
„2011 ist meine Generation relativ unbedarft in den Protest-Winter gezogen. Nun wissen wir, dass mit diesem Regime weder zu spaßen noch zu reden ist.“ Maria Birger über eine Gesellschaft im Umbruch.
Im Sommer 2011 verbrachte ich einige Monate in Moskau und begab mich auf die Suche nach den Spuren der Dissidenten im heutigen Russland. Es war eine Zeit der Gespräche über Russlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Ich traf mich mit Interviewpartnern unterschiedlicher Institutionen und spazierte mit Freunden bis spät in die Nacht durch das Stadtzentrum, während wir darüber diskutierten, was unsere Generation zur sich entwickelnden politischen Kultur in Ost und West beitragen kann.
Niemand sprach von Emigration. Im Gegenteil. Meine Freunde gehören zur ersten „freien“ Generation, die zwar in der Sowjetunion das Licht der Welt erblickte, aber dann ohne „Eisernen Vorhang“ aufwuchs. Die meisten meiner Freunde haben Europa und Russland bereist. Kurz nachdem ich aus Moskau nach Deutschland zurückkehrte überschlugen sich im Winter 2011 die Ereignisse: Im Dezember drängten abertausende Menschen auf die Straßen, um gegen Wahlfälschung zu protestieren. Die Proteste setzten sich auch 2012 fort. Pussy Riot wurden verhaftet und die kleine NGO OVDinfo, ein Monitoring politischer Übergriffe von Polizei, Justiz und Sicherheitsdiensten, wurde aus der Taufe gehoben.
Inzwischen ist viel Wasser die Moskwa heruntergeflossen: Der Bolotnaja-Prozess begann. Der Singular ist allerdings irreführend: Der Bolotnaja-Prozess ist ein Sammelbegriff für einzeln geführte Prozesse gegen 27 Demonstranten, die während der Protestaktion „Marsch der Millionen“ am 6. Mai 2012 wegen mutmaßlicher Anstiftung zu Massenunruhen angeklagt wurden.
Im Juni 2012 unterzeichnete Wladimir Putin das sogenannte NGO-Agentengesetz, in dem festlegt wird, dass NGOs die vom Ausland finanziert oder bezuschusst werden und in Russland „politisch“ tätig sind, sich bei den Justizbehörden als „ausländische Agenten“ registrieren müssen. Was unter dem Begriff „politisch“ verstanden wird bleibt in Russland indes unklar. Anscheinend können alle möglichen Organisationen und Initiativen darunter subsumiert werden: Es folgte eine großangelegte Überprüfung von NGOs durch die Justiz- und Steuerbehörden, in deren Folge zahlreichen menschenrechtlich, ökologisch und sozial ausgerichteten NGOs und sogar soziologischen Forschungsinstituten vorgeworfen wurde, ihre vom Ausland unterstützte Arbeit habe „die Beeinflussung der öffentlichen Meinung und des politischen Entscheidungsprozesses in Russland“ zum Ziel.
Parallel dazu gerieten auch zahlreiche Journalisten unter Druck: 2014 wurde z.B. die Chefredaktion von lenta.ru ausgetauscht, was unter anderem zur Emigration profilierter junger Journalisten nach Riga führte, wo 2014 das Nachrichtenportal MEDUZA gegründet wurde. Krimannexion, Propagandakrieg, Wirtschaftskrise, Nemzov-Mord… Die Liste der Ereignisse, die Russland Schritt für Schritt verändern ist lang und der Sommer 2011 glich bei meinem letzten Besuch im September 2015 einem Traum aus einer längst vergangenen Zeit. In dem folgenden kurzen Reisebericht sind meine Beobachtungen und Eindrücke von der Stadt, den Fremden, den Freunden und den sich daraus ergebenden Gesprächen zusammengefasst. Die Wege durch Moskau sind auch Wege durch kulturpolitische Diskurse dieser Stadt, deren mäanderndem Verlauf ich im Herbst und Winter gefolgt bin.
