Krisenfrühling in Kiew

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Frühling in Kiew

Was bedeuten die Umbrüche in der Ukraine für die Menschen, die dort zu Hause sind? Was sie heute über den Maidan denken, wie der Krieg ihren Alltag beeinflusst und was sie sich für die Zukunft wünschen – zwei Stipendiatinnen der Heinrich-Böll-Stiftung reisen sechs Wochen durch die Ukraine und sprechen mit den Menschen vor Ort.

In Kiew zu sein macht rastlos. Dabei ist dieser Ort erstaunlich ruhig für eine Hauptstadt: Geduldig stehen die Menschen an einem der vielen Autos an, die am Straßenrand aus dem Kofferraum heraus vorzüglichen Kaffee verkaufen. Junge Eltern schlendern mit Kinderwagen durch Parks, in denen jetzt im Frühling Tulpen blühen und Baumkronen voll weißer Blüten riesigen Wattebauschen gleichen. Trotz der Frühlingssonne bleibt der Platz vor der Sophienkathedrale, einer der touristischen Hauptattraktionen, nahezu leer, von fotoknipsenden Tourist/innen keine Spur. Umso herzlicher und mit großer Geduld helfen die Menschen denjenigen weiter, die in dieser Zeit aus dem Ausland nach Kiew kommen, und nach dem Weg oder der nächsten Haltestelle fragen, denn wie an so vielen Orten auf der Welt bleiben die Ansagen in den öffentlichen Verkehrsmitteln für Nicht-Muttersprachler/innen rätselhaft.

Im Bus rutschen drei junge Menschen bereitwillig auf, damit wir uns mit unserem großen Reiserucksack setzen können, und erklären, wo wir aussteigen müssen. Sie kommen selber nicht aus Kiew, sondern aus der ostukrainischen Stadt Luhansk. Als dort im Sommer 2014 Kämpfe ausbrachen, flohen sie nach Kiew. Die Begegnung mit ihnen ist einer der vielen Momente, die in der scheinbaren Kiewer Idylle daran erinnert, dass im Osten des Landes Krieg herrscht: Am Hauptbahnhof eilen die Menschen vorbei an DIN A4-Zetteln, die im ganzen Bahnhofsgebäude hängen. Die Schilder richten sich an Geflüchtete aus den Gebieten Donetsk, Luhansk und von der Krim. Auf den Zetteln steht die Telefonnummer einer Hotline für Geflüchtete, und dass sie sich an die Erstaufnahmestelle in der Bahnhofshalle Nummer drei wenden können. Über einem Kiosk vor dem Bahnhof prangt ein Schild in den Nationalfarben der Ukraine, blau-gelb. „Einiges Land“ steht auf Ukrainisch und Russisch darauf. Plakatwände in der ganzen Stadt zeigen die Poster der Kampagne „Die Krim ist ukrainisch“. Zu sehen sind Fotos von Journalist/innen oder Unternehmer/innen, die den Minderheiten der Krimtatar/innen oder Krimtschak/innen angehören und verkünden: „Ich bin Bürger/in der Ukraine.“

Nicht nur im Stadtbild von Kiew, auch in der Begegnung mit den Menschen liegen scheinbare Normalität und der Krieg im Land nah beieinander. Grade noch hat der 25-jährige Roma von seinem Alltag und seinen Zukunftswünschen erzählt – er arbeitet in einem Café und will mit seiner Freundin um die Welt reisen. Roma hat Messtechnik studiert, aber der Beruf gefällt ihm nicht. Und von dem Teilzeitjob im Café kann er auch leben. Roma arbeitet schwarz. Nicht, um die Steuern zu sparen, sondern damit der Staat nicht erfährt, dass er in Kiew ist: Bei seinen Eltern ist bereits die Armee vorbeigekommen, um ihn einzuziehen. „Ich will für mein Land nicht sterben“, sagt Roma. Seine Eltern taten als wüssten sie nicht, wo ihr Sohn ist. Die Wohnung mietet offiziell ein Freund, sodass Roma nicht in Kiew gemeldet ist. Dass er den Kriegsdienst verweigert, ist in der aktuellen Mobilisierungsphase strafbar, Roma könnte dafür ins Gefängnis kommen. Allzu große Sorgen macht er sich nicht. „Noch ist die Situation nicht ganz so ernst. Sonst könnten sie mich ja über mein Telefon oder meine Bankkarte finden.“ Es ist ungewohnt, in Ruhe mit einem Menschen zu Abend zu essen, der gerade Soldat wäre, wenn er sich nicht verstecken würde.

