Am 21. August 2013 kommt es in der Stadt Zamalka, östlich von Damaskus, zu einem Giftgasangriff. Der syrische Fotograf und Aktivist Saeed Al Batal ist nur Stunden später vor Ort. Ein Beitrag über das Fotografieren im Krieg.
Ich erinnere mich noch daran – vor langer Zeit in den Nebeln einer fernen Vergangenheit – das warme Gefühl als ich zum ersten Mal eine Kamera in die Hand nahm. Es war wie eine Vision davon, dass ich dieses Gerät eines Tages so lange bedienen würde, bis es ganz aufgebraucht wäre. Damals trug ich sie wie ein Zepter; heute trage ich die Kamera wie einen Schild. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich das zum ersten Mal tat – die Kamera benutzen als sei sie ein Schild. Viele Daten, viele Ereignisse habe ich vergessen, aber dieser eine Tag, der 26. Juni 2012, ist in mein Gedächtnis wie eingraviert. Am Ende eines langen, anstrengenden Tags führten mich meine Füße fast gegen meinen Willen auf den Platz – auf den Platz, den die Körper der Opfer des Gemetzels vor mir gefunden hatten. Feldlazarette gab es keine, keinen Strom ... die Leichen bedeckten das Pflaster vor einer ehemaligen Hochzeitshalle. Die Schlacht um Duma tobte noch und alles was ich bei mir hatte, war meine Kamera. Die ersten Sekunden war ich wie gelähmt, konnten meine Augen nicht fassen, was sie sahen: Verstreut Brocken von Fleisch und ein beißender Gestank, der mich schwindeln ließ. Ich senkte den Blick, sah auf das Display meiner Kamera. An diesem Tag habe ich zum ersten Mal hinter ihr Schutz gesucht. Auf die Wirklichkeit einlassen konnte ich mich nur über den Bildschirm, so als sähe ich einen Film, gemütlich im Sessel, oben in meinem Versteck am Berg – einen Horrorfilm, in dem ein Ungeheuer oder vielleicht eine Naturkatastrophe Dutzende Menschen jeder Art, jedes Alters zerschmettert hat.
„Das Foto ist die letzte Verteidigungslinie gegen die Zeit und mein Schutzwall gegen die Wirklichkeit – meine Art, das Gleichgewicht zu wahren und der Frage aus dem Weg zu gehen: Was tust du da? Mein Objektiv ist der Schild der mich schützt – nicht vor Explosionen, Granatsplittern und Kugeln, sondern vor der Gefahr, dass ich nachdenke, verzweifle, aufgebe.”
Sehe ich ein zerschmettertes Gebäude, rede ich mir ein, dass, mache ich nur ein gutes Bild davon, sein Untergang vielleicht eine existentielle Bedeutung gewinnt. Oft nehme ich mich als mein eigenes Objektiv wahr. Ich bin ein Märtyrer, der gehüllt in sein Leichentuch stolz auf den Schultern der anderen getragen wird, ein Baum, der im tiefsten Winter in Flammen steht, das Kind, das lacht, obgleich ihm das Verhängnis auf den Fersen ist. Mittlerweile ist das zwanghaft. Wenn ich einen starken Lachreiz verspüre, stellt sich immer auch gleich das Gefühl ein, ein Foto machen zu müssen. Bin ich von einer Nachricht bestürzt, greife ich zur Kamera. Ich verabschiede mich von jemandem – ein Foto. Ich grüße jemanden – ein Foto. Wenn der Granatbeschuss zunimmt, wenn der Kugelhagel dichter wird, greife ich meine Kamera und renne Richtung Gemetzel. Ich sehe inzwischen die meisten Dinge in einem Rahmen, als Standbild. Die Wirklichkeit, fehlt ihr der Rahmen, kann ich kaum begreifen. Vielleicht sollte ich deswegen gelegentlich zum Therapeuten gehen. Ist das eine Art geistige Zerrüttung? Ich weiß es nicht. Gegenwärtig ist es jedenfalls das Einzige, was mich vor dem Wahnsinn schützt. Mit einem Blutbad begann diese Macke, ein weiteres Blutbad machte sie zur festen Gewohnheit.
Die Tage vergingen schnell. Ich sah viel, vergaß viel – bis zu dem Moment als sich ereignete, was alles, was zuvor gewesen, wie ein Spiel erscheinen ließ. Es war kurz vor dem Fest des Fastenbrechens, als ich erfuhr was Chemiewaffen sind. Die Erfahrung war allem Gewohnten so fremd, dass ich nicht sagen kann „Ich erinnere mich daran“ oder „Es ist mir im Gedächtnis haften geblieben“. In den ersten Augenblicken war ich völlig gelähmt ... dann kamen Erinnerungsfetzen: eine Fahrt von Jobar nach Duma auf der wir um drei Uhr morgens durch Zamalka kamen – und Zamalka war wie eine Geisterstadt. Wir hielten vor einem Gebäude, aus dem wir einen Schrei vernommen hatten. Die pechschwarze Nacht ließ keine Fotos zu. Schneller die Schritte meines Freundes, meine, wie wir die Treppen hochstiegen. Klopfen im ersten Stock. Niemand! Ein zweiter, ein dritter Versuch. Schuhe vor der Tür, die Familie musste zuhause sein. Ein Tritt ist nicht genug, auch der zweite nicht. Beim dritten bricht die Tür.