September 2015: Einblicke in die Meinungsbildung
Meine Moskauer Wege folgen einem inneren Programm, das meine Schritte unmerklich und sicher durch die gigantische Stadt lenkt. Normalerweise lege ich die Strecken zwischen den einzelnen Dreh- und Angelpunkten zu Fuß, mit der Metro oder mit dem Trolleybus zurück. Der Tag wird durch die klackernden, steil in die Tiefe führenden Rolltreppen und den donnernden Ebbe-und-Flut-Rhythmus der aus den dunklen Tunneln hereinbrausenden blauen Metrowaggons bestimmt.
Beim Aussteigen wird man von einer Menschenwoge erfasst und ans Tageslicht gespült. Die ersten Vorboten der oberirdischen Welt sind aquariumartige Buden, wo Blumen, Strümpfe, Teigtaschen und diverse andere Dinge feilgeboten werden. Etwas gehetzt und benommen kommt man bei den Freunden, im Archiv, im Theater oder im Museum an. Es bleibt kaum Zeit, die einzelnen Viertel zu entdecken, die Straßenzüge zu bestaunen und das oberirdische Pendant des Metronetzes zu überblicken.
Seit einiger Zeit gibt es ein weiteres verlässliches, gut ausgebautes und wegen des schwachen Rubels günstiges Verkehrsmittel: das Taxi. Wenn ich die letzte Metro um 1.00 Uhr Nachts verpasst habe, nutze ich gerne diese Variante der Fortbewegung, die noch einen anderen und sehr entscheidenden Vorteil mit sich bringt: Im Taxi ist es, hat man den Fahrer erstmal dazu gebracht das dröhnende Radio abzustellen, ruhig genug, um sich zu unterhalten. Neben dem Überblick über das Straßennetz schenkt ein solches Gespräch dem Reisenden interessante Einblicke in die Meinungsbildung.
Der Tag meiner Ankunft bescherte mir einen in dieser Hinsicht sehr aufschlussreichen Gesprächspartner: Ein kleiner, hagerer Mann, dem Akzent nach vermutlich aus dem Kaukasus stammend, verstaute mein Gepäck in einem sauberen Wagen mit gigantischer Antenne, Ledersitzen und getönten Scheiben. Den zahlreichen Moskauer Staus ausweichend, fuhren wir eine gute Weile plauschend durch die Stadt: Er habe in diversen russischen Kriegsgebieten gekämpft und habe Soldaten ausgebildet. Nun wolle er nicht mehr zur Waffe greifen, müsse aber doch sagen, dass die fünfte Kolonne „umgebracht gehört“. Auf meine Nachfrage, wer denn die fünfte Kolonne sei, hieß es: "Naja, die Sobtschak und diese, die da protestieren gegen unseren Präsidenten!" Es stellte sich heraus, dass die Moderatorin des Internet TV Senders „Doschd“ und bekannte Putin-Kritikerin Ksenia Sobtschak und alle "die da protestieren" zersetzend auf Russland wirkten und somit gesellschaftlich unbrauchbar seien. Als das Taxi schließlich vor der Haustür hielt, war ich erleichtert.
Lassen sich solche Aussagen als Geschwätz abtun? Seit vergangenem September habe ich eine zunehmende Militarisierung der Sprache beobachtet. Ein neues, mir bislang unbekanntes Gefühl stieg in mir auf. Das Gefühl einer nicht fassbaren, amorphen Bedrohung, die in der Luft zu hängen scheint und zu deren exekutiven Organen auch ein Taxifahrer gehören könnte.
Sozialisation in Zeiten der Propaganda
Am Tag nach meiner Ankunft begannen auf meinem inneren Stadtplan immer mehr Orte aufzuleuchten, die es zu besuchen gilt: Die meisten Routen liegen innerhalb des Garten- und des Metrorings. Dieses Mal führte mich die erste Strecke zur Metrostation „Park des Sieges". Nachdem ich die lange Halle aus braun-rotem Marmor durchquert hatte, bemerkte ich nahe dem Ausgang ein neues dekoratives Element: Unter dem aufgemalten orange-schwarzen St. Georgsband, dem Tanker und den Ehrenabzeichen stand in großen schwarzen Lettern: "Auf nach Berlin!"