Ein Ort, an dem die paradoxe Kiewer Stimmung besonders spürbar ist, ist der zentrale Unabhängigkeitsplatz Maidan. Ende 2013 begannen hier die großen Demonstrationen gegen die Regierung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch, zu denen Menschen aus allen Landesteilen nach Kiew reisten. Über 100 Menschen wurden durch Schüsse umgebracht – die Morde sind bis heute nicht aufgeklärt. Über ein Jahr später überqueren Menschen mit ihren Einkaufstaschen den Maidan, vorbei an Ständen, die Flaggen und Souvenirs in den ukrainischen Nationalfarben verkaufen, und Toilettenpapier mit dem Gesicht des russischen Präsidenten Vladimir Putin darauf. In der Imbissbude, die während des Protests als Krankenstation für Verletzte diente, werden wieder Snacks und Bier verkauft, zwei junge Straßenmusiker spielen seichte Popsongs, es riecht nach Hotdogs.

Wenige Meter weiter erinnern Fotos, Kerzen und Blumen an die Menschen, die hier während der Proteste gestorben sind – „himmlische Hundertschaft“ werden sie genannt. Neben Fotos von den Demonstrationen, von Barrikaden und Menschenmassen, stehen auch Bilder, die ukrainische Soldat/inen im Einsatz im Osten des Landes zeigen. Menschen mit Spendendosen bitten die Passant/innen, die Armee zu unterstützen. Dass die Soldat/innen als Helden verehrt werden, die das Land schützen, dass unzählige zivile Freiwilligengruppen für sie Geld und Sachspenden sammeln, dass auf einem riesigen Transparent auf dem Maidan „Ehre der Ukraine, Ehre den Helden“ steht – das alles kann Betrachter/innen befremden, die lange nach Kriegsende in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert sind. In Zeiten ungebrochenen Friedens Werte wie Antinationalismus und Antimilitarismus zu pflegen, ist leicht. In einem Land zu leben, in dem Krieg herrscht, ist schwer vorstellbar, wenn nicht unmöglich. In der Ukraine, die sich im Krieg befindet und auf eine komplexe Geschichte mit langen Episoden von  Fremdbestimmung zurückblickt, erscheinen vorschnelle Urteile vermessen.

„Die Vielsprachigkeit der Ukraine ist kein Defizit, sie ist unser Reichtum.“

Die Ukraine ist reich an einer Vielzahl von Sprachen: Offizielle Amtssprache ist Ukrainisch, in Regionen mit großen anderssprachigen Minderheiten haben auch andere Sprachen offiziellen Status, zum Beispiel Russisch. Muttersprache der meisten Menschen ist entweder Ukrainisch oder Russisch. Weitere, weniger weit verbreitete Sprachen sind zum Beispiel Belarussisch, Krimtatarisch, Polnisch und Ungarisch, Krimtschakisch oder Rumänisch. Die meisten Schilder, Plakate und Zeitungen in Kiew sind in ukrainischer oder russischer Sprache verfasst. Überall sind Gespräche auf beiden Sprachen zu hören.  

Ob jemand Russisch oder Ukrainisch spricht sagt nicht automatisch etwas darüber aus, ob die Person proukrainische oder prorussische Überzeugungen vertritt: In Kiew sprechen 95% der Menschen Russisch – hier allerdings jemanden zu finden, der die Separatist/innen unterstützt, ist schwer. Der 25-jährige Programmierer Oleg, der während der Maidan-Proteste zum politischen Aktivisten wurde, sagt: „In diesem Krieg geht es nicht um die Sprache.“

Für viele Ukrainer/innen ist die Wahl der Sprache egal: Sie fühlen sich in der einen oder der anderen Sprache gewandter, das hat jedoch keine politische Konnotation. Die 40-jährige Natalja sagt: „Meine Muttersprache ist Russisch. Ich kann problemlos in alle Teile des Landes fahren und dort Russisch sprechen. Auch wenn ich ganz im Westen der Ukraine reise, schaut mich niemand schief an, wenn ich dort Russisch spreche.“Die Soziologin Mascha freut sich über die Sprachenvielfalt: „Das ist doch praktisch, dass ich beide Sprachen beherrsche. Ukrainisch ist meine Muttersprache, und mit Russisch kann ich mich im gesamten postsowjetischen Raum verständigen!“.

