Warum die alte neue Abriegelungspolitik nicht taugt

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Wer darf weiter? Aufnahme aus der mazedonischen Grenzstadt Gevgelija

„Flüchtlingszahlen senken, EU-Außengrenzen sichern!“ Das ist die Antwort von immer mehr europäischen Staaten auf die anhaltende Flüchtlingskrise. Doch die Zauberformel greift zu kurz - helfen würde ein Blick über den eigenen Tellerrand.

Das neue Jahr hat kaum begonnen, da hat der Ton in der europäischen Flüchtlingspolitik bereits eine neue Eskalationsstufe erreicht: Flüchtlinge sind nicht mehr Schutzsuchende, Migrant/innen, nicht mehr Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben. Nein, Europa sei von „Invasoren“ bedroht. Schon in seiner Weihnachtsansprache sagte der tschechische Präsident Miloš Zeman, „dass das, womit wir es hier zu tun haben, keine spontane Fluchtbewegung ist, sondern eine organisierte Invasion." Die Nachrichten aus Deutschland von den Sylvester-Ausschreitungen am Kölner Hauptbahnhof und anderswo kamen da gerade recht: Öl auf die Mühlen von Tschechien, Ungarn, Polen und der Slowakei, die die Verteilung der Flüchtlinge nach einem verpflichtenden Quotenplan ablehnen.

Die Staaten wollen stattdessen die Gruppe „Freunde von Schengen“ gründen und sich entschieden dafür einsetzen, die Außengrenzen des Schengen-Raums "wirksam zu schützen". Was auch immer das genau heißt, ist gar nicht klar. Klar ist: Mit National-Chauvinismus und Fremdenfeindlichkeit - insbesondere der Islamophobie - lässt sich leicht mobilisieren, das ist den ost-europäischen Führern nicht einzigartig. Auch in Westeuropa gewinnt der Rechtspopulismus an Zuspruch. In Deutschland werden der AFD mehrstellige Wahlergebnisse vorausgesagt.

Kanzlerin Angela Merkel, die im vergangenen Jahr entgegen solcher Tendenzen eine wahrhaft europäische Politik durchgesetzt hat, wurde zunächst von den nationalstaatlichen Reaktionen der anderen europäischen Staatenführer an die Wand gefahren. Nun gerät sie im Inneren in Bedrängnis – vor allem aus den Reihen der eigenen Partei: Die „Obergrenze“ wird sprachfähiger, bei Horst Seehofer ist sie schon bezifferbar. Die SPD fällt vom eigenen Kurs in der Flüchtlingspolitik ab und stellt sich als Opfer dar, das die Suppe auslöffeln muss. Schweden und Dänemark mutieren derweil fast zu westeuropäischen „Helden der nationalen Grenzsicherung“.

Aus Herausforderungen sind Bedrohungsszenarien geworden. Und diese hatten sich schon verschoben: Laut „Eurobarometer“ sahen die meisten Befragten europäischer Mitgliedsstaaten im Frühjahr 2013 die größte Herausforderung für die EU noch in der ökonomischen Situation. Anfang 2015 war diese deutlich in den Hintergrund geraten. An ihre Stelle rückte die „Einwanderung“.

Ein Blick über die Außengrenzen hinaus

“Flüchtlingszahlen senken, EU Außengrenzen sichern!“, lautet die Zauberformel. Doch Grenzen als Antwort auf Herausforderungen sind nun weder ein neues, noch ein besonders wirksames politisches Konzept. Denn gerade die alte Abriegelungspolitik Europas, gepaart mit einem Dublin-System, das den Erstaufnahmeländern in der EU die Hauptlast zuwies, ist 2014 gescheitert: Die massiv ansteigenden Zahlen von Flüchtlingen und Migrant/innen, die das Mittelmeer in den letzten zwei Jahren überquerten, sollten uns Besseres lehren.

Um eine angemessene Antwort auf die anhaltenden Migrationsbewegungen zu finden, müssten wir bereit sein, über den „eigenen Tellerrand“ - über die Außengrenzen Europas hinaus - zu schauen.

