
Im September fielen noch die Bomben. Wenige Wochen später trafen sich Israelis und Palästinenser/innen nahe der Grenze zu Gaza und sprachen über den Krieg. Vielleicht der erste Schritt zum Frieden.
Am Abend des 31. August 2014 versammelten sich zahlreiche Menschen in Sderot. Einige stammten aus Gemeinden nahe des Gazastreifens, andere aus der Landesmitte und manche waren sogar weit aus dem Norden des Landes angereist, vom Kibbutz Sasa, nahe der Grenze zum Libanon. Eine Gruppe namens „Other Voice“ hatte zur Versammlung gerufe. Die Gruppe ist eine Graswurzelorganisation von israelischen Bürgerinnen und Bürgern aus den Gebieten rund um den Gazastreifen, sowie das „Palestinian-Israeli Peace NGO Forum“.
Ziel der Veranstaltung war, sich über die eigene Verwirrung und Niedergeschlagenheit zu verständigen. Die gab es auf beiden Seiten nach dem Krieg zwischen Israel und Gaza vergangenen Sommer. Einem Krieg, dem die israelische Regierung den Namen „Operation Protective Edge“ gegeben hatte.
Jene auf der Rechten vermissten den Nimbus des Siegs, da es zu keiner demütigenden Niederlage der Hamas kam, durch die Israels Glaube an die eigene Abschreckungskraft wiederbelebt worden wäre. Für jene auf der Linken war es schon schlimm genug, dass man militärisch vorging, ohne dabei klare politische Ziele zu verfolgen, und dafür auf beiden Seiten Soldaten und Zivilisten mit dem Leben bezahlten. Hinzu kam für sie, dass die Chance auf eine Verhandlungslösung zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde verspielt wurde, was besonders bedauerlich war, da die gemäßigten arabischen Staaten, also die Unterzeichner der Arabischen Friedensinitiative, und die internationale Gemeinschaft diesen Ansatz unterstützten.
Einander die Herzen ausschütten: Erschöpfung, Wut und Mitgefühl
Über Stunden saßen die Teilnehmenden im Kreis, sprachen vertraulich miteinander und erlebten. Langsam lösten sie sich von eingefahrenen, dogmatischen Sichtweisen. Es war faszinierend zu sehen, welche Dynamik die Versammlung entwickelte. Einige der bewegensten Gedanken kamen dabei von Menschen, die nahe Gaza leben. Sie sprachen davon, dass sie den Glauben an die Sicherheitsmechanismen verloren haben und über die schwer zu ertragende Wirklichkeit, die sie seit 14 Jahren durchlebten. Das ständige Gefühl, sagten sie, jederzeit Opfer eines Angriffs werden zu können, mache sie wütend und lauge sie aus. Einige sagten auch, sie seien nicht länger bereit, weiter Teil dieser sinnlosen Gewaltspirale zu sein, und hinterfragten ihre eigene wie auch die israelische Präsenz in der westlichen Negev-Wüste. Für andere in der Runde hingegen sei dieses Gebiet ihre Heimat und eine andere hätten sie nicht.
Viele zeigten Mitgefühl mit dem Leiden, das den Palästinensern in Gaza zugefügt worden war, und sie drückten Abscheu aus über die Hinrichtungen in Gaza-Stadt. Zu Hamas gab es unterschiedliche Haltungen. Einige verachten die Organisation und ihre Ziele, andere gaben zu bedenken, dass Hamas - ob es uns passt oder nicht - eine wichtige Kraft innerhalb der palästinensischen Gesellschaft sei und deshalb in Verhandlungen einbezogen werden müsse. Egal ob direkt oder indirekt über die Regierung der nationalen Einheit, die unter der Regie der Palästinensischen Autonomiebehörde und von Präsident Mahmud Abbas steht. Auch angesprochen wurde, dass selbst während des Höhepunkts der Kämpfe weiterhin Kontakte zwischen Nachbarn auf beiden Seiten der Grenzen gepflegt worden waren.