Für andere ist die Wahl der Sprache ein wichtiges Thema: So gibt es Ukrainer/innen, die russischsprachig aufgewachsen sind, sich jedoch in den letzten Jahren entschlossen haben, nur noch Ukrainisch zu sprechen. Der 36-jährige Aleksandr erklärt das so: „Ich habe 35 Jahre nur Russisch gesprochen, es ist meine Muttersprache. Aber für die Einheit unseres Landes ist es wichtig, dass es eine einheitliche Sprache gibt. Unsere Mentalität muss sich schließlich auch durch unsere Sprache ausdrücken. Deswegen habe ich im letzten Jahr daran gearbeitet, mein Ukrainisch zu verbessern. Russisch spreche ich jetzt nur noch, wenn es nötig ist.“ Andere haben ihre russische Muttersprache vollständig abgelegt. Im Gespräch mit Ausländer/innen, die kein Ukrainisch beherrschen, holen sie lieber eine/n Übersetzer/in hinzu, als sich auf Russisch zu verständigen - oder wechseln auf eine weniger vertraute Sprache wie Englisch. Olesi ist ein Beispiel dafür: Er ist 24 Jahre alt und arbeitet nach seinem IT-Studium in Kiew für ein mittelständisches Unternehmen. In seiner Freizeit engagiert er sich im Rahmen einer politischen Initiative dafür, dass im ukrainischen Fernsehen keine russischen Filme mehr gezeigt werden dürfen. „Die russische Sprache hat zu großen Einfluss. Sie soll aus dem Alltag verschwinden“, sagt Olesi.

Der Blogger und Schriftsteller Andrii ist ukrainischer Muttersprachler. Er spricht und schreibt auf Ukrainisch, Russisch und Polnisch. Er sagt: „Wichtig ist doch, dass man die Ukraine, das ukrainische Projekt an sich ehrt und achtet. Dieses Projekt muss sich aber nicht durch eine dominierende Sprache realisieren, im Gegenteil: Das ukrainische Projekt ist ein inklusives Projekt und so soll es auch bleiben: Alle haben ein Recht auf ihre Sprache.“

Diesen Wunsch hat auch der 50-jährige Dichter Sascha. Seine Muttersprache ist Russisch, auch seine literarische Studienabschlussarbeit schrieb er auf Russisch. Als er die Arbeit 1991 einreichte, war die Ukraine gerade unabhängig geworden. Die Hochschule teilte den Studierenden mit, dass Arbeiten auf ukrainischer Sprache besser benotet werden würden als Arbeiten auf Russisch. Er entschied sich dagegen, seine Arbeit ins Ukrainische zu übersetzen – sie wurde um eine Note herabgesetzt. Heute sieht Sascha ähnliche Probleme: So förderten große Kulturinstitute oft nur ukrainische Autor/innen, die auch auf Ukrainisch publizieren. Russischsprachige Schriftsteller/innen und Dichter/innen aus der Ukraine würden vernachlässigt, so Sascha. Das sei auch ein Faktor, der zur aktuellen Situation im Osten des Landes beigetragen habe: „Auf der Krim und im Donbass gab es nie Förderprogramme für ukrainische Autoren, deren Muttersprache Russisch ist. Natürlich fühlen sich die Menschen dann weniger verbunden mit einer Regierung, die sich keine Mühe gibt, auch Sprachminderheiten zu inkludieren.“ Für eine solche Inklusion setzt sich Sascha heute selber ein. Er ist Herausgeber eines ukrainischen Kunst- und Literaturmagazins, das die Werke ukrainischer Autor/innen publiziert und fördert – auf russischer und ukrainischer Sprache. Er sagt: „Wichtig ist die Qualität der Werke und nicht, auf welcher Sprache sie verfasst sind. Die Vielsprachigkeit der Ukraine ist kein Defizit, sie ist unser Reichtum.“

 

Donata Hasselmann und Miriam Kruse interessieren sich für den postsowjetischen Raum und die Ukraine. Sie haben an der TU Dresden Internationale Beziehungen studiert, Russisch gelernt und ein Auslandssemester im sibirischen Irkutsk verbracht. Seit dem Beginn der Maidanproteste verfolgen sie die Entwicklungen in der Ukraine.  Unter dem Eindruck der viel beschriebenen gesellschaftlichen Spaltung entschieden die Stipendiatinnen, fünf verschiedene ukrainische Städte zu besuchen: Kiew, Kharkiv, Dnepropetrovsk, Odessa und Lviv. Sie übernachten privat und führen Gespräche mit ihren Gastgeber/innen, Aktivist/innen und vielen weiteren Ukrainer/innen. So bekommen sie Einblicke in einen Alltag, zu dem Jazzkonzerte und Fluchtgeschichten, Buchmessen und Patriotismus, Uni-Alltag und Preissteigerungen gehören. Mit einem Bericht von jeder Station teilen die Autorinnen in diesem Webdossier ihre Eindrücke.