Das Wetter vor 25 Jahren. Die Grünen und die Wiedervereinigung

Mauerfall
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"Ich erinnere mich noch dunkel, dass ich mich am Morgen nach der Öffnung der Grenze von Bremen aus ins Auto warf und nach Berlin düste"

„Helmut Kohl war auf der Höhe der Zeit. Wir dagegen waren vom Fall der Mauer und der Dynamik der folgenden Ereignisse überfordert“, erinnert sich Ralf Fücks in seiner Eröffnungsrede zur Konferenz "Das Wetter vor 25 Jahren - Grüne Lehren aus der Wiedervereinigung".

Vor 26 Jahren fiel die Mauer. Ich war damals einer von drei Bundesvorstandssprechern (alias Vorsitzenden) der Grünen. Vorbereitet waren wir darauf nicht, obwohl sich die Protestbewegung gegen die SED-Herrschaft über Monate hinweg aufgebaut hatte.

Ich erinnere mich noch dunkel, dass ich mich am Morgen nach der Öffnung der Grenze von Bremen aus ins Auto warf und nach Berlin düste, um – ja was? Um dabei zu sein, wenn Geschichte gemacht wird, um einen persönlichen Eindruck zu bekommen, um Gespräche zu führen und bedeutsame Kommentare abzugeben? Vermutlich von allem etwas.

Mit politischen Gesprächen war es dann nicht weit her – alle waren auf den Beinen, und es war noch vor der Zeit des Mobiltelefons, also war kaum jemand zu erreichen. Wer politische Verantwortung in der Stadt trug, hatte ohnehin Wichtigeres zu tun. Und die Presse hatte auch nicht unbedingt auf mich gewartet. Aber das Bild der Mauerspechte und das Klopfen der Hämmer, mit denen sie Stücke aus dem „antifaschistischen Schutzwall“ schlugen, werde ich wohl nie vergessen.

Ein knappes Jahr später folgte dann die Wiedervereinigung. In den Bundestagswahlkampf 1990 gingen die Grünen (West) mit dem Slogan „Alle reden von Deutschland.  Wir reden vom Wetter…“. Da hatte Christian Ströbele mich schon als Bundesvorsitzender abgelöst. Aber ich hatte den Wahlkampf noch mit vorbereitet, und ich erinnere mich noch an eine bewegte Rede zum Klimawandel als Herausforderung des Jahrhunderts, die ich auf einem Parteitag im Juni 1990 gehalten habe. Wir waren also einerseits unserer Zeit voraus – und gleichzeitig lagen wir komplett daneben.

Helmut Kohl, den wir verachteten, war auf der Höhe der Zeit. Im Rückblick muss man sagen: Er erfasste den historischen Moment und handelte – nicht im Alleingang, sondern im Konzert mit Europa, den USA und der Sowjetunion. Wir dagegen waren vom Fall der Mauer und der Dynamik der folgenden Ereignisse überfordert. Die friedliche Revolution vor unserer Haustür faszinierte uns, aber weder kamen wir mit der Wendung Richtung deutsche Einheit zurecht noch erfassten wir die europäische Dimension dieses Aufbruchs.

Als Präsident Reagan zwei Jahre vor dem Kollaps der DDR an der Berliner Mauer ausrief: „Mr. Gorbatshev, tear down this wall!“ hielten ihn viele für einen unverbesserlichen Kalten Krieger. Weite Teile der politischen und intellektuellen Öffentlichkeit hatten sich mit der Zwei-Staaten-Realität und mit der Spaltung Europas arrangiert. Wer sie infrage stellte, wurde als Phantast abgetan oder in die revanchistische Ecke abgeschoben.

Solange in Leipzig noch gerufen wurde „Wir sind das Volk!“, fanden wir das gut. Die Zahl der SED-Fans bei den Grünen war doch sehr überschaubar. Als es dann aber hieß „Wir sind ein Volk!“ war das vielen nicht mehr geheuer.

Ausgerechnet die Grünen, die sich so gern als Partei der Veränderung sehen, wurden in dieser Umbruchsituation zu Verteidigern des Status Quo: Zwei deutsche Staaten sind besser als einer. Allenfalls Konföderation, aber keinesfalls Wiedervereinigung. Zumindest galt das für die große Mehrheit derjenigen, die auf Bundesebene aktiv waren.

Es gab auch andere Stimmen, zum Teil aus dem bürgerrechtlichen Spektrum der Grünen, zum Teil von Leuten, die schon in ihrer K-Gruppen-Zeit die Parole eines „vereinigten sozialistischen Deutschlands“ vertreten hatten (- nebenbei stand auch Rudi Dutschke, der noch an der Gründung der Grünen beteiligt war, dieser Idee nicht so fern).

Angeblich habe ich diese Leute damals als „Kyffhäuser-Fraktion“ in den Grünen bezeichnet. Es gibt Zeitgenossen, die haben ein besseres Gedächtnis als ich. Ich traue mir das aber zu. Die Sottise spiegelt unser damaliges Nicht-Verhältnis zur „nationalen Frage“ wider. Nation war etwas Überholtes, wenn nicht Reaktionäres, ein Relikt aus der Mottenkiste des 19. Jahrhunderts, dessen Exzesse eine tiefrote Blutspur in Europa hinterlassen hatten. Wir waren Europäer, weil wir Anti-Nationalisten waren.

Die deutsche Vereinigung konnten viele damals nur als restaurativen Akt denken, als Wiederherstellung von Großdeutschland. Das galt für Joschka Fischer, aber auch für Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder, für evangelische Kirchenfürsten und den DGB. Für einen Gutteil der Westlinken war die deutsche Teilung die gerechte Strafe für Nationalsozialismus und Krieg, und zugleich eine Vorkehrung gegen eine Wiederkehr der Gespenster der Vergangenheit. Wir misstrauten der demokratischen Läuterung der Deutschen zutiefst.

