Wiedereintritt ohne Grexit?

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An griechischen Geldautomaten gibt es lange Schlangen (Symbolbild)

Die EU verlangt von Griechenland, den Beitrittsprozess ein zweites Mal zu durchlaufen. Das ist für den Balkan sehr lehrreich.

Was derzeit in und mit Griechenland geschieht, wird in den Ländern des Balkans sehr aufmerksam verfolgt. Sie sind mit Griechenland als der immer noch stärksten Wirtschaft der Region nicht nur geographisch und wirtschaftlich eng verbunden. Sie nehmen den Konflikt zwischen den Griechen und der EU auch als eine Art erzwungenen zweiten Beitritts- und Transformationsprozess dieses Landes wahr, das bereits seit 1981 Mitglied der EU und seit 2001 Mitglied im gemeinsamen Währungsraum ist.

Besonders Serbien und Montenegro, die bereits mit den Beitrittsverhandlungen mit der EU begonnen haben oder den Beginn der Verhandlungen in naher Zukunft erwarten, haben immer wieder auf Bulgarien und Rumänien (Beitritt in die EU 2007) und Griechenland verwiesen, wenn es die Forderungen der EU nach einer tiefgreifenden Transformation zurückzuweisen oder zumindest zu relativieren galt.

Viele Mitglieder der EU, so wird z.B. in Serbien gern kolportiert, würden heute nicht in der Lage sein, die an Serbien gestellten Forderungen nach einem politischen, institutionellem und ökonomischen Wandel zu erfüllen. Für Rumänien und Bulgarien hat die EU mit dem Tag ihres Beitritts eingestanden, dass diese Länder nicht beitrittsreif, sprich: hinreichend rechtsstaatlich und gemäß den Prinzipien demokratischen Regierens transformiert waren. Mit dem Mechanism for Cooperation and Verification for Bulgaria and Rumania hat sie 2007 einen neuartigen Mechanismus zur Bewertung der Praxis von Regierung und Justizsystem nach den Maßstäben demokratischen Regierens eingeführt. Die Länder waren längst der EU beigetreten, aber sie erhielten dennoch weiterhin wie die Kandidatenländer des Balkans Berichte über die erzielten Fortschritte auf dem Weg zu einem Regieren nach den Grundsätzen demokratischen Regierens, die in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union genannt werden: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.

Nach sieben Jahren zeigen diese Berichte kaum oder gar keine Fortschritte. Deshalb hat die EU auch aufgehört, diese Berichte über fortlaufendes Scheitern an die große Glocke zu hängen. Kommissionspräsident Juncker versprach dem bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow sogar, gegen Ende dieser EU Legislaturperiode den Überwachungs- und Überprüfungsmechanismus auslaufen zu lassen. Borissow hatte sich über die Diskriminierung Bulgariens beschwert. Schließlich hätten auch andere Ländern der EU größere oder kleinere Probleme.

Abschied vom Grundversprechen

In Serbien und Montenegro wurde diese Botschaft mit Wohlgefallen empfangen. Denn sie bedeutet nichts weniger als den Abschied von dem Grundversprechen der EU-Kommission, dass die Erweiterung der EU nicht auf Kosten der Effektivität und der Grundwerte der Union erfolgt. Vor allem in Zeiten zunehmender Spannungen zwischen der EU und Russland und der damit verbundenen Rückkehr der Geostrategie hoffen autoritäre Regierungen klientelistischer Staaten wie Serbien und Montenegro mit ihrem Bekenntnis zur EU und ihrer geostrategischen Nähe zu den Krisengebieten in und um Europa auf einen Rabatt bei der Durchsetzung der Prinzipien demokratischen Regierens und demokratischer Grundfreiheiten.

Neben Rumänien und Bulgarien dient ihnen immer wieder auch Griechenland als Vorbild für ein EU-Mitglied, das seine geostrategische Lage an der Südostflanke des Mittelmeers optimal zu verkaufen verstanden hat. An diese Politik knüpften die jüngste Reisen des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras nach Russland an. Achtung: Griechenland könnte sich auch Russland zuwenden, war die Botschaft. Das hat ihm bei den kleineren Ländern der Eurozone, die Tsipras nie aufgesucht hat, die aber Griechenland mit für ihre Verhältnisse großen Anstrengungen solidarisch zur Seite stehen sollen, keine Freunde gemacht – von den baltischen Euroländern ganz zu schweigen, die diese Reisen in ihrer von Moskau bedrängten Lage als Provokation und Infragestellung europäischer Solidarität empfunden haben. In Serbien hingegen haben diese Reisen Freude ausgelöst, sieht sich das Land doch – EU-Aspirationen hin oder her – als engster Freund Russlands im Balkan. Wie Griechenland hofft es diese strategische Zweideutigkeit für einen guten Deal nutzen zu können.

Strategische Zweideutigkeit für einen guten Deal

Nach fünf Monaten haben die Verhandlungen zwischen der neuen griechischen Regierung und der EU (und dem Internationalen Währungsfonds) über die zu erfüllenden Bedingungen für neue Kredite eine dramatische Zuspitzung erfahren. Bis auf Frankreich, das in letzter Minute aus der Phalanx der Prinzipientreuen auszubrechen versucht, stellen sich die Euroländer geschlossen gegen ein Griechenland, das seit 1981 fortwährend und unübersehbar gegen so ziemlich alle europäischen Regeln verstoßen hat. Nach den vielen Volten, Finten und linken Haken der griechischen Regierung, deren Grundanliegen ja keineswegs von der Hand zu weisen sind und außerhalb Deutschlands auch viel Sympathien erfahren, scheinen sie entschlossen, es dieses Mal darauf ankommen zu lassen: das Referendum am Sonntag soll ein möglichst klares Votum Griechenlands für die Mitgliedschaft in EU und gemeinsamer Währung bringen und zugleich ein Votum für neue Verhandlungen mit einer seit langer Zeit endlich wieder prinzipienfest auftretenden EU.

Das erstaunt und irritiert im Balkan. Sollte die EU bei diesen Verhandlungen von ihren Mitgliedsländern geschlossen unterstützt werden, könnte ein positives griechisches Votum am Wochenende der Beginn eines neuen Beitritts- und tiefgreifenden Transformationsprozesses markieren, dem kein Grexit oder gar Austritt aus der EU vorausgehen muss. Leider sind beide Voraussetzungen alles andere als sicher: dass die Mitglieder der EU weiter geschlossen und prinzipienfest operieren (schon morgen könnte ja das eigene Land, siehe Frankreich, sich tiefgreifenden Änderungsforderungen ausgesetzt sehen) und dass das griechische Votum positiv ausfällt. Tsipras‘ Linkspopulismus appelliert ja nicht nur wie am Vorabend eines Krieges an Ehre und Würde, er instrumentalisiert auch den Frust der jungen Menschen und formt ihn zu antieuropäischen Ressentiments. Ich will mir lieber nicht ausmalen, was die autoritären Führer des Balkans von Griechenland alles lernen könnten, sollte sich am Wochenende die Mehrheit für „Nein“ zu EU und Euro, aber auch für Nein zu einer tiefgreifenden Reform des Landes mit Hilfe der EU entscheiden.