Die EU darf nicht versuchen, die Flüchtlingskrise in die Türkei auszulagern. Alle EU-Mitglieder sollen sich beteiligen und eine angemessene Zahl von Flüchtlingen aufnehmen – bemessen an der Einwohnerzahl und der wirtschaftlichen Lage.
Im September 2015 reiste ich nach Budapest, um die Situation am Bahnhof Keleti zu begreifen. Acht Monate später bin ich an die ungarisch-serbische Grenze gereist, um mir ein Bild von der Lage der Flüchtlinge dort zu machen. In Nähe der „Transitzonen“ ist der hohe, mit NATO-Draht bekränzte Grenzzaun zurückversetzt, sodass zwischen dem ungarischen und dem serbischen Territorium ein schmaler Streifen Niemandsland liegt, in dem täglich neue Flüchtlingsgruppen stranden. Hier warten sie Tage, manchmal Wochen, bis man sie durch schwere stählerne Drehkreuze nach Ungarn lässt. Nur dank des Einsatzes von Nichtregierungsorganisationen werden sie sporadisch mit Essen und Trinken versorgt. Toiletten oder fließendes Wasser gibt es nicht. Die Menschen hausen in kleinen Zelten, aus Decken und Planen improvisierten Unterständen, die am Grenzzaun und sogar an den Eingängen in die EU befestigt sind. Die Lage der Menschen im Niemandsland an der ungarisch-serbischen Grenze spiegelt das Elend und das Chaos wider, das auch an vielen anderen Orten in Europa herrscht.
Niemandsland mit NATO-Draht
Hier zeigt sich, wie dringend wir eine europaweite Flüchtlingspolitik brauchen. In den vergangenen Jahren war man zu bequem oder hat einfach weggesehen. Die gegenwärtige Krise zeigt Versäumnisse auf, für die die Mitgliedstaaten der EU gemeinsam verantwortlich sind. Durch das sogenannte „Dublinsystem“ wurden die Probleme der Flucht auf die Ankunftsländer abgewälzt, denn es legte fest, dass jener Staat, in den Asylbewerber nachweislich zuerst eingereist sind, das Asylverfahren durchführen muss. Entsprechend waren Länder mit EU-Außengrenzen – und ganz besonders Italien und Griechenland – viele Jahre lang auf sich allein gestellt. Ein EU-weites Konzept für politisches Asyl wurde ebenso wenig verfolgt wie ein Übereinkommen zur Einwanderung. Selbst als die Konflikte im Süden des Mittelmeeres eskalierten, die Menschen von dort in die Flucht treiben, hofften die im Zentrum der EU gelegenen Staaten, darunter auch Deutschland, man könne das Problem weiter verdrängen.
Um angemessen auf die Herausforderung zu reagieren, brauchen die Europäer gemeinsame Ansätze. Anfang 2015 waren laut Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) 60 Millionen Menschen auf der Flucht, Tendenz steigend. Diese Zahl zeigt, Hilfe kann nicht von einzelnen Staaten allein geleistet werden. Zudem muss sehr viel mehr getan werden, um die Ursachen von Flucht zu bekämpfen, sei es, den Krieg in Syrien zu beenden, bei der Entwicklungszusammenarbeit, einer anderen EU-Landwirtschaftsstrategie oder beim internationalen Klimaschutz.
Flüchtlinge legal und sicher nach Europa bringen
Die unwürdige Situation an den EU-Außengrenzen ist zu einem guten Teil zu lösen, wenn man die Forderungen der Vereinten Nationen endlich ernst nimmt. Großzügige europäische Kontingente für die direkte Umsiedlung von Flüchtlingen aus den Lagern (beispielsweise rund um Syrien) sind hierfür ein entscheidender Schritt. Wir müssen mehr Flüchtlingen einen legalen und sicheren Zugang in die EU ermöglichen. Die direkte Aufnahme der am meisten gefährdeten Flüchtlinge schafft für diese und für die europäischen Gesellschaften mehr Verlässlichkeit. Die Vereinten Nationen fordern, dass die reichen Staaten in den nächsten zwei Jahren 500.000 Flüchtlinge allein aus Syrien direkt aufnehmen. Auf der letzten Syrienkonferenz erhielt das UNHCR aber nur Zusagen für weniger als 100.000 Menschen.