Außerdem mögen manche geahnt haben, dass die Wiedervereinigung das rot-grüne-Projekt, das Fischer und Lafontaine bereits mit Eifer vorbereiteten, um Jahre zurückwerfen würde. Die politische und kulturelle Dominanz der Toskana-Linken war in Gefahr.

Am Abend der ersten freien Volkskammerwahl im März 1990, als eine überwältigende Mehrheit faktisch für die Wiedervereinigung gestimmt hatte, saß ich zusammen mit Helmut Kohl und Oskar Lafontaine in der „Bonner Runde“ der ARD. Ich hatte mir einen Satz zurechtgelegt, den ich bei passender (oder unpassender) Gelegenheit anbrachte: Ich warf Kohl vor, er sei mit der CDU in der DDR einmarschiert „wie ein Elefant in den Porzellanladen“, statt der Demokratiebewegung in Ostdeutschland Raum und Zeit zu lassen, etwas Eigenes und etwas ganz Neues aufzubauen – eine Alternative zur Kälte des Kapitalismus und zur Nüchternheit der parlamentarischen Demokratie, auf die sich die Westgrünen nur zögerlich eingelassen hatten.

Wir segelten ja unter der Flagge der „Basisdemokratie“. Runde Tische fanden viele ein interessantes Experiment, ein Schritt Richtung „direkter Demokratie“.

Viele von uns hatten große Sympathien für die Bürgerbewegung in der DDR. Wir sahen sie als Verbündeten auf der Suche nach der Systemalternative, nach dem „Dritten Weg“ jenseits von Kapitalismus (West) und bürokratischen Sozialismus (Ost). Zugleich betrachteten wir sie als Vehikel, um unsere alternativen Ideen voranzubringen.

Wenn ich nicht irre, teilten viele Akteure des Neuen Forums und der anderen oppositionellen Gruppen diese Haltung. Man war gegen die SED-Diktatur, hatte aber starke Vorbehalte gegen Konsumgesellschaft, Parteiendemokratie, Konkurrenzkapitalismus etc. Man wollte raus aus dem Warschauer Pakt, aber keinesfalls rein in die NATO.

Reform der DDR - das war auch der vorherrschende Ton auf der berühmten Kundgebung vom 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, auf der Gregor Gysi und Markus Wolf neben Christa Wolf, Stefan Heym, Marianne Birthler und Jens Reich auftraten. Sie schlugen durchaus unterschiedliche Töne an, es gab Pfiffe gegen Markus Wolf, und es war sonnenklar, dass daraus kein politisches Bündnis werden würde. Die einen wollten die SED-Herrschaft retten, die anderen eine Alternative auf ostdeutschem Boden schaffen.

Als im Frühjahr 1990 die Stimmung Richtung Wiedervereinigung kippte, wurden die Dissidenten und Bürgerrechtler der ersten Stunde beiseite gedrängt. Mit der vereinigten Bundesrepublik wurden viele auch nach 1990 nicht warm. Einer der bittersten Sätze kam von Bärbel Bohley: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Schwer vorstellbar, dass sich Andrij Sacharow oder Adam Michnik jemals so geäußert hätten. Für sie war klar, dass es ohne Rechtsstaat keine Gerechtigkeit gibt.

Grüne West und Aktivisten Ost waren vereint in der Enttäuschung über den Ausgang der Volkskammer-Wahl. Der Unterschied war, dass die Bürgerrechtler im Osten – zumindest diejenigen, die sich nicht zurückzogen – nicht lange haderten, sondern sich mit viel Schwung in die gesamtdeutsche Politik stürzten, während die Grünen West in hohem Bogen aus dem Bundestag herausflogen.

Vertreter der Bürgerbewegung im Osten (allen voran Wolfgang Ullmann) gehörten auch zu den treibenden Kräften der Initiative für eine neue deutsche Verfassung, die für einige Monate Furore machte, bevor sie von der Macht des Faktischen überrollt wurde. Es war der letzte prominente Versuch, die Vereinigung nicht als Anschluss, sondern als Neubeginn zu inszenieren, auch wenn klar war, dass die alte Bundesrepublik und ihr Grundgesetz das Fundament des wiedervereinigten Deutschlands bilden würden.

Wer hätte damals gedacht, dass heute Angela Merkel ihre dritte Amtszeit als Bundeskanzlerin absolviert und mit Joachim Gauck ein bürgerbewegter ostdeutscher Pfarrer den Präsidenten der Republik stellt? Sie bilden die Spitze einer ganzen Reihe von Ostdeutschen, die in den letzten 25 Jahren einen unverwechselbaren Fußabdruck in der politischen Landschaft  hinterlassen haben. Viele kamen aus den Reihen von Bündnis 90 und haben sich bei den Grünen durchgeboxt, einige sind heute und morgen auf dieser Konferenz zu sehen und zu hören. Ich bin sehr gespannt, wie ihre Bilanz ausfällt.

Unsere Tagung hat eine doppelte Blickrichtung: Wir halten Rückschau auf eine bislang wenig beleuchtete Phase grüner Politik, und wir fragen nach Lehren für grüne Politik heute:

  • Welche Haltung haben die heutigen Grünen zur Nation (nicht als ethnische, sondern als politische Gemeinschaft) und zum Nationalstaat?
  • Was verbinden sie mit der politischen Kategorie des „Westens“?
  • Was ist geblieben von der Idee einer ökonomischen „Alternative“ oder einem „dritten Weg?

Es liegt auf der Hand, dass sich diese Fragen nicht erledigt haben, sondern heute so virulent sind wie vor 25 Jahren.