Meine Freunde wohnen in unmittelbarer Nähe zur Metrostation und wir kamen über den "Park des Sieges" ins Gespräch: Kriegstreiber-Rhetorik liegt in der Luft und materialisiert sich auf unterschiedliche Art und Weise in der Stadt. So zum Beispiel auf dem im "Park des Sieges" angelegten Spielplatz. Dort wurde aus Anlass des 8. Mai eine Hüpfburg in Form eines Panzers aufgebaut. Diese Hüpfburg sollte den Patriotismus im Kinde fördern. Auch andere Attraktionen waren konzipiert, um die Kleinsten auf den „Kriegsgeschmack“ zu bringen und patriotisch zu stimmen. Die Kombination dieser beiden Begriffe - eine Variation auf das Thema des Taxifahrers.
Nun führt der Schulweg der Kinder meiner Freunde täglich durch diesen Park und so entbrannte unter den Erwachsenen die Frage, wie Kinder in diesem Fall und grundsätzlich in solchen Situationen vor derlei staatlich verordneter Bespaßung zu schützen seien. Kindererziehung in Moskau war niemals einfach. Die Gefahren der Großstadt sowie die verschmutzte Umwelt lassen nur wenig Freiräume zum Toben und Spielen. In allen Metropolen sind Kinder sehr auf die Eltern angewiesen. Nun stellt sich eine alte Frage auf’s Neue: Wie entzieht man Kinder der Propaganda, die von allen Seiten auf sie einströmt?
Es ist den Eltern überlassen, ob sie den familiären Raum als subversiven Freiraum gestalten, indem sie nicht nur das kulturelle Angebot für die Kinder gezielt auswählen, sondern auch einen Blick darauf haben, in welchen Schulen möglichst wenig Propaganda auf die Kinder durch Schulbücher, Geschichtsunterricht, Lehrer und Mitschüler einströmt.
Neben zahlreichen Theater-, Kunst- und Sportvereinen sowie dem von MEMORIAL gestalteten Geschichtswettbewerb, gibt es seit 2013 ein weiteres sehr beliebtes Projekt: Die Kinderuniversität. Von der renommierten Higher School of Economics mitgetragen, richtet sich das Angebot an "Studenten" zwischen sechs und dreizehn Jahren, die sich für umgerechnet ca. 30 Euro pro Semester einschreiben können. Das Kursangebot umfasst alle Fächer und findet jeden Sonntag im Semester statt. Koryphäen des jeweiligen Faches halten Vorlesungen und bieten Workshops an. Inzwischen gibt es über 1.000 junge Studenten. Das Goetheinstitut und das Auswärtige Amt haben dieses Jahr in Anlehnung an das Projekt einen eigenen Kinderuniversitätstag in Moskau durchgeführt. Außerdem wurde das Projekt inzwischen nach St. Petersburg exportiert.
Familien sind flexibler als Institutionen
Zu den leitenden Köpfen dieses Projektes gehört unter anderen eine Freundin. Ihre Familie ist ein gutes Beispiel wie die der(n) dissidentischen Gesinnung(en) nahe Familien bis in die heutige Zeit weiter wirken und welche subversive Kraft Moskauer Familien in sich tragen können: Sie gehört, wie bereits erwähnt, zu den Organisatoren der Kinderuniversität. Diese ist ein "Projekt", wie man in Moskau sagt, das für die staatliche Propaganda nicht permeabel ist.
Ihre ältere Schwester, die Andrej-Sacharov- und Marion-Dönhoff-Stipendiatin, arbeitet bei der Geschichts- und Menschenrechtsorganisation MEMORIAL. Sie leitet dort unter anderem das Projekt "Topografie des Terrors". Ihre jüngere Schwester lehrt tschechische Sprache und Literatur an der Russischen Staatlichen Humanitären Universität (RGGU) und ist mit dem ehemaligen ESQUIRE Chefredakteur verheiratet. Er verlor seine Stelle als Chefredakteur im September 2014, nachdem er ein Heft unter dem Titel: "Fußball, Zensur, Diskothek, Schizophrenie, KRIM" herausgegeben hat. Damit gehörte er zu den ersten, die der staatlich gelenkte Kahlschlag in den Medien nach der Annexion der Krim traf.
