
Die russische Regierung setzt NGOs weiter zu. Wie geht es den Aktivist/innen im Land und wie verändert sich durch den wachsenden Druck ihre Arbeit? Die Heinrich-Böll-Stiftung lud zur Diskussion.
Auch wenn der Druck auf die Zivilgesellschaft seit 2012 erheblich gestiegen ist, engagieren sich in Russland nach wie vor viele Aktivist/innen. Sie suchen nach alternativen Wegen, das Recht der Bürger auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu wahren, so der Tenor einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung am 26. Januar in Berlin, die gemeinsam mit dem Verein "Solidarität mit der russischen Bürgergesellschaft" und dem "Prague Civil Society Centre" organsisiert wurde.
Die Gesetze über "ausländische Agenten" und "unerwünschte ausländische Organisationen" schränken nicht nur die Kooperationsmöglichkeiten mit internationalen und ausländischen Organisationen erheblich ein. Sie führen auch zu einer Stigmatisierung und damit Isolation zivilgesellschaftlicher Akteure in der russischen Gesellschaft.
Derzeit führt die Webseite article20.org, die unter anderem von Alexei Kozlov vom Verein "Solidarität mit der russischen Bürgergesellschaft" betreut wird, 114 russische Organisationen auf, die das Justizministerium als "ausländische Agenten" registriert hat. Drei wurden seit Beginn des Jahres neu hinzugefügt.
Elena Zhemkova, eine der Direktorinnen von "Memorial International", berichtet, aus dem Netzwerk der 40 Memorial-Organisationen im ganzen Land seien bereits fünf Gruppen auf die Liste gesetzt worden. Es seien die stärksten Organisationen mit den besten Resultaten, die für die kleineren Gruppen ein Vorbild gewesen seien.
Es ist teuer, ein "ausländischer Agent" zu sein
Auch das "Zentrum für unabhängige Sozialforschung" in St. Petersburg steht auf der Liste. Dabei zähle die Wissenschaft per Gesetz nicht zu den politischen Tätigkeitsfeldern und sei doch aus Prinzip international ausgerichtet, sagte der Direktor des Zentrums, Viktor Voronkov. Doch der Staat wolle die Forschung kontrollieren.
"Ausländischer Agent" zu sein, sei vor allem eine teure Angelegenheit, beschrieb Voronkov eine der Folgen für die betroffenen Organisationen. Es würden Strafgelder gegen sie erhoben, wenn sie nicht selbst bei jeder namentlichen Erwähnung ihrer Tätigkeit oder ihrer Mitglieder, zum Beispiel im Internet, bei Publikationen, in Rednerlisten etc. auf den inkriminierenden Status hinweise.
Hinzu kämen häufige Besuche der Brandschutz-Behörden, die Forderungen nach Renovierung von Büroräumen stellten und Strafzahlungen im Falle angeblich nicht fristgerecht erfolgter Erfüllung von Auflagen forderten.
Außerdem sei das Erheben von Forschungsdaten schwierig geworden, so Voronkov. Beamte würden keine Genehmigungen mehr für Untersuchungen in Schulen oder Krankenhäusern erteilen. Unternehmen zögen sich aus der Kooperation zurück, ebenso Stiftungen, die befürchteten, selbst zu "ausländischen Agenten" erklärt zu werden.
In der Bevölkerung seien die Reaktionen geteilt, berichtet Voronkov. Es sei viel Geld zur Bezahlung der Strafen gespendet worden. Ähnliches berichtet Elena Zhemkova. Stolz zeigte sie sich darüber, dass Memorial im vergangenen Jahr ein Buch über die polnischen Opfer von Katyn publizieren konnte, und zwar finanziert mit Spenden von 700 Bürgern. 200 Bibliotheken im Land hätten sich das Werk schicken lassen, was für den Mut der Bibliothekare spreche.
Allerdings sei angesichts der Wirtschaftskrise mit weniger finanzieller Unterstützung aus der Bevölkerung zu rechnen, sagte Zhemkova. Das sei nur verständlich, wenn Eltern ihren Kindern keine Milch mehr kaufen könnten. Zhemkova warnte zugleich, dass angesichts der Wirtschaftslage die Aggressivität unter den Menschen steige. Mit offenen Diskussionen könne sie abgebaut werden. Doch stattdessen würden die Menschen voneinander abgeschnitten.
Drei Jahre Haft für friedlichen Protest
Zhemkova verwies darauf, dass seit 2012 eine Reihe weiterer Gesetzesänderungen vorgenommen wurde. Betroffen ist zum Beispiel die Versammlungsfreiheit. Kozlov führte als ein Beispiel den Fall von Ildar Dadin an. Für vier friedliche Protestaktionen wurde der Aktivist kürzlich zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Das Urteil wurde erstmals auf Grundlage einer seit 2014 geltenden Gesetzesänderung gefällt, nach der Ordnungsverstöße gegen das Demonstrationsrecht nun als Straftat geahndet werden können. Derzeit liefen noch zwei weitere Fälle wegen angeblicher Anstiftung zu Massenunruhen, einer der Beschuldigten sei in die Ukraine geflohen.