Der Schein batteriebetriebener Lampen. Am Ende eines Gangs ein ausgestreckter Fuß. Der Fuß einer Frau, so schien es. Ein friedliches Bild. Eine Frau um die Mitte zwanzig schlief friedlich auf dem Boden des Badezimmers und ein Mann, ungefähr im selben Alter, schlief neben der Badewanne, in der ein Kind von zwei, drei Jahren im Wasser trieb. Aufwecken konnten wir sie nicht. Nur langsam wurde mir klar, nie wieder würden sie erwachen. Die Stimme meines Freunds sagte: Besser schnell weg. Er dachte, das Gift in der Luft könnte auch uns einschläfern. Als ich an der Tür auf ihn traf, sah man an seinem Gesicht, er war benommen. Er trug ein schlafendes Mädchen, das, sagte er, noch atmete.
Bruchstückhafte Bilder ... bis heute habe ich nicht den Mut, mich ihnen zu stellen, sie ernsthaft in Worte zu fassen. Das kann ich später tun, dann, wenn ich alt bin, sage ich mir – vorausgesetzt ich lebe lang genug. Woran ich mich hingegen gut erinnere, ist das Ausmaß der Verheerung als wir zurück nach Duma kamen. Hunderte lagen auf der Straße vor der Sanitätsbaracke; zwei Sanitäter spritzten sie mit einem Wasserschlauch ab. Wir trugen das kleine Mädchen hinein. „Sie atmet noch“, sagte ich dem Arzt, und schlagartig wurde mir schwindelig, fast fiel ich um. Ein Sanitäter sagte, dass ich nicht schlafen darf, dass ich, sollte ich einschlafen, nicht wieder erwachen würde. Und diesen Worten folgte eine Spritze und eine weitere Spritze, dann noch eine.
„Sie müssen sich gründlich waschen“, sagte er, „die Kleider verbrennen und einen Tag lang wach bleiben.“ Als wäre nichts leichter als das. In diesem Moment beneidete ich die Toten. Wie friedvoll und glücklich der Schlafende schien! Ohne nachzudenken, beneidete ich ihn – er sah so entspannt aus, so frei aller Sorgen – und ich wusste, keiner entkommt dem Gemetzel, außer den Toten.
Um wach zu bleiben verbrachten wir die Zeit mit Erster Hilfe. Während dieser angespannten Stunden habe ich keine Aufnahmen gemacht, ich weiß nicht warum. Vielleicht weil ich sah, wie Kameras zu dieser Tragödie schwärmten. Vielleicht, weil ich dachte, Fotos zu machen hieße, sich der Wirklichkeit zu verschließen. Dieses eine Mal, sagte ich mir, werde ich die Dinge mit offenem Visier anschauen und kein einziges Foto machen. Bis die Rakete den Weg zu uns fand. Es waren die ersten Bilder, die im Osten von Ghuta gemacht wurden – von der Rakete und ihrer verheerenden Fracht. Der Grundgedanke, der mich beschäftigte, war, dass ich kaum etwas empfand, mich geschickt hinter meinem Schild verbarg, die Gefühle mit dem Objektiv abwehrte. Man kann dabei nicht in Gefühlen schwelgen, sie würden einen überwältigen, in den Wahn treiben, in die Selbstaufgabe wahrscheinlich.
Dennoch, diese Erfahrung hat mich gelehrt, dass ich mit der Kamera ruhiger und ausgeglichener bin. Meine Stimme wurde entschiedener, ihr Ton gebieterisch, auch ging ich mit festerem Schritt. Ich bin das Auge des Mannes, der begreifen will, was sich ereignet hat, was sich ereignet, weshalb man sieht, wie ich ganz still stehe, wie ich mich ruhig bewege. Ich kann das inzwischen sehr gut, so gut, dass ich mich, Kamera in der Hand, fast in Nichts auflöse. Da ist so viel, über das man nachdenken muss, so viel zu erörtern – und Verzweiflung rührt in der Regel von zu viel Nachdenken her: Die Gedanken an jene, die tot sind, die Gedanken an jene, die tot sein werden; die Gedanken an jene die verzweifelten und sich selbst aufgegeben haben; die Gedanken an ein Morgen, das ganz hinter Nebelschwaden verborgen liegt.
All dies lösche ich aus meinem Geist und ersetzte es durch eine simple Reaktion: Wenn der Morgen kommt, werde ich hier sein, mit meiner Kamera, und ihn erwarten. Vielleicht wird meine Kamera den Morgen einfangen, während ich nicht in der Lage bin, ihn zu ertragen. Sehr sorgfältig achte ich darauf, dass die Speicherkarte der Kamera leer und ihre Batterien voll sind. Ich schlafe neben ihr. Ich bin bereit für alles und jedes.
Hinweis: Dieser Artikel wurde für Bidayyat geschrieben und ist Teil einer Serie über die Syrische Revolution und ihr Verhältnis zur bildlichen Wiedergabe. Hier nachgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Der englische Originaltext erschien am 06. Mai 2014.
Übersetzung: Bernd Herrmann