Eine ganze Generation junger und fähiger Journalisten verschwand 2014 aus den Redaktionen und den leitenden Positionen in die Arbeitslosigkeit oder ins Ausland. Einige von ihnen sind emigriert und arbeiten inzwischen in Riga unter der Leitung der renommierten Journalistin Galina Timchenko bei der Nachrichtenplattform „MEDUZA“.
Blickt man auf die Elterngeneration, dann entsteht folgendes Bild: Die Eltern versteckten eine der Varianten von Solschenizyns "Archipel Gulag". Die Taufpatin der Mutter war die Witwe des im Gulag umgekommenen Dichters Ossip Mandelschtam. Die Mutter, eine schlanke Frau mit einem schüchternen und zugleich sehr energischen Ausdruck in den Augen, arbeitet mit straffälligen Jugendlichen.
Derartige Familien- und Freundesnetzwerke ziehen sich durch ganz Moskau und St. Petersburg. Ihre Motivation lässt sich mit Bölls Kredo beschreiben: Sie wollen „eine bewohnbare Sprache in einem bewohnbaren Land schaffen“. Sie haben die Sowjetunion überstanden, da Familien flexibler sind als Institutionen. Ihre Mitglieder engagieren sich vor allem in NGOs und in sogenannten "Projekten", womit die Selbstständigkeit und die Distanz zu staatlich verordneten Ideen ausgedrückt wird.
Vor dem Inkrafttreten des „Agentengesetzes“ und dem Anziehen der Daumenschrauben in sehr vielen Lebensbereichen hatte es keinen Sinn gemacht den nun schon etwas verstaubten Begriff vom „anderen Russland“ aus der sowjetischen Mottenkiste zu holen. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion bestand die, wenn auch nicht immer einfache Möglichkeit der Partizipation an gesellschaftlichen und teilweise sogar an politischen Prozessen. Seit aber viele unabhängige NGOs um das Überleben kämpfen (müssen) und viele aus der nachwachsenden, „nicht-konformen“ Generation aus den medialen Berufen bzw. aus den NGOs entlassen worden sind, muss man wohl wieder neu über diesen Begriff nachdenken.
Das „andere Russland“ und die verstummende Gesellschaft
Für Moskau und vielleicht sogar für ganz Russland lässt sich etwas provokant formulieren: Familien und Freundeskreise und nicht etwa Institutionen bilden die entscheidende kulturpolitische Konstante. Letztere werden entweder an ihrer Arbeit gehindert oder sie stehen unter dem Verdacht des unredlichen Handelns oder gar der Korruption. In den Familien werden bewusst und unbewusst Verhaltensmuster, Vorbilder und Traditionen von Generation zu Generation bewahrt und weitergegeben. Die Wohnsituation begünstigt diese Entwicklung: Während des Studiums wohnen die meisten Studenten zuhause. Die wenigsten haben die Möglichkeit zu reisen: 82 Prozent aller russischen Bürger besitzen keinen Reisepass. Auch wenn die Fremdsprachenkenntnisse vorhanden sind, die kulturelle Kompetenz ist es nicht. Das eingedenk, verwundert die hohe Zustimmung für Putin, beziehungsweise die inzwischen weit verbreitet Angst, im öffentlichen Raum etwas Falsches zu sagen, eigentlich nicht.
