lebendige Zivilgesellschaft. Dabei darf bürgerschaftliches Engagement nicht als Lückenbüßer für professionelles und staatliches Handeln missbraucht werden. Im optimalen Fall ergänzen sie sich. Bürgerschaftliches Engagement findet dort statt, wo die Menschen leben, in ihrem eigenen Lebensumfeld.

Darum brauchen wir vor Ort zuverlässige Rahmenbedingungen und kompetente Anlaufstellen, die unterstützen und Interessierte zusammenbringen. Dazu gehören auch jegliche Formen der Bürgerbeteiligung. Vom städtischen Haushalt angefangen bis hin zu großen Infrastrukturprojekten wie z.B. Stuttgart 21 oder dem Umbau des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof. Das Volk will mitdiskutieren und mitentscheiden. Direkte gelebte Demokratie schafft die Grundlage für mehr Verantwortung und Engagement in der Bevölkerung.

Der demografische Wandel ist Realität. Dennoch ist die öffentliche Debatte darüber geprägt von Misstrauen oder Resignation. Wir müssen die Realität akzeptieren und den Veränderungs- und Reformdruck als Chance sehen. Dies kann dann gelingen, wenn wir uns von alten Denkmustern verabschieden und eine ehrliche Debatte darüber führen, welche Aufgaben der Staat in Zukunft übernehmen muss, welche Rolle die Zivilgesellschaft übernimmt und welche Verantwortung die Unternehmen dabei haben. Wenn wir am Ende den Wandel nicht einfach nur hinnehmen, sondern gemeinsam aktiv gestalten, haben alle viel gewonnen.


Hinweis: Dieser Artikel erscheint im nächsten Böll.Thema "Schwerpunkt Generationenvertrag" am 27. Juni 2014.


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