Die zurückhaltende Haltung Frankreichs geht nicht nur auf die wirtschaftlichen und politischen Probleme Frankreichs insbesondere seit der Terroranschläge zurück, sondern auch auf die fehlende Konsenskultur in Frankreich. Die sozialistische Regierung wird nicht mit einer Unterstützung für eine offenere Flüchtlingspolitik von Seiten der konservativen Opposition rechnen können.
Vom Tod von 1.200 Menschen im Mittelmeer in einem Monat im April 2015 bis hin zum EU-Türkei-Abkommen im März 2016: die EU ist mit großen Herausforderungen konfrontiert, die die europäische Idee im Kern erschüttert haben. Wo steht Frankreich in der Flüchtlingskrise? Es ist gar nicht so einfach zu erkennen, wo sich die französische Politik zwischen den beiden Polen, der Abschottungspolitik in Ungarn und der offenen Politik in Deutschland, positioniert.
30.000 Flüchtlinge und dann Schluss
Die sogenannte Flüchtlingskrise hat sich in Frankreich faktisch kaum bemerkbar gemacht. Etwa 70.600 Personen stellten 2015 einen Asylantrag. Dies ist nur eine Steigerung von 20% gegenüber 2014. Das bedeutet aber nicht, dass die Flüchtlingskrise keinen hohen Stellenwert in der Politik und den Medien gehabt hätte. Im Alltag aber ist sie für die meisten Menschen fern geblieben.
In Frankreich hat man wie in vielen anderen Ländern, die nicht von der Balkanroute betroffen waren, erst spät begriffen, dass die Situation von Griechenland bis hin nach Schweden außer Kontrolle geraten war. So lehnte die französische Regierung noch im Mai 2015 den Vorschlag der Europäischen Kommission ab, 40.000 Asylsuchende, die vor allem in Griechenland und Italien gestrandet waren, umzuverteilen. Damals war Frankreich der Ansicht, das Land habe bereits einen überproportionalen Anteil der Last auf sich genommen. Im Herbst dann unterstützte die Regierung schließlich gemeinsam mit Deutschland den Vorschlag insgesamt 160.000 Asylsuchende innerhalb der EU umzuverteilen. Diese Vereinbarung war geknüpft an die Einrichtung von „Hotspots“ (für die Abfertigung einreisender Flüchtlinge), eine seit lange bestehende Forderung Frankreichs.
Seitdem schien es, dass Frankreich außer verstärkten Grenzkontrollen zu keinem weiteren Beitrag mehr bereit wäre. Dies belegten verschiedene Stellungnahmen von Regierungsmitgliedern, auch die umstrittenen Worte des Premierministers in München. Diese Statements waren hauptsächlich auf die innenpolitische Debatte ausgerichtet. Sie liefen darauf hinaus, dass Frankreich zwar der Aufnahme von 30.000 Asylsuchenden im Rahmen der europäischen Vereinbarung zur Umverteilung zugestimmt hatte, doch darüber hinaus keine weiteren Menschen mehr aufnehmen würde.
Die ewig andauernde Asylkrise
Die zurückhaltende Haltung der französischen Regierung geht auch auf die fehlende Konsenskultur in Frankreich zurück. Die sozialistische Regierung wird nicht mit einer Unterstützung für eine offenere Flüchtlingspolitik von Seiten der konservativen Opposition rechnen können. Zudem scheint der Aufstieg der rechtsaußen einzuordnenden Front National jeglichen Versuch zu lähmen, eine friedliche politische Debatte über Themen wie Migration zu führen.
Im Gegensatz zum früheren Staatsoberhaupt Sarkozy hat François Hollande die Migration nie als großes politisches Thema aufgegriffen. Dabei ist gerade zum Thema Asyl seit 2012 mehr getan worden als in den fünf Jahren davor. Das französische Asylsystem war aufgrund von langwierigen Verfahren und fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten für Asylsuchende dem Zusammenbruch nahe. Im Jahre 2013 wurde ein Konsultationsprozess initiiert, an dem Stakeholder von Behörden, Kommunen, dem Parlament und NGOs beteiligt waren und der im Juli 2015 zur Verabschiedung eines Gesetzes führte. Zudem besteht ein Fahrplan zur Einrichtung von fast neuen 40.000 Plätzen für Asylsuchende bis 2017. Ironischerweise ist die Flüchtlingskrise für die Regierung nützlich. Eine Reform in Angriff zu nehmen, mit der das französische Asylsystem auf EU-Standard gehoben werden soll, während das übrige Europa mit einem noch nie dagewesenen Zustrom von Flüchtlingen konfrontiert ist, ist schon für sich genommen ein Kraftakt. Doch war es der Regierung zu heikel, um weitergehende Solidarität mit den europäischen Partnern zu werben – auch wenn viele französische Bürgerinnen und Bürger Empathie für das Schicksal der Flüchtlinge gezeigt hatten.
Calais: ein Symbol für das europäische Scheitern
Die Lage von Migrant/innen, die nach Großbritannien einreisen möchten und an der französischen Nordseeküste stranden, ist kein spezifisches Phänomen der aktuellen Flüchtlingskrise. Vielmehr gibt es dieses Problem seit Ende der 1990er Jahre. Calais ist eine Folge einer gescheiterten europäischen Asyl- und Migrationspolitik in Zeiten von Schengen und Dublin.
Zuallererst steht Frankreich in der Verantwortung. Die Behörden haben lange ignoriert, dass Flüchtlinge ein legitimes Recht auf Schutz haben und sie als irreguläre Migrant/innen behandelt, die nicht einmal in Frankreich bleiben wollten. Als den Behörden klar wurde, dass dass das europäische Dublinsystem die Möglichkeit bietet, die in Calais gestrandeten Flüchtlinge wieder loszuwerden, nutzten sie die Tatsache, dass das Asylverfahren in dem EU-Land eröffnet werden muss, in dem Asylsuchende als erstes eingereist sind. Die überwiegende Mehrheit der Migrant/innen in Calais reisten in die EU durch ein anderes Land ein, wo sie keine angemessenen Bedingungen vorfanden, um sich dort niederzulassen. Calais ist damit auch ein Symbol für das Scheitern eines gleichen Zugang zu Schutz in allen Mitgliedstaaten. Schließlich ist Calais der lebende Beweis für die fürchterlichen Auswirkungen der Schengen-Außengrenzen.
Kurz gesagt: Calais ist ein Beispiel dafür, wie die europäische Gesellschaft auf die Migration reagiert: Aktivist/innen, Freiwillige, NGOs und humanitäre Organisationen spielen alle eine Rolle, neben der Bevölkerung vor Ort, deren Toleranz langsam zu Ende geht. Schließlich sagt uns Calais viel über das Leben von Migrant/innen in Europa: sie werden in Slums alleine gelassen, unter unmenschlichen Bedingungen, und niemand bietet ihnen eine Lösung an.
Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Grenzerfahrung - Flüchtlingspolitik in Europa".