In Brüssel hat die Debatte über eine Reform des Dublinsystems begonnen, aber nur wenige Mitgliedstaaten scheinen bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Ich plädiere für ein solidarisches europäisches System mit Kontingenten, das heißt: alle Mitgliedsstaaten sollen eine angemessene Zahl von Flüchtlingen bei sich aufnehmen, um zu verhindern, dass sich diese Menschen auf wenige Mitgliedsstaaten konzentrieren. Die Kontingente sollten anhand von Faktoren wie der Einwohnerzahl und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bemessen werden. Man muss bei allen Staaten der EU dafür werben, dass sie sich hieran beteiligen, und man sollte dies auch durch Zuschüsse aus dem EU-Haushalt unterstützen. Einige Staaten, so die Wirklichkeit der EU, werden sich jedoch weigern. Ich halte es deswegen für sinnvoll, dass eine Gruppe von Mitgliedsstaaten in diese Sache entschlossen vorausgeht.
Der Flüchtling lebt nicht vom Brot allein
Durch die Blockade in der EU und die beschämend geringen Zusagen an das UNHCR ergibt sich die Frage, was wir für diejenigen tun können, die keinen Platz in den Kontingenten finden und die sich nicht auf die Flucht machen. Die Lage der Menschen in den Flüchtlingscamps muss deutlich verbessert werden und Europa muss dazu das Welternährungsprogram und Maßnahmen der UNO großzügig und zuverlässig finanzieren. Hierbei muss ein herkömmliches Verständnis von Hilfe und Versorgung ergänzt werden um Konzepte, die den betroffenen Menschen eine kurz- und mittelfristige Perspektive geben. Das UNHCR und Berichte aus der Türkei und dem Libanon zeigen, was sich ändern muss. Von vielen Flüchtlingen hören wir, dass es nicht allein die Frage des täglichen Brotes war, die sie dazu brachte, den gefährlichen Weg übers Mittelmeer oder den kräftezehrenden Weg über den Balkan zu wagen. Die Menschen leiden auch, weil es ihnen an Beschäftigung fehlt, ihre Kinder nicht zur Schule gehen können und sie keine Perspektive haben. Menschen auf der Flucht brauchen keine Lager, sie brauchen Städte auf Zeit, die ihnen mittelfristige Perspektiven liefern. Noch vor Kurzem klang das wie eine abseitige Idee, jetzt ist es bittere Notwendigkeit.
Damit der Wegfall der EU-Binnengrenzen und der freie Verkehr von Personen und Waren diese Krise überdauern, müssen auch die lange verdrängten Fragen zu den EU-Außengrenzen beantwortet werden. Ein EU-Grenzregime muss eine rechtsstaatliche Ordnung nach gemeinsamen Regeln schaffen und dabei die Menschenrechte von Flüchtenden und Asylbewerbern achten. Wie es nicht geht, sieht man in Ungarn und Griechenland, wo diese Normen nicht eingehalten werden.
Auch an den Grenzen der EU gilt Recht und Gesetz
Die Türkei ist immer mehr ins Zentrum der Flüchtlingskrise gerückt. Für viele Menschen auf der Flucht führt kein Weg um die Türkei herum. Deshalb kommt auch die EU an der Türkei nicht vorbei – so berechtigt die Kritik an Präsident Erdoğan ist. Allerdings wäre es gefährlich und unverantwortlich, sollte das Abkommen mit der Türkei zum Kernstück der europäischen Flüchtlingspolitik werden. Schon jetzt werden aus der Türkei immer wieder Verstöße gegen die Menschenrechte von Flüchtlingen gemeldet. Das Abkommen mit der Türkei entlässt die EU nicht aus der Pflicht, wenn es um Menschenrechte in der Türkei geht. Nachdem man die Verantwortung jahrelang auf Italien und Griechenland abgewälzt hat, geht es nicht an, das Problem nun in die Türkei auszulagern. Das Abkommen zwischen EU und Türkei darf kein Ersatz sein für großzügige Kontingente zur legalen Einreise, für mehr Hilfe vor Ort, für den entschlossenen Kampf gegen die Ursachen von Flucht oder für den solidarischen Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden in der EU. Auch wenn es wie eine Zumutung klingt, die EU muss gemeinsame Regeln für die Einwanderung schaffen und darf dieses Thema nicht weiter aufschieben.
Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Grenzerfahrung - Flüchtlingspolitik in Europa".