Hilde Radusch: Ein Kleinod der Frauen-Lesbengeschichte

Hilde Radusch in einem Boot im Jahre 1941
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Hilde Radusch in einem Boot im Jahre 1941

Ihr Nachlass birgt eine erfrischende Eigenständigkeit. In fünfzig Archivkartons belegter Lebensstationen von Radusch, die jenseits der damals vorgesehenen Modelle für Menschen weiblichen Geschlechts lagen und kontextualisiert Raduschs facettenreiches Leben von 91 Jahren.

Seit ihrer Zeit im Roten Frauen- und Mädchenbund reflektierte sie die Gerechtigkeitsfrage unabdingbar verbunden mit der Geschlechterfrage. Als Redakteurin in der von ihr gegründeten Gewerkschaftszeitung oder als KPD-Frau in der Bezirksverordnetenversammlung für Berlin-Mitte in den Jahren 1929-1932 und auch als "Illegale" in der NS-Zeit war die Geschlechterdifferenz ein Thema. In der Nachkriegszeit, als sie am Aufbau des Bezirksamtes Schöneberg mitarbeitete und Sachbearbeiterin für "Opfer des Faschismus" war oder später im Berliner Notprogramm für Angestellte, galt ihr Augenmerk bei Benachteiligung stets den konkreten Lebensverhältnissen aller Geschlechter, die es zu verbessern galt.

Ab den 1970er Jahren engagierte sie sich in der Neuen Frauenbewegung und war Teil des lesbischen Aufbruchs, wie er sich in der L 74, der ersten Gruppe für ältere Lesben, formierte. Sie war Redakteurin "Unserer Kleinen Zeitung" (UKZ), der ersten Lesbenzeitung nach dem Zweiten Weltkrieg und Älteste im Kreise junger Lesben,die den Astrobrief herausbrachten.

Der Bestand enthält neben den klassischen Schrift- und Fotoquellen auch audiovisuelle Medien, welche die Lücken ihres schriftlichen Nachlasses schließen. Sie erzählen von Familiengeheimnissen, Bildungskämpfen, vom Weg in die KPD und die revolutionäre Gewerkschaftsopposition sowie ihrer Distanzierung von beidem.

Ab 1931 gehörte Radusch der 1929 gegründeten kommunistischen Sondergewerkschaft IG Post und Staat an. Die Transkription ihrer Berichte weist darauf hin, dass sie als Reichsleiterin dieser Gewerkschaft relevante Informationen für den Aufbau des sowjetischen Nachrichtendienstes besessen haben könnte, als sie 1932 als Delegierte der deutschen KP nach Moskau, Odessa und Leningrad reiste.

Raduschs Nachlass zeigt ihre persönliche und politische Entwicklung von einer Tochter aus kaisertreuem, bürgerlichem Hause zur Kommunistin, autonomen Feministin und politisch denkenden und agierenden Lesbe. Aus politischen, sexistischen und homophoben Gründen konnte und wollte sie zeitlebens keinen Karriereweg beschreiten. Sie ging in den Widerstand, half politisch und rassisch Verfolgten in der NS-Zeit, überlebte ihre Verfolgung und war bis zu ihrem Tode engagierte Humanistin – jenseits parteipolitischer Diskurse.

Findbuch des Quellenbestands und die Logik der Nachlassordnung

Ein Findbuch erschließt den Nachlass. Es greift die Ordnung auf, die Radusch in ihrer Wohnung hinterlassen hat und gibt Einblick in die persönliche Denkweise der Verstorbenen. Beispielsweise enthält der Klassifikationspunkt "Haushaltsgestaltung und Lebensführung" Unterlagen zu ihrem Freundinnenkreis. Die Quellen zeigen Absprachen, Kommunikationswege und Verbindlichkeiten zwischen den Frauen, etwa um Raduschs Geburtstag am 6. November zu zelebrieren. Darüber hinaus belegen sie, wie es ihr die Freundinnen ermöglichten, nahezu bis zum Tod in der eigenen Wohnung zu leben.

Ihr Freundinnennetz nannte Radusch "Meinen Club". Ihm gehörten Frauen unterschiedlichen Alters an. Für die Geschichte eines selbständigen Alterns lesbischer Frauen haben die Quellen des Klubs einen hohen Aussagewert.