Die Politologin Ekaterina Schulman hat bereits 2014 darauf hingewiesen, dass Umfragen in Russland schon länger nicht mehr dazu beitragen, ein klares Meinungsbild widerzuspiegeln, da die Menschen nicht mehr öffentlich Kritik üben wollen (oder zu üben wagen), sondern sich bei öffentlichen Äußerungen dem politischen Diskurs anpassen. In der Sowjetunion sowie in Putins Russland, wobei ich Putin nicht als Person, sondern als Machtsystem verstanden wissen möchte, gab und gibt es Themen, die nur am Küchentisch und im Flüsterton besprochen werden. Diese sprachlichen Tabu-Felder konnten sich in der Sowjetunion im Bereich der Kunst, Literatur, der Innen- wie der Außenpolitik befinden. Betrat man als Privatperson, als Literat/in, Künstler/in, Physiker/in oder Journalist/in ein durch die offizielle Propaganda gekennzeichnetes Terrain, konnte diese Grenzverletzung mit dem Ausschluss aus dem öffentlichen Leben, dem Verlust der Heimat oder dem Leben geahndet werden. Die soziale Intuition für diese verminten Landschaften, die Angst vor dem Übertritt lässt sich in Moskau bis zum heutigen Tage sehr gut beobachten und belegen: Jeder weiß heute, dass man über die Ukraine nur im von der Propaganda vorgeschriebenen Vokabular sprechen sollte.
Erst letzten September erlebte ich eine äußerst unerfreuliche Situation, als wir zusammen mit zwei Freunden von zwei pöbelnden Typen als Vaterlandsverräter beschimpft aus einem Café vertrieben wurden, weil wir uns vorsichtig und leise über Politik unterhielten. Auf den Schulhöfen erlebten meine Freunde nicht selten, dass Klassenkameraden ihrer Kinder einander folgendermaßen beschimpften: „Du bist der kriegstreibende Amerikaner!“ „Nein, Du!“. Rentner hörte ich den amerikanischen Präsidenten auch als „Schwarzarsch“ bezeichnen. Diese Diffamierung ist nicht neu: Zuvor wurden unter anderem Migranten aus dem Kaukasus mit diesem Wort herabgesetzt.
Auf der Straße fordern Menschen einander auf, zu flüstern, oder dieses Thema nicht zu tangieren. Auch im Ausland ist diese Sprachstrategie angekommen: Bei den Kiewer Gesprächen am 11. Juni 2015 in Köln fragte Fritz Pleitgen die Teilnehmerin Tatiana Parkhalina (stellv. Direktorin für Wissenschaft am INION RAN, Leiterin des Zentrums für wissenschaftliche Forschung und Informationen von globalen und regionalen Problemen, Leiterin des Zentrums für Europäische Sicherheitspolitik, Präsidentin der Vereinigung für Euro-Atlantische Zusammenarbeit, Moskau), ob sie die Annexion der Krim für völkerrechtswidrig halte. Worauf sie antwortet: „Herr Pleitgen, wenn ich diese Frage öffentlich ehrlich beantworte, kann ich davon ausgehen, dass ich nicht mehr in meine Heimat zurückkehren kann. Bitte stellen Sie nicht solche Fragen.“
Auch bei den 20. Deutsch-Russischen Herbstgesprächen in Berlin (20. und 21. November 2016) wurde die Angst, öffentlich zu sprechen thematisiert: Der Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa, Manfred Sapper, und die Europa-Expertin der Körber-Stiftung/Hamburg, Gabriele Woidelko, bestätigten, dass es immer schwieriger wird, russische Partner/innen zu öffentlichen Stellungnahmen zu bewegen, ob in einem Artikel oder bei einer Konferenz. Angesichts dieser Entwicklung sollten die westlichen Partner/innen reagieren und mehr geschlossene Gesprächskreise schaffen, damit ein offener Austausch mit den russischen Partner/innen weiterhin möglich bleibt. Vor Kiew war z.B. Tschetschenien ein solches außenpolitisches no-go Thema – wofür Anna Politkovskaja mit dem Leben bezahlte.