Hinzu kommt, dass Medien nur noch zu 20 Prozent in den Händen ausländischer Eigner sein dürfen. Theater, Bibliotheken und andere Kultureinrichtungen wiederum stünden unter Druck, sich dem Patriotismus zu verschreiben, so Zhemkova. Für ausländische Institutionen wurde es wegen des Gesetzes über "unerwünschte ausländische Organisationen" schwieriger, ihre Arbeit fortzuführen: Vier internationale Organisationen wurden bislang als unerwünscht auf russischem Territorium deklariert, es handelt sich um "National Endowment for Democracy", die "Open Society Foundation" und "Assistence Foundation" sowie die "U.S. Russia Foundation for Economic Advancement and the Rule of Law".
Pavel Chikov, Jurist und Leiter der internationalen Menschenrechtsgruppe Agora in Kazan, beobachtet zudem, dass viele Gesetze und Maßnahmen in Länder exportiert werden, die Russland als seine exklusive Einflusssphäre deklariert hat, ob es um die Internet-Freiheit, die Anwendung von Anti-Extremismus-Gesetzen auf Aktivist/innen der Zivilgesellschaft oder den Umgang mit NGOs geht. Entsprechend seien er und seine Mitstreiter viel in diesen Ländern unterwegs, um auch dort Rat zu geben.
Dem Druck standhalten
Chikov erwartet Verbesserungen in Russland erst bei einem Regime-Wechsel. Doch dieser sei derzeit unabsehbar. Die Aufgabe der Zivilgesellschaft bestehe jetzt darin zu überleben. Er selbst habe gelernt, mit dem Druck zu leben - morgendlichen Hausdurchsuchungen und der Möglichkeit, zu ein bis zwei Jahren Gefängnis verurteilt zu werden. Wenn man sich an solche Gedanken gewöhnt habe, falle die Arbeit leichter, sagte Chikov.
Trotz des Drucks kämen immer noch neue Aktivist/innen hinzu oder alte kehrten mit neuen Ideen zurück, so Chikov. Auch erwähnte er als einen positiven Aspekt, dass Aktivist/innen heutzutage mit einem Anwalt zu Vorladungen bei der Polizei erscheinen. Die Willkür werde dadurch eingeschränkt.
Auch Zhemkova kann der Lage in Russland etwas Positives abgewinnen. Je stärker Organisationen wie Memorial in Bedrängnis gerieten, desto mehr Respekt und auch Solidarität bringe ihnen die Bevölkerung entgegen. Die Aktivisten würden ihre Arbeit mit großer Würde fortsetzen. Einige arbeiten einfach in ihrer Organisation weiter, andere wehren sich vor Gericht gegen den Status des "ausländischen Agenten", wieder andere schließen ihre Organisation und bauen neue auf.
Als ein Schlupfloch wird die Gründung von kommerziellen Organisationen gesehen. Doch Chikov sagte, es sei keine auf Dauer sichere Arbeit mehr möglich. Auch auf Unternehmen laste Druck und die Methoden gegen sie seien ähnlich.
Keine Alternative sahen Chikov und Voronkov in der Annahme von Geldern des russischen Staates anstatt ausländischer Finanzierung. Zwar habe seine Organisation Zuwendungen aus dem Fonds des Präsidenten unter anderem für die Ausbildung von Rechtsanwälten zur Verteidigung der Menschenrechte vor Gericht erhalten, so Chikov. Doch ziehe die Annahme solcher Gelder Überprüfungen nach sich, es könne zu Klagen wegen Diebstahls oder Veruntreuung kommen.
Zhemkova betonte, dass eine noch stärkere Professionalisierung der Buchhalter, Manager, Wirtschaftsprüfer und Berater im Bereich der zivilgesellschaftlichen Organisationen notwendig ist, um auf den juristischen und bürokratischen Druck der Staatsorgane reagieren zu können. Auch bräuchten die Mitarbeiter existenzielle Sicherheiten, denn wenn sie aus NGOs ausschieden, hätten sie zumeist Schwierigkeiten, einen Job in der Wirtschaft zu finden.
Ausweg: Emigration
Eine wachsende Zahl an Organisationen sieht einen Ausweg nur noch im Ausland. Auch Voronkov Institut hat bereits Dependancen in Berlin und Helsinki gegründet. Zwischen 5000 und 7000 Aktivist/innen hätten Russland auf verschiedenen Wegen im vergangenen Jahr bereits verlassen, berichtet Kozlov. Manche gingen vorbereitet, andere müssten sehr kurzfristig gehen. Die Tendenz zur Emigration habe zugenommen, seit der Staat nicht mehr überwiegend zivilrechtlich, sondern vermehrt strafrechtlich gegen Aktivisten der Zivilgesellschaft vorgehe und Haft drohe. Diese Emigranten brauchen häufig Unterstützung, um sich ein neues Leben aufbauen zu können.
Doch viele Aktivist/innen wollen im Land bleiben und sehen auch nicht ein, warum sie auf internationale Kooperation und Finanzierung verzichten sollten. Schließlich gebe es keine Grenzen für Menschenrechte, so Zhemkova.
Sie bitten nur um Flexibilität der Kooperationspartner angesichts der unvorhersagbaren Entwicklung in Russland. Auch helfe Solidarität und Aufmerksamkeit aus dem Ausland, sagte Zhemkova. Es sei gerade für die Aktivisten in den Regionen motivierend, wenn sie zu Besuchen und Veranstaltungen eingeladen würden. So betont Zhemkova: "Die Tür nach Europa muss offen bleiben" und eine Selbstabschottung Russlands verhindert werden.