
Das deutsch-französische Tandem ist derzeit nicht in der Verfassung, die Herausforderungen in Europa beherzt anzupacken. Das schlägt auf die Handlungsfähigkeit der EU als Ganzes durch.
Frankreich und Deutschland – das war über weite Strecken der europäischen Geschichte eine schicksalhafte Beziehung. Sie stand im Zentrum einer Serie von Kriegen, die Millionen Tote auf den Schlachtfeldern hinterließen und eine bittere Feindschaft besiegelten. Daran gemessen, war der deutsch-französische Neubeginn nach dem zweiten Weltkrieg beinahe ein Wunder. Die Verständigung zwischen Paris und Bonn war Voraussetzung und Motor der europäischen Einigung, die sich aus den Anfängen der europäischen Montanunion entwickelte.
Bis heute gilt als ausgemacht, dass die französisch-deutsche Zusammenarbeit die Zentralachse der europäischen Union bildet. Wenn sich Franzosen und Deutschen einig sind, kommen die Dinge voran, wenn sie über Kreuz liegen, stottert der Integrationsmotor.
Schaut man auf die letzten Jahre zurück, fallen vor allem die Differenzen ins Auge. In der europäischen Finanzkrise trat die unterschiedliche Denkweise in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen offen zutage. Sie macht sich bis heute immer wieder bemerkbar. In der Energiepolitik sind die Unterschiede immer noch erheblich, auch wenn die Atomenergie in Frankreich einiges von ihrem Nimbus eingebüßt hat. Und in der aktuellen Auseinandersetzung über den Umgang mit der Massenflucht aus dem Vorderen Orient kann das wechselseitige Missvergnügen nur mühsam kaschiert werden.
Handlungsfahigkeit beinträchtigt
Auch wenn die Regierungen beider Länder an gemeinsamen Konzepten arbeiteten und sich am Ende immer wieder zu Kompromissen durchringen konnten, ist das deutsch-französische Tandem derzeit nicht in der Verfassung, die Herausforderungen in Europa beherzt anzupacken. Das schlägt auf die Handlungsfähigkeit der EU als Ganzes durch.
Möglicherweise liegen die Gründe für die Unwucht in den französisch-deutschen Beziehungen tiefer als in partikularen Meinungsverschiedenheiten zu bestimmten politischen Fragen. Das Gleichgewicht zwischen unsere beiden Ländern ist seit der deutschen Wiedervereinigung aus dem Lot geraten. Das gilt nicht nur für die unterschiedliche Wirtschaftskraft. Auch die politischen Gewichte haben sich verschoben. Während Frankreich beinahe gelähmt wirkt, ist Deutschland zur unfreiwilligen europäischen Zentralmacht geworden. Mit der Wiedervereinigung ging auch die Bonner, die rheinische Republik zu Ende. Der Fall der Mauer und die Osterweiterung der EU haben die Bundesrepublik in die Mitte Europas gerückt. Welche Auswirkungen diese Kräfteverschiebung für das Verhältnis zu Frankreich hat, ist m.E. noch nicht hinreichend ausgeleuchtet.
Ob die deutsch-französischen Beziehungen aufgrund der über Jahrzehnte gewachsenen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Verflechtungen robust genug sind, um die aktuellen Irritationen ohne größere Zerrüttung zu überwinden, oder ob wir es mit einer Entfremdung zu tun haben, die uns große Sorgen bereiten sollte, ist Thema unserer heutigen Fachtagung.
Dennoch tiefe Verbundenheit
Auf die Haben-Seite könnte man die außenpolitischen Gemeinsamkeiten buchen – erinnert sei an die konzertierte Aktion gegenüber dem iranischen Atomprogramm oder die gemeinsame Suche nach einer politischen Lösung der Russland-Ukraine-Krise. Auch die spontanen Solidaritätsbekundungen nach den Terroranschlägen in Paris waren ermutigend – sie verweisen auf eine Verbundenheit jenseits des politischen Auf und Ab.
Anlass des heutigen Fachgesprächs ist ein Sammelband, der die gegenseitige Wahrnehmung Deutschlands und Frankreichs in Zeiten der Krise diskutiert. Dabei wird deutlich, dass Konflikte auf beiden Seiten aufgebauscht wurden und wie sehr die öffentliche Debatte durch Stereotype geprägt ist. Eine bessere Kenntnis der wechselseitigen Situation und ein größeres Verständnis für die Handlungsweise des anderen wäre schon die halbe Miete für eine Wiederannäherung.
Die Heinrich-Böll-Stiftung gibt diesen Band gemeinsam mit der DGAP und dem IFRI (Institut Français des Relations Internationales) heraus. Unser Dank geht an die DGAP, namentlich Claire Demesmay, und das IFRI, namentlich Hans Stark, für die gute Kooperation. Nicht zuletzt möchte ich unserer Europareferentin Christine Puetz danken, die auf Seiten der Böll-Stiftung für den Band verantwortlich zeichnete und zugleich diese Tagung maßgeblich vorbereitet hat.
Dieser Text ist der Eröffnungsbeitrag von Ralf Fücks zum Fachgespräch "Zwischen Zwist und Kompromiss: Zum Stand der deutsch-französischen Zusammenarbeit", das am 11. April 2016 in Berlin stattgefunden hat.