Neue Lösungsansätze
Nach den ersten Berichten schwand im Laufe der Diskussion die pessimistische Stimmung und man sprach über neue Lösungswege. der jüngste Konflikt ging mit einem Patt zu Ende – wobei die eine Seite eine bis an die Zähne bewaffnete Regionalmacht ist, die andere eine zu allem entschlossene Terrororganisation. Nach und nach einigte sich die Gruppe darauf, etwas müsse geschehen, und man brauche eine gewaltfreie Alternative zu den wiederholten, wechselseitigen Angriffen. Im Unterschied zu früheren Waffengängen, so einige der Teilnehmenden, bestehe heute die Chance, etwas anderes zu versuchen, und eine Art von vorübergehender Allianz zu bilden, die, indem sie sich von hergebrachten Konzepten verabschiedet und weise handelt, die Verhältnisse zum Tanzen bringen könne.
Solche Einsichten erinnern an jene historischen Situationen, von denen der Konfliktforscher William Zartman sagt, sie seien „für eine Lösung reif“. Zartman sowie der jüngst verstorbene Ron Pundak (einer der Initiatoren des Osloer Friedensprozesses über den er in seinem Buch „Secret Channel: Oslo –The Full Story“ schrieb), behaupten, Konflikte seien dann zur Lösung reif, wenn durch ein bedeutendes Ereignis die widerstreitenden Seiten – seien es Nationen oder deren politische Führung – gleichermaßen dazu bereit sind, einen historischen Wandel einzuleiten. Damit dieser Wandel auch Wirklichkeit werden kann, müssen zumindest einige der folgenden Bedingungen erfüllt sein:
- Alle anderen Ansätze sind ausgeschöpft
- Eine Katastrophe droht
- Beide Seiten haben heftige Verluste erlitten
- Eine neue konfliktbereite Führungsschicht bildet sich heraus
Im Rückblick ist es leicht zu erkennen, dass bestimmte weitreichende Maßnahmen in der Geschichte des Nahen Ostens erfolgten, weil die Zeit für sie reif war. Denken wir nur an den Besuch von Präsident Sadat und den Friedensvertrag mit Ägypten, der auf den traumatischen Jom-Kippur-Krieg folgte. Zu diesem Zeitpunkt war die ägyptische Staatsführung bereit, implizit anzuerkennen, dass sich die Lage verändert hatte und setzte diese Einsicht innenpolitisch durch.
Den Moment der Reife nutzen
Reife ist ein schlüpfriger Zustand. Schnell kann sie wieder verschwinden, und die Beteiligten fallen zurück in alte Muster der Gewalt. Im Nahen Osten scheint es aktuell einige Anzeichen zu geben, dass die Konfliktlage reif für eine Lösung ist. Die Friedensinitiative der Arabischen Liga ist wieder aufgetaucht, und die Araber scheinen bereit, mit Israel zusammenzuarbeiten, vorausgesetzt, die israelische Seite gibt ihre Besatzungspolitik auf. Israels Interessen überschneiden sich heute mit denen der gemäßigten Staaten im Nahen Osten, die gleichfalls den islamischen Radikalismus fürchten. Die israelische Öffentlichkeit hat zudem - zumindest in Teilen - verstanden, dass die eigene militärische Macht an ihre Grenzen stößt und Technik, Panzer und Waffen den Konflikt nicht entscheiden können. Immer mehr Israelis begreifen, dass die menschlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten der anhaltenden Besetzung und Gewalt nicht länger hinnehmbar sind, und dies die Legitimität ihres Landes in den Augen des Westens untergräbt. Zudem denken immer mehr junge Israelis daran auszuwandern, sollte sich die Spirale der Gewalt fortsetzen. Dies wird die Zukunft der Demokratie in Israel in Frage stellen können. Die meisten der von Zartman in seinem Paradigma für Konfliktlösungen genannten Bedingungen sind somit gegeben, und es fehlt allein die Bereitschaft der israelischen Führung, sich von einem bloßen Konfliktmanagement zu verabschieden und den Konflikt in diesem historischen Moment auf diplomatischem Wege zu beenden.
Die historische Herausforderung
Während seines Staatsbesuchs in Israel im März 2013 sagte Präsident Barack Obama - von wenigen Ausnahmen abgesehen - bewegten sich Regierungen nur dann in die richtige Richtung, wenn die Bürgerinnen und Bürger sie unter Druck setzten. Heute erleben wir einen flüchtigen Moment, in dem Israelis, die nahe Gaza leben, als Helden gesehen werden, immun gegen Querschüsse von Kritikern. Deswegen sind sie in der Lage mit Unterstützung aus Zivilgesellschaft und Politik den nötigen politischen Druck von unten auszuüben. Die Friedensbewegung in Israel heute steht vor einer historischen Herausforderung.