Eine Quelle aus dem Jahr 1949 fällt auf, da sie etwa vierzig Jahre älter ist als die vorwiegend aus den 1980/90 er Jahren stammenden Quellen. Die handschriftlich verfasste Tischrede mit skizzierter Sitzordnung von Radusch hatte sie zum zehnjährigen Jubiläum ihrer "Hochzeit" mit Else Klopsch, genannt Eddy, gefertigt. Die Ordnungslogik des Nachlasses legt nun nahe, dass Radusch ihrer über zwanzig Jahre währenden ehegleichen lesbischen Lebensgemeinschaft gleiche Bedeutung beimaß wie ihrem Klub.

Raduschs Nachlass tradiert bislang unbekannte Lebenswelten frauenliebender Frauen. In den 1950er und 1960er Jahren ermöglichten Brieffreundschaften, die auch international ausgerichtet waren, gemeinsame Kurreisen und Feierlichkeiten. Sie dienten der Selbstvergewisserung als gleichgeschlechtlich liebende Frau. Mit der subkulturellen und politischen Organisation der 1920er Jahre war diese Welt nicht vergleichbar, gleichwohl verdeutlichen sie, wie lesbische Frauen sich eigenständige Lebenswelten jenseits der hetero- und andronormativen Ordnung schufen und behaupteten.

1968 wünschte Radusch mit "Frau" angeschrieben zu werden, "weil dem Begriff Fräulein im deutschen Sprachgebrauch etwas Unfertiges, nur als Sexualpartner verwendbares anhaftet". Das Anliegen richtete sie an Sonja de Millet, die in Berlin eine Kontaktvermittlung für "Freundinnen Sapphos" unterhielt.

Das Kriegstagebuch

Radusch schrieb zeitlebens Tagebuch; selbst als die Kommunistin ab August 1944 in ihre Laube südöstlich von Berlin untergetaucht war. Ihr Kriegstagebuch datiert vom 7. Februar bis 10. Mai 1945. Überleben war zentrales Thema, daneben finden sich militärische Operationen, Gesundheitsfragen und Visionen für den Frieden.

Die Zeit ihrer Illegalität ist eine Schlüsselsituation ihres Lebens, in der sie ihre politische Tätigkeit als "Kapital für die neue Zeit" und als Potenzial für den Aufbau nach dem Nationalsozialismus reflektierte.

Lesbische Erzählungen - ein strukturell verhindertes Kulturgut

Im Nachlass überraschen neben unveröffentlichter Lyrik gleich mehrere Manuskripte mit lesbischen Erzählungen, die Radusch bis Ende der 1960er Jahre erfolglos zu veröffentlichen suchte. Es sind Liebesgeschichten von etwa 30 Seiten Umfang, die einen selbstverständlich lesbisch gelebten Alltag in der Kriegs- und Nachkriegszeit schildern. Sie tradieren die Subkultur der Weimarer Republik als vital erinnerte Vergangenheit und schildern ein frauenliebendes Begehren, das Diffamierung, Ausgrenzung, Denunziation und Sabotage durch eine lebendige lesbische Gemeinschaftzu überwinden vermag.

Raduschs Lesbenschmonzetten sind in der Öffentlichkeit nie sichtbar geworden. Mit dieser Unsichtbarkeit sind sie zugleich Zeuginnen verhinderter lesbischer Kulturproduktion. Sie legen nahe, dass es nicht die Nichtexistenz lesbischer Literatur war, vielmehr eine andro- und heteronormativ dominierte Öffentlichkeit und Verlagswelt, die ihre Veröffentlichung als lesbisches Kulturgut verhinderte.

Hilde Raduschs Nachlass ist für weibliche Erwerbsarbeit, Widerstand, Wiederaufbau, KPD-, Kultur-, Politik- und Lesbengeschichte bedeutsam. Seine Gesamtschau ermöglicht es, Radusch als Wegbereiterin für eine selbstreflexive, kritische und feministische Politik herauszuarbeiten.

Dieser Artikel erschien erstmals im Jahresbuch 2013 des Archiv Grünes Gedächtnis.