Zunächst gilt, dass das, was Europa als Krise empfindet, tatsächlich eine globale Krise ist: Der UNHCR belegt einen Anstieg der globalen Flüchtlingszahlen, der ausnahmslos ist. Der Krieg in Syrien, aber auch die neu oder wieder entflammten Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent wie die sich weiter verschärfenden Situationen in Afghanistan und im Irak trugen und tragen dazu bei. In Syrien zählt man allein sieben Millionen Flüchtlinge im eigenen Land. Über vier Millionen Menschen sind in den Nachbarländern untergekommen.

Kurz hinter den Außengrenzen Europas beherbergt der Nahe und Mittleren Osten die Hälfte der 20 Millionen Flüchtlinge weltweit. Das belastet Staaten wie den Libanon, Jordanien oder die Türkei nicht nur ökonomisch, es bringt sie an den Rand politischer Stabilität. Auch Tunesien spricht davon. So haben nach Jahren der Aufnahmebereitschaft im Jahr 2014 Verschärfungen den Zuzug weiterer Flüchtlinge nach Jordanien und Libanon fast unmöglich gemacht. Die Versorgungslage in diesen Ländern ist prekär: Der UNHCR berechnete allein für die im Libanon versorgten syrischen Flüchtlinge ein Budget von fast zwei Milliarden US-Dollar. Bis Ende September wurde davon nur ein Drittel aufgebracht.

Die Türkei spricht davon, neun Milliarden Euro seit Beginn des Syrien-Krieges für Flüchtlinge ausgegeben zu haben. Auch hier reicht das Geld vorn und hinten nicht, die Lebensmittelversorgung wurde knapp. Die meisten Flüchtlinge schlagen sich in den städtischen Gebieten des Landes durch und zehren das Ersparte auf, bis sie den Rest den Schleppern in den Rachen werfen, damit diese sie auf die griechischen Inseln bringen.

Die neuen Fluchtrouten

Die Routen haben sich verschoben. Die Landwege sind fast versperrt. Suchten im Jahr 2014 noch 170.669 Menschen den Weg von Libyen aus über das zentrale Mittelmeer, zumeist nach Italien, versuchten 34.442  ihr Glück über die Ägäis. Im Jahr 2015 kamen 142.667 Menschen über das zentrale Mittelmeer, aber schon 378.276 über die Ägäis. Unzählige verloren bei den gefährlichen Überfahrten ihr Leben. Europa nahm das in Kauf.

Mit EU-Treuhandfonds in Milliarden-Höhe und Aktionsplänen versuchte die EU im Spätherbst des vergangenen Jahres dann zunächst die afrikanischen Staaten einzubinden in die Abriegelungspolitik, angesichts der Routenverlagerung dann auch vorrangig die Türkei. Beides funktioniert nicht wie gewünscht. Libyen als zerfallender Staat ist und bleibt Ausgangspunkt für die Überfahrt nach Europa. Die Wintermonate lassen dies vielleicht kurzzeitig außer Acht geraten, aber ab April wird Seenotrettung auf der zentralen Mittelmeerroute wieder akut.

Frontex aufzurüsten wird da wenig nützen. Selbst eine militärische Intervention in Libyen, wie Frankreich und Italien sie herbeizureden suchen, wird die Situation nicht so schnell stabilisieren. Zumal eine solche vorrangig gegen den IS gerichtet sein dürfte.

Die nächsten Monate werden entscheidend sein: Entweder einigen sich die EU-Außenminister auf ein wirksames Vorgehen, oder die Lage kippt und die EU steht am Ende völlig entzweit da. Entweder helfen wir Europäer dabei, die Brände in den Nachbarschaften zu löschen und nehmen Dampf vom Kessel, gerade in den Ländern, in denen man wirklich von Flüchtlingskrisen sprechen sollte. Oder wir sehen uns weiteren instabilen Situationen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft gegenüber.

Vernünftig erscheint die Sicherung der Außengrenzen nur verbunden mit einer gezielten und europäisch abgestimmte humanitären Hilfe in den Erstaufnahmeländern, begleitet durch die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa im Rahmen von Übernahmeprogrammen (resettlement). Damit würden sichere Wege für Schutzsuchende eröffnet und einer Destabilisierung und etwaigen weiteren Fluchtbewegungen vor Ort entgegengewirkt. Wieviel wir schaffen bleibt auszuhandeln.