Hinzu kommt, dass es in Moskau immer weniger öffentliche Orte gibt, an denen man sich in Ruhe austauschen kann. Die audio-visuelle Beschallung in den Moskauer Restaurants, Cafés und Kneipen ist so hoch, dass man, genauso wie in der Metro, sein eigenes Wort nicht versteht. Wie so oft in der russischen Geschichte bleibt der Rückzug in den privaten Raum der Wohnungen und Datschen ein wichtiger Ausweg. Wohnungen sind durch ihre Ausstattung und die dort zusammentreffenden Menschen Orte lebendiger und gelebter Traditionen des anderen Russlands: Hier findet man statt Propaganda-Geschichten Portraits von Mandelschtam und Pasternak, Familientraditionen, die noch vor der Revolution 1917 begannen und sich in der Art die Wohnung einzurichten und über russische Geschichte nachzudenken niederschlagen.
Sacharow - nur ein Physiker?
Das Zusammenleben der Generationen kann sich sehr negativ auswirken, indem der Angstvirus übertragen wird und damit die Systemkonformität besiegelt, aber auch positiv, indem es die Erinnerung an und die Tradition der Freigeister am Leben erhält. Während also z.B. die einzige GULAG-Gedenkstätte Russland in Perm in einen Erinnerungsort an die Lageraufseher umgemodelt wird, bleiben in den Wohnungen die Bücher, Fotos und Erinnerungen erhalten. Sobald ein besseres politisches Klima eintritt kann auch die Öffentlichkeit sich wandeln. Die subversiven Orte, zu denen unter anderem auch das renommierte Theater.doc gehört, sind ähnlich dem Metronetz über die gesamte Stadt und die Vorstädte verzweigt, aber ebenfalls ähnlich den Metrolinien, nicht alle miteinander verbunden.
Während in der jungen Generation z.B. Chodorkovskij, die Mädels von „Pussy Riot“ oder auch die Verhafteten des „Bolotnaja“-Platzes in Ehren gehalten werden, ist aus der älteren Generation höchstens Sacharow bekannt. Nicht jeder der jungen Aktivisten kennt die ältere Generation der Dissidenten, die ich dem Puls des Metronetzes folgend besuche. Viele von ihnen sind rehabilitiert und zum Teil sogar mit dem Staatspreis geehrt worden. Diese Auszeichnung geht auf den „Stalinpreis“ zurück, der ab 1966 in den „Staatspreis der UdSSR“ unbenannt wurde und ab 1992 „Staatspreis der Russischen Föderation“ heißt. Er wird vom Präsidenten der Russischen Föderation verliehen und inkorporiert den Träger der Auszeichnung in den offiziellen kulturpolitischen Diskurs. So wurde zum Beispiel der einstmals verfemte und in die Emigration gezwungene Schriftsteller Wladimir Wojnowitsch (*1932) mit dem Staatspreis ausgezeichnet.
Mit oder ohne Staatspreis — die Dissidenten von früher können in Ruhe in Russland leben und arbeiten. Die Witwe des Schriftstellers und Dissidenten Julij Daniel, Irina Uvarova, kann in Ruhe ihre Bücher schreiben und publizieren. Die Krux mit dem russischen Buchmarkt ist allerdings diese: Es gibt, wie dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse sehr gut ersichtlich, immer weniger unabhängige Verlage. Sehr viele wichtige Bücher werden in relativ kleinen Auflagen gedruckt. Zwar gibt es zentrale Stellen, wie die Lenin Bibliothek, wo jedes auf Russisch publizierte Buch gesammelt wird, es aber keine Großlisten wie Libri oder VLB gibt. Ist eine kleine Auflage einmal vergriffen, dann bekommt man den Titel so schnell nicht wieder und es gibt nicht genug Möglichkeiten (da es nicht genug unabhängige landesweite Medien gibt) es einer breiten Öffentlichkeit in und außerhalb der großen Städte zugänglich zu machen.
