Zum UNHCR-Weltbericht: Europas mangelnde Gestaltungskraft

Stacheldraht an der ungarischen Grenze
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Aus den Augen, aus dem Sinn: Ungarischer Grenzzaun zu Serbien

Die neuen Zahlen des UNHCR zeigen die globale Dimension der Flüchtlingskrise auf. Doch Europa übernimmt zu wenig Verantwortung.

Gemessen an der Weltbevölkerung war im Jahr 2015 jeder 113. Mensch entweder asylsuchend, binnenvertrieben oder ein Flüchtling - insgesamt 65,3 Millionen Personen. Es ist ein noch nie dagewesener Höchststand, der er aus dem am 20. Juni veröffentlichten Bericht des UN-Flüchtlingskommissariats abzulesen ist. 2014 waren es noch 59,5 Millionen Menschen. Die weit überwiegende Mehrzahl - 40,8 Millionen - befinden sich als Binnenflüchtlinge im eigenen Land auf der Flucht, 21,3 Millionen Flüchtlinge suchten Schutz außerhalb ihres Landes.

2015 erreichte auch die Zahl der gestellten Asylanträge einen neuen Rekord: Insgesamt wurden zwei Millionen Anträge registriert. Hinzu kommen 3,2 Millionen anhängige Verfahren bis Ende des Jahres 2015. Dabei wurden in Deutschland mit 441.900 Anträgen mehr Asylanträge gestellt als in jedem anderen Land.

Seit Mitte der 1990er Jahre nahmen Flucht und Vertreibung in den meisten Regionen weltweit stetig zu. In den letzten fünf Jahren stiegen die Zahlen jedoch dramatisch an. Während im Jahr 2005 durchschnittlich sechs Menschen pro Minute vertrieben wurden, sind es heute 24 Menschen pro Minute. Die Hälfte aller Flüchtlinge stammen aus nur drei Ländern: 4,9 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, 2,7 Millionen aus Afghanistan sowie 1,1 Millionen aus Somalia. Kolumbien hat mit 6,9 Millionen die höchste Zahl von Binnenvertriebenen; Syrien folgt mit 6,6 Millionen, Irak mit 4,4 Millionen Binnenvertriebenen. Die meisten neuen Fluchtbewegungen innerhalb eines Landes gab es 2015 im Jemen – 2,5 Millionen Menschen sind dort Binnenvertriebene.

Der Deal mit der Türkei

Der Bericht zeigt in trockenen, aber frappierend deutlichen Zahlen auf, was in Europa –bewusst oder unbewusst- gern übersehen wird: Die globale Dimension der zumeist durch Krieg oder Konflikt verursachten Flucht zeugt von einer enormen Aufnahmebereitschaft gerade der ärmeren Länder. Insgesamt haben im vergangenen Jahr 86 Prozent der Flüchtlinge, in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen Schutz gesucht. Die Türkei ist mit (schon im zweiten Jahr) 2,5 Millionen Flüchtlingen das größte Aufnahmeland.

Mit 183 Flüchtlingen auf 1.000 Einwohner hat der Libanon im Verhältnis zu seiner Bevölkerung mehr Menschen aufgenommen als jedes andere Land. In Relation zu seiner Wirtschaftskraft war dagegen die Demokratische Republik Kongo das Land mit den meisten Aufgenommenen. UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi kommentierte den im Bericht erfassten Trend:

„Auf dem Meer verlieren erschreckend viele Menschen ihr Leben, der Landweg ist durch geschlossene Grenzen zunehmend blockiert und in manchen Ländern wird gegen Asyl politisch Stimmung gemacht. Die Bereitschaft von Staaten, nicht nur für Flüchtlinge, sondern im gemeinsamen Interesse der Menschlichkeit zusammenzuarbeiten, wird momentan herausgefordert. Dabei ist es genau dieser einende Geist, der so dringend gebraucht wird.“

Genau an diesem gemeinsamen Interesse der Menschlichkeit aber fehlt es in Europa ganz entschieden – hier markierte das Jahr 2015 den absoluten Wende- bzw. Tiefpunkt: Denn gemeinsam geht in der EU in der Flüchtlingspolitik kaum noch was. So verlaufen die Grenzen europäischer Menschlichkeit folglich um Europa herum. Der Deal mit der Türkei - so offensichtlich brüchig er von Anfang an war - soll als Modell für weitere Externalisierung dienen. Nun wird mit jedem und allen Nachbarn ums Mittelmer verhandelt - um Grenzsicherung, Rückübernahme und „Unterbringung“.

Europas Gestaltungskraft

„Flüchtlingszahlen senken und EU Außengrenzen sichern“ mutiert zum Primat der Außenpolitik sogar gegenüber den Machthabern in Kairo, Asmara oder Khartoum - dieses explizite Ziel jedenfalls hatte der 2015 eilends einberufende EU-Afrika Gipfel in La Valetta formuliert und zugleich für entsprechende Anreize auch einen Sonderfond eingerichtet.

Dieser ablehnende Konsens ist offenkundig europaweit zur Staatsräson erhoben worden, ausgerechnet in der nach jeglichen humanitären oder menschenrechtlichen Grundsätzen entscheidenden Frage, ob Europa Menschen, die Schutz suchen, Aufnahme gewährt. Mit einem hektisch reaktiven und politisch so kurzsichtigen „Aus den Augen, aus dem Sinn“ stellen sich Europas politische Eliten gegen die weltweite Misere – entweder aus vorauseilender Furcht vor wachsendem Populismus, oder bereits fest im Griff dieses rasant wachsenden Phänomens. Armes Europa! So wenig Verantwortung in der Welt, so wenig Gestaltungskraft.

Eine souveräne Gestaltungskraft würde in erster Linie sichere Einreise für Kriegsflüchtlinge in einem den europäischen Staaten (und ihrer Wirtschaftskraft) angemessenen Maß schaffen, aber auch Staaten unterstützen, die die Hauptlast der globalen Flüchtlingskrise tragen. Eine solche Politik würde zugleich den für die Flüchtlinge Sorge tragenden UN-Institutionen die nötige Finanzierung gewährleisten. Es wäre eine Gestaltungskraft, die die EU-Außenpolitik wegführt von der Abriegelung und Externalisierung um jeden Preis und zu verantwortlichen weltpolitischem Handeln erweitert - an den Krisen- und Konfliktherden in Europas Nachbarschaft und darüber hinaus.