So ist der Buchmarkt relativ ungefährlich für den Machtapparat, da aus ihm kein größerer öffentlicher Diskurs entspringt. Damit geht die Gefahr einher, dass die Leistungen der älteren dissidentischen Generation nivelliert werden, da es zwar Bücher über sie gibt, aber keinen gesellschaftlich bedeutenden Oppositions-Diskurs, was sich ganz deutlich am Beispiel von Andrej Sacharow und Wladimir Wojnowitsch zeigt: Durch das Moskauer Zentrum verläuft der Sacharow-Prospekt und unter dem Straßenschild ist eine Plakette angebracht, die auf die Leistungen des Physikers hinweist. Dort ist mit keinem Wort seine Tätigkeit als Menschenrechtler erwähnt. Das Sacharow-Zentrum hält dieses Erbe hoch, wird allerdings vom Staat unter Druck gesetzt. Der Schriftsteller Wladimir Wojnowitsch ist inzwischen Träger des Staatspreises, aber seine Tätigkeit als Menschenrechtler und Dissident findet kaum noch öffentliche Erwähnung.
Noch im Winter 2011 wandte sich der renommierte und inzwischen verstorbene Schauspieler Igor Kwascha (1933-2012) per Videobotschaft an die Demonstranten, die gegen die Wahlfälschung bei den Parlamentswahlen auf den winterlichen Straßen Moskaus Position bezogen. Er sei schwer krank und könnte darum nicht mit ihnen auf die Straße gehen. Aber er unterstütze die Protestierenden aus ganzem Herzen und hoffe, dass die Machthaber aufhören, das Volk wie Vieh zu behandeln. Auch wenn er keineswegs zu den Dissidenten zählte, unterstützte er viele durch sein mutiges Handeln, verschaffte in Ungnade gefallenen Künstlern, wie Boris Birger, und Schriftstellern, wie Wladimir Wojnowitsch, eine Beschäftigung am Theater „Sovremennik“, was so viel wie „Der Zeitgenosse“ bedeutet. Die Reihen der ehemaligen Dissidenten beginnen sich zu lichten.
Auf Krisen nicht vorbereitet
In Russland hat sich eine Machtvertikale formiert, die durch Propaganda und neue Gesetze zusammengehalten wird. Während ich in Moskau zur nächsten Metrostation eile, steigt mit der Geruch von Alkohol und ungewaschenen Menschen in die Nase. Und ich merke: Die Propaganda ist nicht nur politische Indoktrination, sie ist auch der Ausdruck sich drastisch verschlechternder Lebensbedingungen und der Depression.
2011 ist meine Generation relativ unbedarft in den Protest-Winter gezogen. Nun wissen wir, dass mit diesem Regime weder zu spaßen noch zu reden ist. Während das deutsche Rechtssystem dem Einzelnen und der Gesellschaft ein hohes Maß an Rechtssicherheit bietet, ist das russische Recht eine Art Drache, der mal mit Flammen droht, mal mit Erstickung. Unsere Generation, und das gilt für Russland und für Westeuropa ist auf die sich anbahnenden innenpolitischen und außenpolitischen Krisen nicht vorbereitet: Im Frieden und Wohlstand herangewachsen, stehen wir mit vor Schreck geweiteten Augen vor den Anschlägen in Paris, dem Erstarken der rechten Kräfte, dem Abschuss der russischen Maschine über Syrien/Türkei. Der Krieg ist ein amorphes vielgestaltiges Monster, das uns hypnotisiert.
In den 2000er Jahren ist in Russland eine Generation herangewachsen, die ein recht stabiles, durch wirtschaftlichen Aufschwung geprägtes Russland kennengelernt hat. Jetzt werden sie durch zahlreiche Krisen gleichzeitig geprüft. In der russischen fragmentierten Gesellschaft gibt es keine politische Oppositionskultur. Aus Angst, Unwissen oder weil man mit dem Überleben beschäftigt ist, arrangiert man sich mit dem Staat oder man leistet Widerstand. Widerstand schließt aber letzten Endes ein Gespräch mit den Machthabern aus und ist auf diese Weise nicht geeignet, um politische Opposition zu formieren. Kritische Stimmen sind wichtig und müssen auch in Zukunft gefördert und unterstützt werden. Diese Kreise können Wissen bewahren, aber keine handlungsfähigen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Institutionen ersetzen.